Titel: Ueber das hydraulische Locomotivsystem des Hrn. F. A. Taurinus.
Fundstelle: Band 70, Jahrgang 1838, Nr. XIV., S. 81
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XIV. Ueber das hydraulische Locomotivsystem des Hrn. F. A. Taurinus. Ueber Taurinus's hydraulisches Locomotivsystem. Der Hauptvortheil der Eisenbahnen, den man anfaͤnglich auch allein von ihnen erwartete, besteht bekanntlich in einer großen Oekonomie der Kraft: denn durch die glatte und feste Unterlage der eisernen Schienen wird her bedeutendste Widerstand, der bei Fuhrwerken auf gewoͤhnlichem Wege am Umfange der Raͤder Statt findet, beinahe voͤllig aufgehoben, so daß nur noch der weit geringere Widerstand der Achsenreibung zu uͤberwinden uͤbrig bleibt. – Dieselbe Kraft, die auf der gewoͤhnlichen Landstraße und mit gewoͤhnlichem Fuhrwerke eine zehn Mal groͤßere Last fortbringt, als mittelst der Schleife, die man als die einfachste Art der fortschaffenden Mechanik betrachten kann – nach Umstaͤnden ist jedoch die Schleife, wie die Schlitten beweisen, auch vortheilhafter – leistet auf der Eisenbahn abermals zehn Mal mehr, so daß die Eisenbahn in der stufenweisen Vervollkommnung der Communicationsmittel in der That als das hoͤhere Glied einer geometrischen Reihe erscheint. Die Anlage einer Eisenbahn rechtfertigt sich hienach selbst da, wo die großen Kosten derselben keine Herabsezung der Frachtpreise gestatten, weil die Belegung eines zinsentragenden Capitals schon an sich als ein Nationalgewinn zu betrachten ist. Indeß haben die Eisenbahnen doch erst von dem Augenblik an allgemeineren Eingang gefunden, wo die Dampffoͤrderung vortheilhaft damit verbunden werden konnte. Die außerordentliche Schnelligkeit, welche dadurch moͤglich wurde, ist zwar fuͤr den Waarentransport nur ein unwesentlicher Gewinn, desto wichtiger aber fuͤr den Personenverkehr, und erscheint, nachdem einmal ein so schnelles Communicationsmittel hergestellt ist, fuͤr jeden wohleingerichteten Staat als ein unabweisliches Beduͤrfniß. Es ist aber auch nicht zu laͤugnen, daß durch den Dampfbetrieb und die Anforderung einer groͤßeren Geschwindigkeit die Anlage einer Eisenbahn, bei welcher nun Kruͤmmungen und Rampen sorgfaͤltiger vermieden werden muͤssen, viel schwieriger und kostbarer geworden ist, wenn es nicht durch neuere Erfindungen, wie es den Anschein hat, gelingt, die in dieser Ruͤksicht noch bestehenden Hindernisse in Kurzem zu uͤberwinden. Nach den außerordentlichen Leistungen der Dampffoͤrderung laͤßt es sich nun auch beurtheilen, welche Anforderungen an irgend ein anderes Bewegungssystem gemacht werden muͤssen, das mit der Dampflocomotion in einige Concurrenz soll treten koͤnnen. Man wird von demselben die naͤmliche Regelmaͤßigkeit, Schnelligkeit, Sicherheit der Bewegung, dieselben oͤkonomischen Vortheile verlangen. Keines der bisher vorgeschlagenen Bewegungssysteme, worunter einige offenbar paradox erscheinen, kann mit der Dampffoͤrderung einen Vergleich aushalten. Der Wind ist eine zu unzuverlaͤssige, die comprimirte Luft eine zu gefaͤhrliche Kraft: uͤber die Anwendbarkeit der elektromagnetischen Kraft muͤssen erst weitere Versuche entscheiden. Die Verwendung des Wassers hat man nur fuͤr besondere Faͤlle vorgeschlagen, wo die im Ueberflusse vorhandene bewegende Kraft von selbst dazu aufzufordern schien, sie fuͤr den Zwek der Eisenbahnen nicht unbenuzt zu lassen: die Idee dazu wurde aber nur in unvollkommener Art aufgefaßt. Erst Hr. F. A. Taurinus hat es neuerlich versucht, ein System einer hydraulischen Lastenfoͤrderung auf Eisenbahnen von einiger Allgemeinheit aufzustellen, das wenigstens in der bisher uͤblichen Geschwindigkeit mit den Dampfwagen wetteifern und außerdem die bedeutendsten oͤkonomischen Vortheile