Titel: Ueber die Ausdünstungen der chemischen Fabriken; von Hr. Braconnot und F. Simonin.
Fundstelle: Band 108, Jahrgang 1848, Nr. LVII., S. 264
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LVII. Ueber die Ausdünstungen der chemischen Fabriken; von Hr. Braconnot und F. Simonin. Aus dem Journal de Chimie médicale, Mai 1848, S. 280. Braconnot und Simonin, über die Ausdünstungen der chemischen Fabriken. Wir wurden amtlich aufgefordert ein sanitäts-polizeiliches Gutachten über die Errichtung einer Fabrik von Schwefelsäure, Salzsäure und Soda zu Saleaux (Bezirk Vic) zu geben; nachdem wir den betreffenden Ort besucht hatten und daselbst den einstimmigen Widerspruch aller Grundbesitzer und Pächter der Gemeinden in der Nähe erfuhren, befragten wir dieselben über die Nachtheile der chemischen Fabrik zu Dieuze, weil sie auf dieselben ihre Klagen gegen Errichtung einer ähnlichen Fabrik in ihrer Nähe stützten. Die Antworten waren widersprechend oder übertrieben und wir wurden daher im October 1845 auf unseren Antrag bevollmächtigt, zu Dieuze selbst den Einfluß der chemischen Fabrik auf die Vegetation, die Gesundheit etc. zu beobachten. Dieß mußte aber damals unterbleiben, weil die Jahreszeit schon zu weit vorgerückt und alle Ernten eingebracht waren, weßhalb wir diese Untersuchung auf den Frühling 1846 verschoben. Aber erst am 3. Juni wurden die im Folgenden erwähnten Versuche begonnen. Da dieselben die Anklagen, welche gegen die chemischen Fabriken erhoben werden, zum Theil bestätigen und unerwartete Resultate lieferten, die mit allgemein angenommenen Ansichten in Widerspruch stehen, so müssen wir über unsere Beobachtungen und Untersuchungen ausführlich berichten. Dieuze (Decima), dessen Gründung einige Geschichtschreiber auf das vierte Jahrhundert zurückführen, ist 45 Kilometer nordwestlich von Nancy, nicht weit vom Teich Indre in einer Ebene erbaut, welche der Nubach, der Spin und die Seille bewässern. Abgesehen von einigen Gärten in der Nähe der Stadt, ist diese Ebene zum Theil mit Getreidearten, zum Theil mit ölhaltenden Samen und als Wiesengrund angebaut. Dieuze hat ungefähr 4000 Einwohner. Die Saline und die chemische Fabrik sind mit einander verbunden; sie erzeugen jährlich 280,000 metrische Centner Salz, 37,000 Schwefelsäure, 65,000 Soda, 8000 Chlorkalk, 30,000 Salzsäure, 2000 Salpetersäure, 400 Zinnsalz, 300 Knochenleim. Außerdem befinden sich in den benachbarten Gemeinden zwei Abdeckereien. Im Umkreis dieser großartigen Fabrik, deren hohe Schornsteine unaufhörlich Ströme von Dampf und Rauch in die Luft ergießen, stellten wir also unsere Untersuchungen an. In der Richtung des Windes, einige Kilometer von Dieuze entfernt, fühlt man schon einen durchdringenden Geruch von schweflicher Säure, Salzsäure und Steinkohlenrauch, welcher die Kehle reizt und Husten erregt. Dieß ist in höherem Grade in der Nähe der Stadt und in ihrem Innern der Fall; man braucht mehrere Tage, um sich an denselben zu gewöhnen, viele Personen bedürfen dazu sogar geraumer Zeit. Die Dämpfe und der Rauch verbreiten sich in Form von Nebeln, hüllen die Stadt, die Gärten, die Felder ein oder werden wie eine Wolke weit fortgetrieben, je nachdem die Luft ruhig ist oder der Wind mehr oder weniger stark weht. In Masse und von weitem gesehen, scheinen die Felder und Culturen blühend zu seyn und nicht zu leiden; bei genauerer Untersuchung in der Nähe und an den Stellen wo der Wind meistens bläst, findet man die Erde nackt, unfruchtbar; das Gras ist verbrannt, die Blätter sind ausgetrocknet, der Gartenbau schlecht gediehen. In der Nähe der Schwefelsäurefabrik sind die Bäume an derjenigen Seite verwelkt, welche sich den Gebäuden gegenüber befindet, woraus saure Dämpfe entweichen. Kaum aufgegangen, sterben die Blätter ab. Wir sahen Gerstenfelder, ölhaltende Pflanzen auf einer Fläche von mehreren hundert Metern fast gänzlich verwüstet. An anderen Punkten (z.B. dem Hotel-Dieu, der chemischen Fabrik gegenüber) sind die Küchenkräuter und Gartengewächse kränkelnd; die alten Bäume gehen jedes Jahr in großer