Titel: Zur Essigfabrication; von Carl Balling, Professor der Chemie in Prag.
Fundstelle: Band 146, Jahrgang 1857, Nr. LVII., S. 225
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LVII. Zur Essigfabrication; von Carl Balling, Professor der Chemie in Prag. Aus Stamm's neuesten Erfindungen, 1857, Nr. 41. Balling, über Essigfabrication. Die Ansichten, Erklärungen oder Theorien, welche man sich von den Vorgängen macht, welche bei der Ausführung chemischer Processe vor sich gehen, haben ohne Zweifel einen großen Einfluß auf die Art dieser Ausführung und auf die dadurch erzielten Erfolge. Ein Fall dieser Art kömmt bei der Essigfabrication vor. Man weiß durch die genauesten Nachweisungen, daß, wenn der Alkohol sich in Essigsäure umwandelt, sich bei der Essigbildung mit 1 Atom Alkohol (57,5 Gewichtstheile) 4 Atome Sauerstoff (40 Gewichtstheile) verbinden, und daß dadurch 1 Atom Essigsäure-Hydrat (75 Gewichtstheile) und 2 Atome Wasser (22,5 Gewichtstheile) gebildet werden. Die englische Essigfabrication liefert den Beweis, daß dieses Resultat chemischer Kombination mit der Erfahrung bis auf geringe Unterschiede durch kleine Verluste, die bei der Essigfabrication unvermeidlich sind, übereinstimmt. Der Alkohol besteht aus: 4 Atomen Kohlenstoff, 5     „ Wasserstoff, 1   Atom Sauerstoff und 1      „ Wasser. Das Essigsäure-Hydrat besteht aus: 4 Atomen Kohlenstoff, 3     „ Wasserstoff, 3     „ Sauerstoff und 1   Atom Wasser. Wenn nun der Alkohol bei der Essigbildung in Essigsäure-Hydrat übergehen soll, so müssen dem ersteren vorerst 2 Atome Wasserstoff entzogen und dann 3 Atome Sauerstoff zugefügt werden. In diesem Vorgange besteht der chemische Theil des Essigbildungs-Processes. Man pflegt nach Liebig anzunehmen, daß dem Alkohol jene zwei Atome Wasserstoff entzogen werden durch zwei Atome Sauerstoff, welche aus der atmosphärischen Luft hinzutreten, und damit 2 Atome Wasser bilden. Luftzutritt ist dabei nämlich unumgänglich nothwendig. Den dabei entstandenen neuen Körper hat man Aldehyd genannt. Dann treten noch 2 Atome Sauerstoff aus der atmosphärischen Luft hinzu, wodurch aus dem Aldehyd Essigsäure-Hydrat entsteht. Diese Theorie von dem Essigbildungsprocesse ist die gegenwärtig herrschende. Sie übt den ihr zukommenden Antheil an dem Verfahren bei der Essigfabrication aus. Ich habe in meinem Werke: „Die Gährungschemie,“ Band II, Theil 2, bei der Behandlung der Essigfabrication eine von der vorstehenden etwas verschiedene Theorie des fraglichen Processes aufgestellt. Sie wurde hervorgerufen durch das Studium der chemischen Wirksamkeit der Essigfermente. Man ist gegenwärtig darüber einig, daß fertiger Essig, mithin die Essigsäure selbst das wichtigste Essigferment sey, und daß alle anderen Körper, die man früher als Essigfermente verwendete und empfahl, als: Essigmutter, mit Essig getränktes Schwarzbrod, Essiggeläger, Sauerteig etc nur durch ihren Gehalt an Essigsäure auf die Essigbildung einwirken und sie einleiten. Otto, in der neuen zweiten Auflage seiner Essigfabrication 1857, schreibt den stickstoffhaltigen Bestandtheilen des Essiggutes dabei auch eine Wirkung zu. Allein bei der Erzeugung des Branntweinessigs, die jetzt allgemein verbreitet ist, sind keine solchen Stoffe (Proteinkörper) vorhanden, sie können demnach dabei an dem Essigbildungs-Processe keinen nachweisbaren Antheil nehmen. Es frägt sich nun, wie wirkt der Essig oder vielmehr die darin enthaltene Essigsäure als Essigferment? In meinem oben genannten Werke (S. 269) habe ich darüber die nachstehende Erklärung gegeben: 1 Atom Alkohol und 1 Atom Essigsäure-Hydrat enthalten zusammen die Elemente von 2 Atomen Aldehyd und 2 Atomen Wasser. C₄H₅O, HO + C₄H₃O₃, HO = 2 (C₄H₃O, HO) + 2 HO,   Alkohol  Essighydrat     Aldehyd Wasser. 