gewaͤhren soll: eine vorlaͤufige Notiz davon wird daher fuͤr die Leser des polytechnischen Journals nicht ohne Interesse seyn. Man denke sich laͤngs der ganzen Eisenbahn einen Canal hergefuͤhrt, dessen Wasserstand moͤglichst in einer bestaͤndigen Hoͤhe, z.B. von 5 Fuß, uͤber dem Boden der Bahn erhalten wird. Jeder Kubikfuß Wasser (66 Pfd. nach preuß. Maaß und Gewicht), der von dieser Hoͤhe von 5' herabfaͤllt, stellt ein mechanisches Moment von 330 Pfd. oder 3 Cntrn. durch einen Fuß dar, und ist im Stande, auf der geraden und ebenen Eisenbahn, wo nach den neueren Erfahrungen der Widerstand nur 1/280 oder gar 1/320 (8 oder 7 Pfd. auf die Tonne) betraͤgt, eine Last von mehr als 800 Cntr. durch 1', oder 1 Cntr. durch 800' zu bewegen. Um also 1 Cntr. Bruttolast durch eine preuß. Meile zu bewegen, reichen 30 Kubikfuß Wasser bei obiger Fallhoͤhe hin. Kann man daher einem solchen Canale auf die Laͤnge einer Meile einen Wasserzufluß von 10 Kubikfuß per Secunde, oder 864,000 in 24 Stunden verschaffen, und rechnet man auch 2/3 fuͤr Verlust und todte Last, so bleiben doch 10,000 Cntr. reine Last uͤbrig, die taͤglich auf der Bahn hin und her gefoͤrdert werden koͤnnen, oder 3 Millionen Cntr. in den 300 Tagen des Jahres, an welchen die hydraulische Foͤrderung Statt finden kann. Es folgt hieraus, daß der Kraftaufwand fuͤr eine Eisenbahn von gewoͤhnlicher Frequenz nicht bedeutend ist; um jedoch das System in groͤßerer Ausdehnung anwendbar zu machen, muß noch ein anderer guͤnstiger Umstand zu Huͤlfe genommen werden. Gesezt naͤmlich, die Bahn habe ein stetiges Gefaͤlle nach der einen Richtung, so gebe man ihr auf eine gewisse Streke, z.B. eine Meile, nur einen solchen Abhang, daß das Wasser im Canale sich mit der noͤthigen geringen Geschwindigkeit, z.B. von 1', nach dieser Seite bewegt: hiezu ist mit Ruͤksicht darauf, daß die Geschwindigkeit des Wassers wegen seines allmaͤhlichen Verbrauches gegen das Ende der Streke mehr und mehr abnehmen muß, bei einem Canale von 4' Breite und 2' Tiefe ein Gefaͤlle von kaum 1' per Meile noͤthig: das uͤbrige Gefaͤlle kann also vortheilhaft dazu benuzt werden, der Bahn auf eine kurze Streke einen staͤrkeren Abfall zu geben, der durch die ansteigenden Wagen allenfalls durch das erhaltene Bewegungsmoment und mit nur geringem Verluste von Geschwindigkeit und Zeit erstiegen wird: es laͤßt sich daher das schon verwendete Wasser, das auf der Bahn selbst fortgeleitet wurde, zum zweiten Mal und so oft wiederholt benuzen, als man die Bahn von Neuem um etwa 5 bis 6' fallen lassen kann. Durch jeden Fall um 5' wirksame Drukhoͤhe wird die bewegende Kraft des Wassers erneuert, so daß ein starker Abhang der Bahn eigentlich der guͤnstigste Fall fuͤr die Benuzung der bewegenden Kraft ist: auch dient eine sehr einfache Einrichtung dazu, den Abhang der Bahn auch auf laͤngeren und steileren Streken zu ersteigen, wo das bloße Bewegungsmoment nicht hinreichen wuͤrde. Diese Einrichtung, das Wasser wiederholt zu benuzen, hat den doppelten Vortheil, daß man nur an dem hoͤchsten Punkte der Bahn einen Wasserzufluß noͤthig hat, und daß der Canal nur eine geringe Dimension zu haben braucht. Die Anlage eines solchen Canals fordert allerdings einen bedeutenden Aufwand, der jedoch geringer erscheint durch die Betrachtung, daß dieß auch fast der einzige ist, den das hydraulische Foͤrderungssystem verursacht. Dazu kommt, daß dieser Aufwand wieder mehr als aufgewogen wird durch die Vortheile, die sich durch die Construction der Eisenbahn selbst erreichen lassen: denn anstatt das Princip der Trokenlegung zu befolgen, welches bei den gewoͤhnlichen Bahnen die Holzunterlagen doch nicht gegen eine schnelle Zerstoͤrung schuͤzen kann, wird man vielmehr die Bahn selbst stets unter