Titel: | Eisenbahnen über die Alpen. |
Fundstelle: | Band 157, Jahrgang 1860, Nr. CIII., S. 413 |
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CIII.
Eisenbahnen über die Alpen.
Eisenbahnen über die Alpen.
Von dem bekannten französischen Ingenieur E. Flachat ist
kürzlich eine Broschüre erschienen unter dem Titel: De la
traversée des Alpes par un chemin de fer, welche manches Neue
enthält und die Beachtung der für diesen Gegenstand sich interessirenden Techniker
in hohem Grade verdient. Die schweizerische polytechnische Zeitschrift theilt in Bd.
V S. 12 und 46 das Wesentliche daraus mit.
Um die bedeutenden Steigungen, welche bei einer Alpenbahn nöthig werden, zu
überwinden, macht Flachat folgenden interessanten
Vorschlag: Bekanntlich wird das Gewicht der Züge, welche man auf starken Steigungen
befördern kann, begrenzt durch die Adhäsion der Locomotiven, und es nimmt daher
jenes Gewicht bei der Zunahme der Steigungen sehr rasch ab. Die Adhäsion einer
Locomotive wird durchschnittlich gleich 1/6 der auf den Triebrädern ruhenden Last angenommen. Man hat
bis jetzt das Gewicht der Maschinen entweder theilweise durch eine oder zwei
Triebachsen, oder ganz mittelst dreier Triebachsen für die Adhäsion benutzt. In
neuerer Zeit hat man auch noch das Gewicht des Tenderwassers und theilweise den
Tender selbst zu Hülfe genommen, indem man eine oder zwei Achsen des Tenders mit den
Achsen der Locomotive zusammenkuppelte. Es handelt sich nun darum, noch einen
Schritt weiter zu thun und auch das Gewicht der Personen- und Güterwagen für
die Adhäsion zu benutzen, was man bisher nicht versucht hat, weil es nicht nöthig
war, um Züge von 80–95 Tonnen auf Steigungen von höchstens 30–35 pro Mille zu ziehen.
Man denke sich einen Wagenzug, dessen sämmtliche Wagen von beweglichen, sogenannten
amerikanischen Untergestellen getragen werden, wie bei den schweizerischen
Personenwagen; jedes dieser Untergestelle mit kleinen Cylindern versehen, welche den
Dampf von einem an der Spitze des Zuges befindlichen Kessel erhalten, auf bekannte
Weise die beiden Achsen des Gestelles treiben, und die nöthigen Dimensionen haben,
um auf das Untergestelle eine Zugkraft gleich 1/6 von der auf den beiden Achsen
ruhenden Last auszuüben. Bei dieser Einrichtung wird es keine andere Grenze für das
Gewicht eines Zuges geben, als die Dampfmenge, welche der Kessel zu produciren
vermag.
Allerdings wird diese Einrichtung zu einem sehr theuern Betriebsmateriale führen, und
man hat wohl daran gethan, bis jetzt mit einfacheren und wohlfeileren Einrichtungen
sich zu behelfen; die vorliegende Aufgabe ist aber eine neue und verlangt daher mit
Nothwendigkeit veränderte Einrichtungen, und das rationellste System ist nun
offenbar, das Gewicht des Wagenzuges zur Adhäsion zu benutzen, weil man auf diese
Weise die stärksten Steigungen, welche vorkommen können, überwinden kann. Man kann
bis zur Höhe von 1000 Meter über dem Meere mittelst Steigungen von 25–35 pro Mille gelangen, indem die natürliche Steigung der
Alpenthäler bis zu dieser Höhe dieß erlaubt. Anders verhält es sich von
1000–2000 Meter (Höhe des Bergpasses); um diesen Höhenunterschied von 1000
Meter zu ersteigen, braucht man folgende Längen:
bei 25 pro Mille Steigung
40 Kilometer,
„ 30
„
„
„
33 „
„ 35
„
„
„
28 „
„ 40
„
„
„
25 „
„ 45
„
„
„
22 „
„ 50
„
„
„
20 „
Die Thäler und Bergabhänge, auf welche man in dieser Höhe trifft, bieten aber bei
weitem nicht diese Länge dar, und man muß daher die nöthige Länge entweder durch
Schlangenlinien (lacets) oder durch kreisförmige
Windungen zu erhalten suchen. Letztere würden entweder in den Seitenthälern sich
entwickeln, oder sie müßten abwechselnd als kreisförmige Tunnel in den Berg
eindringen und tangentiell an dessen Oberfläche wieder zu Tage treten; man erhielte
in letzterem Falle, statt eines sehr langen Tunnels, eine Reihe über einander
liegender kreisförmiger Tunnels, jeden von 1000–1500 Meter Länge (bei einem
Durchmesser der Kreise von 300–500 Meter), welche zusammen eine
Schraubenlinie bilden würden, deren Achse die Neigung des Vergabhanges hätte. Man
würde sich auf diese Weise so hoch erheben, bis man ganz oben durch den Berg nur
noch einen Tunnel von gewöhnlicher Länge erhielte. Dieses Auskunftsmittel würde weit
schneller zum Ziele führen, als ein einziger langer Tunnel, indem man alle diese
kleinen Tunnels gleichzeitig in Angriff nehmen könnte; es wäre aber ein sehr theures
System und würde eine sehr lange unterirdische Fahrt zur Folge haben. Das Publicum
hat bekanntlich einen instinktmäßigen Abscheu vor solchen langen unterirdischen
Fahrten, und die Technik muß dieses Gefühl wo möglich respectiren und andere
Lösungen suchen. Man muß also so viel wie möglich über der Erde bleiben; man muß, um
die kürzeste Bahn zu erhalten, bis zum Maximum der Steigung gehen, und zwar
erscheint die Ueberwindung einer Steigung von 50 pro
Mille durchaus nicht unmöglich.