Zahl zu Grunde; diejenigen welche man als Ersatz pflanzt, können nicht gedeihen, ungeachtet der Güte und Tiefe des Bodens; die Gebäude sogar kommen schnell in Verfall; die eisernen Werkzeuge sind tief zerfressen; die Dachrinnen, die Leitungen des Regenwassers aus Weißblech oder Zink, werden in sehr kurzer Zeit durchlöchert oder unbrauchbar; die Malereien werden sogleich beschädigt, sowie auch die Meubles und Hausgeräthe. Diese Thatsachen sind so offenbar und erwiesen, daß die Salinen-Administration sich fortwährend zu angemessenen Entschädigungen herbeilassen muß. Es müssen sich also in der Atmosphäre chemische Agentien oder schädliche Dämpfe in solcher Menge befinden, daß sie die erwähnten Wirkungen hervorzubringen vermögen. Um die verwickelte Natur dieser Ausdünstungen zu ermitteln, in welchem Zustand, welcher Form, unter welchen Umständen sie erzeugt und mehr oder weniger schädlich werden; ob eine trockne oder feuchte Luft, der Regen, Thau, die Temperatur, die Nacht, der Tag, ihre Wirksamkeit begünstigen oder schwächen, haben wir folgende Versuche angestellt. An einem heiteren Abend brachten wir an Stellen welche 200, 500, 1000 Meter und darüber von der Stadt entfernt sind, und in verschiedenen Richtungen über oder unter dem Wind der chemischen Fabrik, Lackmuspapier und Glasscheiben, letztere mit einer Auflösung von Aetzkali befeuchtet, welche keine Spur salzsaures Kali enthielt. Nach einer oder mehreren Nächten waren alle vom Thau befeuchteten Papiere schwach geröthet auf Stationen unter dem Wind der Fabrik; in den anderen Richtungen hatten sie ihre Farbe nicht verändert. Nach 48stündiger Berührung mit der Luft war die Kalilösung auf den Glasscheiben nicht vollständig neutralisirt. Wir spülten sie mit destillirtem Wasser ab und sättigten sie mit sehr reiner Salpetersäure. Salpetersaures Silber brachte in dieser Auflösung keine so deutliche Reaction hervor, daß man daraus auf einen Gehalt an Salzsäure hätte schließen können, und doch war Thau, welcher in einem Uhrglas über hohem Gras gesammelt wurde, neutral und gab mit demselben Reagens, salpetersaurem Silber, einen in Salpetersäure unauflöslichen Niederschlag. Da diese anscheinend einander widersprechenden Thatsachen eine genaue Analyse des Thaues nothwendig machten, so sammelten wir einige Gramme von solchem in verschiedenen Entfernungen von der Fabrik, und in der Richtung des Windes, indem wir die damit beladenen Pflanzen schüttelten. Dieser Thau hat nur einen schwachen Geschmack, einen sumpfigen Geruch und ist vollkommen neutral; salpetersaures Silber erzeugt darin einen flockigen Niederschlag von Chlorsilber; mit Barytsalzen und mit kleesaurem Ammoniak gibt er einen Niederschlag. Erhitzt man ihn in einer Glasröhre, so entwickelt er ammoniakalischen Dampf, welcher ein am oberen Ende der Röhre befindliches geröthetes Lackmuspapier schnell bläut. Zur Trockne abgedampft, läßt er einen Rückstand, welcher durch eine organische Materie gefärbt ist. Dieser Rückstand, bei der Rothglühhitze verbrannt, gab eine salzige Substanz, welche sich in destillirtem Wasser zum Theil auflöste. Der unauflösliche Theil ist schwefelsaurer Kalk; der aufgelöste Theil hinterläßt beim Verdampfen einen Rückstand, welcher Feuchtigkeit anzieht und in concentrirtem Alkohol auflöslich ist, mit Ausnahme eines in Würfeln krystallisirbaren Antheils, welchen wir als Kochsalz erkannten. Der im Alkohol auflösliche Theil liefert ein zerfließliches Salz, welches durch kleesaures Ammoniak, kohlensaures Kali und salpetersaures Silber reichlich gefällt wird, daher es aus salzsaurem Kalk besteht. Dieser Thau enthält also schwefelsauren Kalt, salzsauren Kalk, Kochsalz, Salmiak und eine organische Materie. Diese Zusammensetzung des Thaues erklärt die beobachteten Thatsachen vollkommen, nämlich die ursprüngliche Säuerlichkeit des Thaues und seine Neutralisation, nachdem er sich auf den Pflanzen abgesetzt hat. Letztere sind nämlich gewöhnlich mit Staub überzogen, welcher von den Straßen weit weggeweht wird. Dieser Staub, sowie der in der Luft schwebende, sättigt