Wasser halten und dadurch den Pfaͤhlen oder hoͤlzernen Querschwellen eine große Dauer geben. Fuͤr eine Doppelbahn ist ferner nur ein einfacher Canal noͤthig, der also den Zwischenraum zwischen den beiden Bahngeleisen einnimmt. Man kann den Canal, da Holzconstructionen weder wohlfeil noch dauerhaft sind, aus Ziegelsteinen erbauen, allein es ist auch eine Construction bloß aus Eisen anwendbar, bei welcher das Material so oͤkonomisch verwendet werden kann, daß nur 10 Pfd. Eisen auf den laufenden Fuß erfordert werden. Der Canal soll naͤmlich auf hohlen Saͤulen von Gußeisen ruhen, die sich außerdem von dem schwaͤchsten Tragpunkte aus, der Mitte naͤmlich, nach beiden Enden verjuͤngen; der feste Stand derselben soll durch gespannte Drahtseile Erreicht werden. Von diesen Saͤulen wird zunaͤchst ein Nez von Draht getragen, so daß die Canalwand selbst nur aus duͤnnem Eisen- oder Zinkblech zu bestehen braucht, dessen Staͤrke jedenfalls hinreichend ist. Was nun den Mechanismus betrifft, durch welchen die bewegende Kraft zur Wirksamkeit gebracht werden soll, so erfordert die richtige Beurtheilung desselben bei seiner großen Einfachheit doch eine bedeutende Einsicht in die Geseze der Hydrodynamik, so daß die gruͤndliche Darstellung desselben wenigstens fuͤr die reine Theorie ein interessanter Gegenstand ist. Man denke sich indessen, um hier einen vorlaͤufigen Begriff zu geben, eine Roͤhre aus zwei Schenkeln von ungleicher Laͤnge zusammengesezt, von welchen jeder einen Bogen von 180° beschreibt und wovon der kuͤrzere mit seiner Muͤndung oben in den Canal eintaucht, waͤhrend der laͤngere in den Bodencanal der Bahn ausmuͤndet. Indem der Wagen und mit ihm die an demselben befestigte Roͤhre nach der einen Richtung mit einer gewissen Geschwindigkeit fortgeht, wird das Wasser von dem kuͤrzeren Schenkel aufgenommen, und, da die Roͤhre zugleich einen Heber vorstellt, in die Hoͤhe und in den laͤngeren Schenkel hinuͤber geleitet, wo es in entgegengesezter Richtung mit der Bewegung seinen Ausfluß findet. Die Wirkung, die hiedurch entsteht, gruͤndet sich nach der verschiedenen Einrichtung der Roͤhre, bald unmittelbar auf den Druk der Luft, bald auf die Schwungkraft und Reaction des Wassers, in allen Faͤllen aber laͤßt sie sich bei gehoͤriger Einrichtung, und abgesehen von dem Bewegungswiderstande, sehr einfach aus folgender Betrachtung schließen. Es sey H die Geschwindigkeitshoͤhe fuͤr die Bewegung des Wagens, h' fuͤr die des Wassers, h die Drukhoͤhe vom Wasserspiegel bis auf den Boden der Bahn, so weit sie als wirksam in Betracht kommen kann. Die Geschwindigkeit, mit welcher das Wasser in die Roͤhre gelangt, ist = 2 √g (√H ∓ √h'), die Ausflußgeschwindigkeit ist aber Textabbildung Bd. 70, S. 84 und da die Bewegung des Wagens in entgegengesezter Richtung nur = 2 √gH ist, so bleibt der ausfließenden Wassermenge m noch die lebendige Kraft. Textabbildung Bd. 70, S. 84 uͤbrig, welche von der ganzen bewegenden Kraft m (h + h') abgezogen, die mechanische Wirkung gibt Textabbildung Bd. 70, S. 85 Es folgt aus dieser Formel: 1) Wenn das Wasser des Canals in Ruhe, oder h¹ = 0 ist, so verwandelt sich dieser Ausdruk fuͤr die mechanische Wirkung (die s. g. absolute Arbeit des Wassers) in den einfacheren = 2 m [√(H² + Hh) – H] welchen man beibehalten kann, wenn h¹ sehr klein ist. 2) die Geschwindigkeit des Wagens haͤngt gar nicht von der Drukhoͤhe h ab, sondern es kann H > h seyn. 3) Wenn die Groͤße der oberen Muͤndung α ist, so ist m = α . 2 √gH; da aber die Bewegung des Wagens 2 √gH ist, so ist der Ausdruk fuͤr die Kraft = 2 α [√(H² + Hh) – H]. 