Diese Steigung würde für jede Tonne des Zuggewichtes eine Zugkraft von 58 Kilogrammen
(50 Kilogramme zur Ueberwindung der Steigung, 8 für die übrigen Widerstände), oder
unter besonders ungünstigen Umständen 64 Kilogramme erfordern. Die achträdrigen
Personenwagen werden, die beweglichen Untergestelle eingerechnet, leer ungefähr 16
Tonnen und belastet 19–20 Tonnen wiegen; die Güterwagen, ebenfalls
achträdrig, 30–32 Tonnen mit der Ladung. Man erhält also für jedes Rad eine
Belastung von 2–4 Tonnen und eine auf den Radumfang auszuübende Zugkraft von
116–232 Kilogram.; die Adhäsion eines Rades, zu 1/6 der Belastung gerechnet,
beträgt aber im vorliegenden Falle 333–666 Kilogramme, die erforderliche
Zugkraft erreicht also nicht einmal die Hälfte der disponiblen Adhäsion und nur den
17. Theil der auf den Rädern ruhenden Last.
Die vierrädrigen Untergestelle, mit der oben angedeuteten Einrichtung, würden jedes
eine kleine Locomotive ohne Kessel seyn. Die nähere Anordnung des Kessels und der
Wagen würde die folgende seyn:
Der Kessel, auf zwei Untergestellen ruhend wie der Wagen, wird ein Gewicht von
höchstens 40 Tonnen erhalten, oder 5 Tonnen per Rad.
Hiervon sind 10–12 Tonnen für die beiden Gestelle mit ihrem Mechanismus zu
rechnen, so daß für den eigentlichen Kessel 28–30 Tonnen bleiben. Man wird
bei diesem Gewicht nöthigenfalls eine Heizfläche bis zu 500 Quadratmeter erreichen
können. Der Kessel wird für eine effective Dampfspannung von 6 1/2 Atmosphären
construirt und führt den Cylindern den Dampf mit 5 Atmosphären Spannung zu.
Natürlich wird die Größe des Kessels nach der Anzahl und dem Gewicht der Wagen sich
richten, aus denen ein Zug bestehen soll. Die Untergestelle des Kessels erhalten
Cylinder, gerade hinreichend, um den Kessel selbst auf der Steigung von 50 pro Mille zu ziehen, und zwei Dampfpumpen von
gewöhnlicher Construction. Ebenso werden die Cylinder der Wagengestelle berechnet
seyn, um eine Zugkraft höchstens gleich 1/6 vom Gewichte des Untergestelles sammt
Belastung auszuüben.
Die beweglichen Gestelle erhalten unabhängige Räder, d.h. die beiden Räder einer
Achse können sich unabhängig von einander drehen; die Cylinder müssen daher
außenliegend seyn. Die Räder werden aus Schmiedeeisen und voll (Scheibenräder)
angefertigt, die Bandagen aus Stahl; der Durchmesser der Räder wird zu 1 Meter, die
Entfernung der beiden Achsen zu 1,10 Meter angenommen. Da die Belastung der Räder
verhältnißmäßig gering ist, so wird auch die Abnutzung der Bandagen und der Schienen
weit geringer seyn als bei Locomotiven. Die Cylinder werden aus Schmiedeeisen, die
Kolbenstangen und Kurbelstangen aus Stahl angefertigt. Die Anwendung des Gußeisens
soll bei den Untergestellen gänzlich vermieden werden.