die aus der chemischen Fabrik entweichenden sauren Dämpfe und neutralisirt zum Theil ihre Wirkung bei trockenem Wetter, wie es zur Zeit unserer Versuche stattfand. Thau welcher ebenfalls in verschiedenen Entfernungen von der Fabrik, aber in dem Winde entgegengesetzter oder seitlicher Richtung gesammelt wurde, zeigte nur sehr schwache Spuren von Gyps und Kochsalz, enthielt aber weder salzsauren Kalk noch Salmiak. Als es nach fünfzehntägiger Trockenheit regnete, fingen wir Regenwasser über der Brücke und mehr als einen Kilometer von der Fabrik, fern von Wohnungen auf; es ist klar und ohne Wirkung auf das Reagenspapier; mit salpetersaurem Silber trübt es sich schwach und nimmt eine röthliche Farbe an. Wenn man es durch Abdampfen auf ein kleines Volum gebracht hat, erzeugt salpetersaures Silber darin augenblicklich einen Niederschlag von Chlorsilber. Die Barytsalze trüben es kaum. Verdampft man dieses Wasser vollständig, so bleibt ein gelblicher Rückstand, welcher in einer Glasröhre zum Rothglühen erhitzt, keinen Sublimat gibt, aber einen empyreumatischen Dampf, der geröthetes Lackmuspapier wieder blau macht. Die kohlige Materie, welche dem Glase anhing, wurde mit sehr verdünnter Salpetersäure behandelt; ihre Auflösung hinterließ beim Verdampfen einen weißen Rückstand, welcher sich in kochendem Wasser auflöste und dann mit salzsaurem Baryt einen Niederschlag gab. Nach diesen Reactionen enthält solches Regenwasser schwefelsauren Kalk, Kochsalz und eine organische Materie, welche dem Ulmin ähnlich ist und ohne Zweifel von dem beständig in der Atmosphäre verbreiteten Rauch herrührt.Das Vorkommen des Kochsalzes im Thau und Regenwasser bei Dieuze bestätigt im großen Maaßstabe die wässerige Verflüchtigung dieses Salzes, welche einer von uns (Fr. Simonin) noch für viele andere salzige Substanzen, sowohl unorganische als organische, im Jahr 1846 nachgewiesen hat. Regenwasser, welches um Nancy, in verschiedenen Richtungen, sowohl in der Nähe von Wohnhäusern als entfernt von solchen gesammelt wurde, enthielt nur Spuren von schwefelsaurem Kalk, aber viel organische Materie. Wir haben gesagt, daß in dem Gebäude Hotel-Dieu genannt alle Metalle, welche sich innerhalb und außerhalb desselben befinden, in kurzer Zeit oxydirt und unbrauchbar werden. Diese schnelle Zerstörung kann bei demselben keineswegs der Feuchtigkeit zugeschrieben werden und man erklärt sie daher durch die Einwirkung der sauren Dämpfe, welche das in der Nähe der chemischen Fabrik befindliche Gebäude unmittelbar treffen. Um diese Behauptung außer Zweifel zu setzen, lösten wir mit der Spitze eines Messers von den Eisenstangen eines Fensters einige der dicken Schuppen ab, womit sie überzogen sind. Wir kochten dieselben in destillirtem Wasser; der filtrirte Absud gab mit salpetersaurem Silber und den Barytsalzen einen reichlichen Niederschlag; mit Cyankalium gab er Berlinerblau und mit kleesaurem Ammoniak einen beträchtlichen Niederschlag von kleesaurem Kalk. Als man diesen Rost in einer kleinen Glasretorte destillirte, lieferte er anfangs ein wässeriges Product, welches das blaue Papier stark röthete, dann Salzsäure und gegen das Ende der Operation sublimirte sich etwas Salmiak. Diese Rostschuppen bestehen folglich aus Eisenoxyd, schwefelsaurem und salzsaurem Eisenoxyd, salzsaurem Kalk und Salmiak. Wie in dem Thau, finden wir auch hier Schwefelsäure und Salzsäure. Aus den mitgetheilten Thatsachen und Analysen geht offenbar hervor, daß die Luft von Dieuze und den benachbarten Feldern in einem sehr großen Umkreis (welchen wir nicht bestimmen konnten) freie Schwefelsäure und Salzsäure enthält; daß diese Säuren von der chemischen Fabrik herrühren, deren unvollkommene Apparate sie weit in der Richtung der Winde verbreiten; daß der Säuregehalt abnimmt und sogar ganz verschwindet, wenn diese Luft über eine kräftige Vegetation zieht, welche mit Staub bedeckt ist; daß diese Luft so wenig schwefelsaures oder salzsaures Ammoniak enthält, daß man dem Rauch keine Rolle bei dieser Neutralisation zuschreiben kann; endlich