2 Atome Aldehyd gehen durch Aufnahme von 4 Atomen Sauerstoff aus der atmospärischen Luft in 2 Atome Essigsäure-Hydrat über. 2 (C₄H₃O, HO)   +  4 O = 2 (C₄H₃O₃, HO)    Aldehyd Sauerstoff  Essigsäurehydrat. Man sieht, 1 Atom Alkohol erfordert, wie vordern angegeben wurde, zur Umwandlung in Essigsäure 4 Atome Sauerstoff, daran wird nichts geändert, aber die Erklärung des chemischen. Vorganges ist dennoch eine theilweise verschiedene. Während die frühere Erklärung die Entziehung von 2 Atomen Wasserstoff aus dem Alkohol dem Sauerstoffe der atmosphärischen Luft zuweiset, erkläre ich diese Entziehung einfach aus der Vermischung des Alkohols mit Essigsäure im Essig, welcher letztere als saures Ferment dem Essiggute zugesetzt wird. Durch die bloße Vermischung dieser beiden Flüssigkeiten wird allerdings noch kein Aldehyd erzeugt, so wie auch durch die bloße Berührung des Essiggutes mit der atmosphärischen Luft noch kein Aldehyd entsteht; aber es bildet sich in den Essigbildern unter den darin gegebenen der Essigbildung günstigen Umständen. Während nach der älteren Erklärung aus 1 Atom Alkohol nur 1 Atom Aldehyd entsteht, welches durch Aufnahme von noch 2 Atomen Sauerstoff aus der atmosphärischen Luft in Essigsäure übergeht, würden nach der neuen Erklärung 2 Atome Aldehyd entstehen, und zwar 1 Atom aus dem Alkohol und das zweite Atom aus der Essigsäure des dem Essiggute zugesetzten Essigs, und diese 2 Atome Aldehyd nehmen dann aus der atmosphärischen Luft die benannten 4 Atome Sauerstoff auf, um sich in Essigsäure zu verwandeln. Das Aldehyd geht aber nicht unmittelbar in Essigsäure über, sondern zuerst in einen Zwischenkörper, den man Aldehydsäure genannt hat, weil er schon saure Eigenschaften besitzt. Diese Aldehydsäure besteht aus: 4 Atomen Kohlenstoff, 3     „ Wasserstoff, 2     „ Sauerstoff und 1   Atom Hydratwasser. Die Aldehydsäure ist nicht flüchtig, während das Aldehyd sehr flüchtig ist; sie oxydirt sich sehr leicht durch Aufnahme von 1 Atom Sauerstoff aus der atmosphärischen Luft zu Essigsäure. Vermischt man 1 Atom Alkohol (57,5) mit 3 Atomen Essigsäure (225), so enthalten diese zusammen die Elemente von 4 Atomen Aldehydsäure. (C₄H₅O, HO) + 3 (C₄H₃O₃, HO) = 4 (C₄H₃O₂, HO)    Alkohol Essigsäure-Hydrat   Aldehydsäure. 4 Atome Aldehydsäure nehmen aus der atmosphärischen Luft noch 4 Atome Sauerstoff auf und verwandeln sich in 4 Atome Essigsäure-Hydrat: 4 (C₄H₃O₂, HO) + 4 O = 4 (C₄H₅O₃, HO). Auch hier kommen auf 1 Atom in Essigsäure umzuwandelnden Alkohol 4 Atome Sauerstooff, welche aus der Luft aufgenommen werden. Setzt man demnach dem Essiggute eine große Menge schon fertig gebildeten Essig zu, so führt man die Möglichkeit herbei, daß nicht erst Aldehyd, sondern sogleich Aldehydsäure entstehen könne, und dadurch würde nicht nur die Essigbildung beschleunigt, sondern auch den Verlusten vorgebeugt, welche bei derselben durch Verflüchtigung von Aldehyd gewöhnlich entstehen. Diese Ansicht von der Wirkung der Essigsäure als Essigferment und die sich darauf gründende Theorie der Essigbildung stehen mit den Erfahrungen, die man bei der Essigfabrication gemacht hat und täglich macht, im vollen Einklange. Die erste Bildung von Essigsäure in gegohrenen alkoholhaltigen Flüssigkeiten (Wein, Bier, Branntweinmaische) wird dadurch nicht erklärt, und hier mögen den ersten Anstoß dazu die in der Flüssigkeit enthaltenen, in Umsetzung befindlichen Proteinsubstanzen geben. Die Art und Weise ihrer Wirkung ist noch nicht ermittelt. Hat sich aber in einer solchen Flüssigkeit auch nur die geringste Menge von Essigsäure gebildet, so schreitet die Essigbildung, da nun schon das wirksamste Essigferment vorhanden ist, unaufhaltsam