Die Röhrenleitung, welche den Dampf vom Kessel den verschiedenen Cylindern zuführt,
muß natürlich die nöthige Biegsamkeit besitzen, wie der Wagenzug selbst; sie wird
aus zwei concentrischen schmiedeeisernen Röhren bestehen, von denen die innere den
Dampf den Cylindern zuführt, die äußere denselben zum Kessel, resp. zum Blasrohr
zurückführt. Diese Röhre wird je zwischen zwei Untergestellen eines Wagens fest und
unter den Drehzapfen dieser Wagen befestigt seyn; zur Verbindung mit den Cylindern
wird, da diese der drehenden Bewegung der Untergestelle folgen, ein ähnliches Gelenk
angewandt werden, wie bei den Maschinen mit oscillirenden Cylindern. Zwischen je
zwei Wagen werden die innere und äußere Röhre in Form einer halbkreisförmigen Gabel
auseinandergehen und jede für sich mit der betreffenden Röhre des nächsten Wagens
verbunden werden, und zwar mittelst eines biegsamen Zwischenstückes aus vulcanisirtem Kautschuk, welches
den Röhren erlaubt, den Bewegungen der beiden Wagen zu folgen. Die Dampfröhre wird
mit einer Hülle von Filz umgeben und außerdem in einen dünnen Blechkasten
eingeschlossen, sowohl um im Winter den Wärmeverlust möglichst zu verhindern, als um
im Sommer die für die Reisenden unangenehme Wärmeausstrahlung zu vermeiden; auf
ähnliche Weise werden alle Theile des Mechanismus, denen die Kälte schaden kann,
geschützt werden.
Jeder Wagen wird durch zwei Maschinisten bedient werden, welche den Mechanismus zu
beaufsichtigen, die Zuleitung des Dampfes zu reguliren, das Schmieren und Bremsen
u.s.w. zu besorgen haben.
Die Vortheile, welche man durch Benutzung des ganzen Zuggewichtes für die Adhäsion
erreicht, sind einleuchtend. Bei den gewöhnlichen Locomotiven gibt man in der Regel
den Cylindern solche Dimensionen, daß sie eine Zugkraft gleich 1/3 oder 1/4 der auf
den Triebrädern ruhenden Last, also größer als die Adhäsion durchschnittlich ist,
ausüben können; man hat daher, sobald die Adhäsion durch atmosphärische Einflüsse
etwas vermindert ist, Ueberfluß an Zugkraft, welche man nicht benutzen kann, weil
die Räder gleiten. Bei dem neuen System dagegen wird man die Grenze der Adhäsion nie
erreichen; man wird also, ohne Rücksicht auf die Verminderung der Reibung durch
Feuchtigkeit oder andere Einflüsse, immer das Gewicht ziehen können, welches der
Dampferzeugung des Kessels angemessen ist.
Eine schwere Gütermaschine mit 6 gekuppelten Rädern, 30 Tonnen wiegend, wird in der
Regel eine Zugkraft von 5000 Kilogrammen ausüben können; es entspricht dieß auf
einer Steigung von 50 pro Mille, wenn, wie oben
angenommen, für jede Tonne eine Zugkraft von 58 Kilogrammen nothwendig ist, einem
Zuggewicht von 86 Tonnen, welches sich folgendermaßen vertheilt:
Maschine
30 Tonnen,
Tender
15 „
Gewicht der Wagen
13 „
Gewicht der Waaren
28 „
––––––––––
zusammen
86 Tonnen.
Diese Berechnung stimmt auch mit den Resultaten, welche man auf der Steigung von 35
pro Mille bei St. Germain erhalten hat; man findet
nämlich, daß 100 Quadratmeter Heizfläche (es entspricht dieß einer gewöhnlichen
schweren Gütermaschine) nöthig sind, um 91 Tonnen auf einer Steigung von 50 pro Mille zu ziehen, daß also 300 Quadratmeter Heizfläche hinreichen
werden, um 273 Tonnen auf der gleichen Steigung zu befördern. Diese vertheilen sich
folgendermaßen:
Kessel mit seinen Untergestellen
35 Tonnen,
Gewicht der Wagen
89 „
Gewicht der Waaren
149 „
–––––––––––
zusammen
273 Tonnen.
Man erhält also 149 Tonnen Nutzlast statt 28, oder der Nutzeffect eines Zuges wird im
Verhältniß von 1 zu 5 erhöht.
Man wird durch das neue System den weiteren großen Vortheil erzielen, daß man bei
einer geringen Zunahme des Zuggewichtes nicht, wie beim jetzigen System, zwei
Maschinen vorspannen und die ganze Last der zweiten Maschine als todtes Gewicht
mitbefördern muß, sondern man kann die Dimensionen der Kessel innerhalb sehr weiter
Grenzen variiren lassen und einen größern oder kleinern Kessel anwenden, je nach der
Größe der Züge, welche man zu befördern hat.