daß man aus dieser freiwilligen Sättigung keineswegs schließen darf, diese Verbreitung saurer Dämpfe sey der Vegetation nicht schädlich, denn im Gegentheil tödten diese Säuren die Vegetation, wenn sie mit derselben nach ihrem Austritt aus den Schornsteinen in gasförmigem Zustand in Berührung kommen, wovon wir uns überzeugt haben. Hienach ist es unbestreitbar, daß die chemischen Fabriken, wenn sie an einem Orte in großem Maaßstab oder zahlreich errichtet sind, auf die Vegetation und die Gebäude einen nachtheiligen und zerstörenden Einfluß ausüben; consequenterweise muß man daraus einen ähnlichen Schluß bezüglich der Menschen und Hausthiere ziehen und annehmen, daß eine so mit Schwefelsäure und Salzsäure beladene Atmosphäre in unmittelbarer Berührung mit unseren Organen von nachtheiligen Folgen seyn wird. Man hat uns auch versichert, daß die Fabrikarbeiter häufig ihre Zähne verlieren, ferner daß bei den Bewohnern von Dieuze und der Umgegend eiterige Augenentzündungen und Lungenkrankheiten sehr gewöhnlich sind; um aber in dieser Hinsicht einen strengen Beweis zu führen, müßte man sich auf zahlreiche vergleichende Beobachtungen stützen können, die Sterblichkeitsregister zu Hülfe nehmen und die medicinische Statistik des Orts für einen hinreichenden Zeitraum hergestellt haben etc.; diese Materialien fehlen uns für den vorliegenden Fall; dessenungeachtet glauben wir, daß unsere Ansicht, so lange der Gegenbeweis nicht geliefert ist, eine ernstliche Berücksichtigung verdient. Alles Vorhergehende beweist, daß die Behörden bei Ertheilung der Erlaubniß zur Errichtung einer chemischen Fabrik mit vieler Umsicht verfahren müssen und daß viele Localitäten für dieselben nicht geeignet sind, wenigstens so lange nicht in der Form und den Functionen der Apparate, und besonders im Ventilirsystem der Arbeitslocale eine gänzliche Veränderung vorgenommen ist, welche täglich nothwendiger wird; die Dämpfe, die den Arbeitern schädlichen Ausdünstungen werden durch Oeffnungen, Luftströme, hohe Schornsteine ausgetrieben; dadurch werden sie aber bloß verdrängt und auf größere Entfernungen zerstreut; ihre Wirksamkeit wird dadurch allerdings vermindert und geschwächt, sie äußern ihre Wirkungen nicht mehr so direct und auffallend, aber dieselben bestehen dennoch fort. Jene Mittel mögen für sehr kleine Anstalten ausreichen, aber für große Fabriken genügen sie durchaus nicht; die Aufgabe besteht also darin, den Rauch und die Dämpfe, welche immer belästigen, wenn sie auch keineswegs ungesund sind, gänzlich zu zerstören. Die Lösung dieses wichtigen Problems läßt sich von der Wissenschaft erwarten, wenn sich ausgezeichnete Techniker ernstlich damit beschäftigen werden. Sie erheischt, wie gesagt, eine gänzliche Umwälzung in den Functionen und der Construction der Apparate, aber sie ist unvermeidlich geworden. Der Rauch muß verbrannt werden: die Versuche welche hierüber zuerst in England und später von Hrn. Combes Polytechn. Journal Bd. XCVIII S. 181. in Frankreich angestellt wurden, beweisen daß diese Verbrennung durch geeignetes Einführen von Luft in die Feuerräume leicht zu bewerkstelligen und mit großer Ersparniß von Brennmaterial verbunden ist. Auch die so nöthige Zerstörung oder Verdichtung der sauren Dämpfe wird sich erzielen lassen, entweder indem man in die auf eine unbedeutende Höhe reducirten Schornsteine Wasserdampf leitet, welcher sich bei seiner Verdichtung unmittelbar mit ihnen schwängern würde; oder indem man sie durch alkalische Flüssigkeiten treibt; oder endlich indem man sie mit großen Flächen von kohlensaurem Kalk oder Kalkhydrat in Berührung bringt, wie dieses beim Reinigen des Leuchtgases etc. geschieht. Es ist nicht unsere Absicht, hier alle Verfahrungsarten anzugeben, welche angewandt werden können, ebensowenig die Form und Anordnungen der Apparate, womit wir uns nicht beschäftigt haben; wir wollten nur das Grundprincip aufstellen, dessen Anwendung uns leicht scheint und um so nöthiger, weil immer mehr große Fabriken und vorzugsweise in den bevölkertsten Bezirken errichtet werden.