und zwar in zunehmender Progression vorwärts, und es kann die Neutralisation der gebildeten freien Essigsäure und Aldehydsäure den Proceß zwar verzögern aber nicht aufhalten, weil von den Uebergangskörpern des Alkohols in Essigsäure auch etwas Aldehyd in der Flüssigkeit verbleibt, welches durch Basen nicht neutralisirt werden kann, und seine fortschreitende Umwandlung in Essigsäure durch Oxydation fortsetzt, wodurch immer wieder freie Essigsäure in die Flüssigkeit gebracht wird, so lange noch eine Spur von Alkohol in derselben enthalten ist. Man säuert die Gradirfässer und Essigbilder der Essigfabriken mit starkem, heißem Essig ein; man tränkt die Buchenholz-Hobelspäne, Holzstückchen, Weinkämme, welche Holzkohlen etc., welche in die Essigbilder oder Gradirfässer gebracht werden, mit starkem Essig; man setzt dem in Essig umzuwandelnden Essiggute Essig hinzu, um die Umwandlung des Alkohols in Essigsäure – die Essigbildung zu befördern. Ueberall dabei wirkt die angewendete Essigsäure als Essigferment; sie wirkt als Essigferment wahrscheinlich in dem oben angezeigten Sinne. Je stärkeren Essig man zum Ansäuern anwendet, je mehr und stärkeren Essig man dem Essiggute zusetzt, desto schneller, desto kräftiger geht die Essigbildung vor sich. Sie geht vor sich unter den dazu günstigen Bedingungen. Dazu gehören: angemessene Temperatur, nicht unter 15° bis 25° Reaumur, und möglichste Berührung der säuernden Flüssigkeit mit der atmosphärischen Luft. Beide Bedingungen sind bei den gewöhnlichen Methoden der Essigerzeugung, sowohl bei der verbesserten Boerhave'schen (der Gradir-Methode), als bei der Schnellessig-Fabrication gegeben, aber in Bezug auf die Menge des zugesetzten Essigfermentes, des fertigen Essigs, wird in den meisten Fällen noch gefehlt; man wendet meistens zu wenig davon an, und dadurch wird nicht nur die Essigbildung verzögert, sondern es finden auch Verluste durch Verflüchtigung von Alldehyd und Alkohol dabei statt, es wird ein schwächeres Product erzeugt. Die Erfahrung lehrt, daß bei der Schnellessigfabrication mit einer Gruppe von drei Essigbildern die Essigbildung im ersten Bilder am schwächsten erfolgt, stärker im zweiten und am stärksten im dritten Essigbilder, in dem Maaße nämlich, als der Gehalt an Essigsäure in der Flüssigkeit zunimmt. Ebenso ist die Bildung von Aldehyd und der Geruch nach demselben, so wie auch der Verlust durch Verflüchtigung von Aldehyd im ersten Essigbilder am stärksten, geringer im zweiten und am geringsten im dritten Essigbilder. Alle diese Erfahrungen stimmen mit der neuen Theorie der Essigbildung vollkommen überein, und würden darauf hinweisen, daß man dem Essiggute bisher zu wenig Essig als Ferment zusetzte, und daß man diesen Zusatz nicht leicht zu groß machen könne. Es geht von diesem Zusatze nichts verloren, denn der als Ferment zugesetzte Essig wird in dem neu erhaltenen vollständig wieder gewonnen. Die neue Theorie fordert, wenn Verlusten möglichst vorgebeugt werden soll, daß dem Essiggute so viel fertiger Essig zugesetzt werde, als zur Bildung von Aldehydsäure nothwendig ist. Dieß ist eine weitere Folgerung, welche aus der neuen Anschauung von dem Essigbildungsprocesse gezogen werden muß; ihre Anwendung ist es, welche in dem sich auf diese Anschauung gründenden Verfahren bei der Essigerzeugung Platz greifen müßte. Ohne Zweifel wird dadurch an dem bisher üblichen Verfahren bei der Essigfabrication und bei der Behandlung der Gradirfässer und Essigbilder, namentlich in Bezug auf die Zeit, wann das Ueberziehen des Essiggutes von einem Gradirfaß auf das andere – welche gekürzt werden müßte – stattzufinden hat, dann bei den Schnellessigbildern in Bezug auf die Menge des in derselben Zeit durchträufelnden