4) Die Wirkung waͤchst mit der Geschwindigkeit, indem die uͤbrigbleibende lebendige Kraft des Wassers dadurch vermindert wird. 5) Dieser Theorie nach wuͤrde jede Geschwindigkeit moͤglich seyn, allein begreiflich leidet dieß wegen des Widerstandes der Bewegung des Wassers durch die Roͤhre, und der Roͤhre durch das Wasser eine große Einschraͤnkung. Der Roͤhren-Widerstand ist bei großen Geschwindigkeiten so bedeutend, daß eine Concurrenz mit der Dampflocomotion hinsichtlich der Geschwindigkeit gar nicht moͤglich waͤre, gaͤbe es nicht ein einfaches Mittel, diesen Widerstand betraͤchtlich zu vermindern, so daß es immer noch moͤglich erscheint, die bisher uͤbliche Geschwindigkeit auf Eisenbahnen von 4 bis 6 Meilen in der Stunde zu erreichen. Eine noch schnellere Bewegung hat große Schwierigkeiten, da sich die Widerstaͤnde wie die Quadrate der Geschwindigkeiten verhalten und das Wasser ungefaͤhr im Maaße seiner viel Mal groͤßeren Schwere groͤßere Hindernisse der Bewegung findet, als der Dampf. Die Hauptvortheile eines solchen hydraulischen Locomotivsystemes wuͤrden folgende seyn: 1) Voͤllige Gefahrlosigkeit. Die Gefahr bei der Dampflocomotion, soweit sie nicht die Folge der außerordentlichen Schnelligkeit der Bewegung, sondern der Anwendung des Dampfes ist, ist zwar nach den bisherigen Erfahrungen gering; allein man darf doch eben so wenig aus der Seltenheit der Ungluͤksfaͤlle jede Besorgniß wegdemonstriren wollen, als es gelingen wuͤrde, aͤngstlichen Personen alle Gewitterfurcht durch bloße Wahrscheinlichkeitsrechnung auszureden. Der Dampf bleibt immer eine gefaͤhrliche Kraft, und schon der Gedanke, daß eine ununterbrochene sorgfaͤltige Aufsicht erfordert wird, um nicht gefaͤhrdet zu seyn, hat fuͤr viele etwas Beunruhigendes. Der im Ganzen unbedeutend scheinende Vortheil, daß alle Gefahr, soweit sie in der Natur der bewegenden Kraft selbst liegt, wegfaͤllt, ist also in psychologischer Ruͤksicht gewiß kein gleichguͤltiger Umstand. Das Wegfallen aller Feuersgefahr erlaubt auch, die Eisenbahnen mitten in die Staͤdte hineinzufuͤhren. 2) Hoͤchste Einfachheit des Mechanismus. Diese ist so groß, daß die Aufsicht eines Wagenfuͤhrers eigentlich ganz uͤberfluͤssig ist und die Wagen sich selbst uͤberlassen werden koͤnnen. Alle die unendlichen Reparaturen, die bei Dampfmaschinen unvermeidlich sind, fallen hier gaͤnzlich weg; der eigentliche Mechanismus erfordert soviel wie gar keinen Aufwand. 3) Außerordentliche Frequenz der Fahrten. Denn da keine eigentlichen Locomotiven angewandt werden, sondern jeder Wagen unabhaͤngig befoͤrdert werden kann, so wird es dadurch moͤglich, eine fast ununterbrochene Communication herzustellen, ohne daß dadurch groͤßere Kosten veranlaßt werden; zugleich verwandelt sich dadurch das Karawanenartige der Dampffoͤrderung in einen viel freieren und lebhafteren Verkehr. Unter allen Communicationsmitteln duͤrfte daher dieses am meisten geeignet seyn, zwischen zwei nahgelegenen Punkten die regste Verbindung zu unterhalten. 4) Bedeutende Ersparniß. Als solche kann man die saͤmmtlichen Dampffoͤrderungskosten betrachten, die bei einer Bahn von gewoͤhnlicher Frequenz etwa 5 Procent des Anlagecapitals ausmachen; diese Annahme rechtfertigt sich noch mehr, wenn man die viel haͤufigere Reisegelegenheit beruͤksichtigt, welche nach allen Erfahrungen auch eine haͤufigere Benuzung zur Folge hat. Wollte man die groͤßere Frequenz der taͤglichen Fahrten in Vergleich bringen, so wuͤrde die hydraulische Foͤrderung nicht den zehnten Theil so hoch zu stehen kommen, als die durch Dampf. Bei diesen Vortheilen ist nur der unguͤnstige Umstand, daß bei strenger Kaͤlte auf dieses Foͤrderungsmittel verzichtet werden muß; im Winter also, wo jedoch Reisen und Transporte fast uͤberall ungleich seltener und geringer sind, als in den waͤrmeren Monaten, kann fuͤr unser Klima die Aushuͤlfe der Dampfmaschinen nicht entbehrt werden.