Essiggutes – welches zu vermehren seyn möchte – manches zu ändern seyn, allein der rationelle Essigfabrikant, diese neue Theorie festhaltend, wird sich dabei wohl bald zurecht zu finden wissen und überall das rechte Maaß einzuhalten lernen. Insbesondere will ich hier noch darauf aufmerksam machen, daß bei Anwendung der Gradirmethode ein vollständigeres Abziehen des Essiggutes von dem zu entleerenden Gradirfaß, als dieß bisher üblich ist, sich nützlich erweisen müßte (S. 206–210, dann S. 220 meines oben genannten Werkes), weil doch nur an der Oberfläche der in dem Gradirfaß befindlichen starren Körper die Essigbildung des sie benetzenden Essiggutes vor sich geht und diese Oberfläche dadurch eine bedeutend größere wird; dann bei Anwendung der Schnellessigbilder finde ich zu bemerken, daß ein so sorgfältiges, beinahe ängstliches Zurichten der Siebböden in denselben, um dadurch ein gleichförmiges und langsames Durchtröpfeln des Essiggutes zu erzielen, nicht so dringend nothwendig seyn möchte, als man wohl allgemein annimmt. Auch hier ist es nur die Oberfläche der in den Schnellessigbilder eingebrachten starren Körper, an welcher die Umwandlung des ihr anhängenden Essiggutes in Essig erfolgt, weniger in den herabfallenden Tropfen; und weil zum Vorgange des Essigbildungsprocesses eine gewisse Zeit nothwendig ist, so kann das ununterbrochene Abwaschen dieser starren Körper durch das fortwährend herabträufelnde Essiggut selbst störend auf den Fortgang des Essigbildungsprocesses einwirken, weil das Essiggut dann zu kurze Zeit mit der atmosphärischen Luft in Berührung bleibt. Meine Ansicht hierüber ist demnach die, daß bei den Essigbildern die so mühsame und sorgfältige Zurichtung der Siebböden nicht absolut nothwendig sey, und daß man durch ein in bestimmten berechneten Zeiträumen erfolgendes Aufgießen und schnelles Durchlassen des Essiggutes dasselbe Resultat wahrscheinlich besser erreichen werde, weil dem Essiggute, welches der Oberfläche der starren Körper im Essigbilder (Späne, Kohlen etc.) anhängt, Zeit belassen wird sich vollkommen in Essig umzuwandeln und das zeitweilige nun raschere Durchlassen des Essiggutes durch den Siebboden doch keinen andern Zweck hat, als den an der Oberfläche der Späne etc. gebildeten Essig abzuschweifen und sie mit einer neuen Schichte von zu säurendem Essiggute zu benetzen. Ueberhaupt ist es nicht nothwendig, immer eine Gruppe von je zwei Gradirfässern, oder eine Gruppe von zwei bis drei Schnellessigbildern zusammenzustellenzusmmenzustellen, weil der Essig in einem einzelnen Gradirfaß oder Essigbilder, durch Abziehen desselben von unten und wiederholtes Aufgießen von oben, auch fertig gemacht werden kann, wobei jedes Essigbildungsgefäß für sich arbeitet. Um allen Alkohol im Essiggute zur Aldehydbildung zu disponiren, ist eine Mischung von nahezu gleichen Raumtheilen von verdünntem Branntwein und Essig, von gleichen Procentgehalten an Alkohol (dem Volumen nach) und Essigsäure-Hydrat (dem Gewichte nach) nothwendig. Zur Bildung von Aldehydsäure wäre das dreifache Inhaltsmaaß an Essig gegen den verdünnten Branntwein erforderlich. Ich will aber hiemit durchaus nicht behaupten, daß diese meine Ansicht vom Essigbildungsprocesse die richtige sey, und daß die vorgeschlagenen Veränderungen bei der Ausführung der Essigfabrication wirklich besser seyen und sich vollkommen bewähren werden. Es möchte jedoch die Mühe lohnen, im Großen Versuche in dieser Richtung vorzunehmen, wozu mit die Gelegenheit fehlt, damit, wenn sich meine Vorschläge bewähren sollten, sie zum Nutzen der Essigfabrication Gemeingut werden könnten. Nur in diesem Sinne wünsche ich die vorstehenden Mittheilungen aufgefaßt zu sehen. Prag, im September 1857.