Titel: | Die Flachswolle und ihre Verarbeitung auf der Baumwoll-Spinnmaschine; von Dr. Stamm. |
Fundstelle: | Band 169, Jahrgang 1863, Nr. LVI., S. 227 |
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LVI.
Die Flachswolle und ihre Verarbeitung auf der
Baumwoll-Spinnmaschine; von Dr. Stamm.
Aus Stamm's neuesten Erfindungen, 1863, Nr. 9.
Stamm, über die Flachswolle und ihre Verarbeitung auf der
Baumwoll-Spinnmaschine.
Es sind in neuerer Zeit schon mehrfache Nachrichten über die Präparirung des Flachses
zur Verwendung für die Baumwollenspindel (die Cotonisirung des Flachses) durch die
technischen Zeitschriften gegangen und namentlich kamen aus Böhmen Notizen, welche
die Lösung dieser Aufgabe meldeten.
Die Entdeckung eines Spinnstoffes, welcher die feiernden Baumwollenspindeln wieder in
gewohnte Thätigkeit zu fetzen geeignet ist und noch dazu aus einer einheimischen, bereits in den Kreis
der Culturgewächse gezogenen Pflanze, die uns von Amerika und Ostindien unabhängig
stellen kann, erscheint gewiß auch als ein Ereigniß, welches an Wichtigkeit die
Erfindung der Rübenzuckerfabriken überragt, und den Mann, welcher diese Entdeckung
auf das praktische Feld überträgt, zu dem größten Wohlthäter des Volkes erhebt. Die
Wirkungen müssen nach zwei Richtungen hin sichtbar werden: für die Landwirthschaft
ist dann eine einträgliche Handeispflanze gewonnen und die Baumwollspinnereien
können auf dieser gesunden Grundlage neu aufblühen. Die Anschauungen und
Erfahrungen, welche wir in der letzten Zeit gewonnen haben, sind geartet, diese
Hoffnungen in uns zu begründen.
Wenn man die einzelnen Fäden oder Fasern der schönen Baumwollenblüthe unter dem
Mikroskope betrachtet, so erscheinen sie als ausnehmend lange Pflanzenzellen, als
lang gezogene dünne Schläuche, die wir in etwas derber Ausdrucksweise mit einer
zusammengequetschten Maccaroniröhre vergleichen möchten. Die Zelle ist bandartig mit
abgerundeten Rändern und leicht gewunden. Gerade diese leichte Schraubenwindung gibt
dem daraus gedrehten Faden mehr Halt, dem Gewebe aber eine Rauhigkeit, die dasselbe
beim Anfühlen von dem Flachsgewebe unterscheidet.
Betrachtet man dagegen die Flachsfaser, wie sie dem gehechelten verkäuflichen
Flachsbüschel entnommen ist, so erkennt man daran ein Faserbündel, von dem man schon
länger weiß, daß es aus einzelnen sehr dünnen langen Zellen besteht, die durch
Pflanzenleim verbunden sind.
Wenn wir uns die Sache grob versinnlichen wollen, so können wir sagen, die Baumwolle
ist ein parallel neben einander geordneter Zellenbüschel, etwa so:
Textabbildung Bd. 169, S. 227
der Flachs ein schon von der Natur durch Pflanzenleim
verbundener Faden aus Pflanzenzellen, etwa so:
Textabbildung Bd. 169, S. 227
Aus dieser Verschiedenheit der Anordnung der Pflanzenzellen der Baumwolle und des
Leines ergibt sich die Verschiedenheit der Bearbeitung. Die Baumwollenfaser
behandelt man beim Spinnen eben wie Wolle, wie man auch diese Faser Baumwolle
nannte; die Flachsfasern waren schon als Fäden vorhanden, sie waren nur zu kurz und
mußten für den weiteren Gebrauch, als Strick, Zwirn, Garn und Gewebe, durch Spinnen verlängert werden.
Das geht leicht mit der Handspindel, aber schwer mit der für die thierische Wolle und
die Baumwolle eingerichteten Baumwollenspinnmaschine; man hat daher anders gebaute
besondere Maschinen erfinden müssen, um langen Flachs zu verspinnen.
Wenn wir nun die vorstehenden zwei groben Bilder der Baumwolle und des Flachses
betrachten, so kann die Frage in uns entstehen: Könnte man denn die einzelnen
Flachszellen nicht auseinander ziehen und lösen, um sie der Baumwolle ähnlich zu
machen? Das ist die Streitfrage der Cotonisirung.
„Gebt Euch keine Mühe!“ riefen die britischen Kaufleute den
Technikern zu. „Der Flachs kostet 15 bis 25 fl. der Centner; wenn Ihr ihn
löset, die Zellen aufleimt und auseinander zieht, so kommt Euch die Flachswolle
vielleicht auf 40 bis 60 fl. zu stehen, wir aber liefern Euch die Baumwolle, so
viel Ihr nur immer wollt, um 25 bis 30 fl. den Centner. Eure Mühe wird daher
keinen Lohn finden, die Cotonisirung ist nicht praktisch.“ So stand
die Angelegenheit bis vor wenig Jahren, als die Baumwollenkrisis hereinbrach.
In Folge dessen stieg die Baumwolle auf 180 st. per
Centner, die feinste „Sea Island“
über 200 fl. Das änderte die Rechnung und die Kaufleute kamen mit ihrem Versprechen
in Mißkredit. Wenn auch die Auflösung des Flachses in seine Zellen bei dem Centner
10 und 20 fl. betragen und wenn der Abgang dabei ein Drittel, ja die Hälfte
ausmachen sollte, so kommt die Flachswolle noch immer billiger als die theure
Baumwolle, wenn die Flachszelle nur eben so gut und schön herzustellen ist.
Ein praktischer Mann in Böhmen, der Spinnereibesitzer Hr. Gustav Tetzner in Görkau, welcher der Flachswolle schon früher
sein Augenmerk zugewendet hatte, nahm daher seine Versuche wieder auf, um die
Flachszelle in ihrer Auflösung näher zu untersuchen und ihre Darstellung praktisch
zu machen.
Die technische Aufgabe bestand darin, den Flachs, der eben noch durch Pflanzenleim
verbundene Zellenbündel bildet, nicht bloß in dünne Fäden, sondern in seine
einzelnen Zellen zu trennen. Die mechanische Behandlung, wie sie durch die Hechel
oder den Wolf erzielt wird, reichte hier nicht aus; es müssen chemische Mittel
hinzutreten, welche den Pflanzenleim lösen und der mechanischen Trennung nur die
letzte Arbeit der Auseinanderlegung der Flachszellen übrig lassen.
Darauf waren nun die Versuche des Hrn. Gustav Tetzner
gerichtet, und die schon
jetzt erzielten Ergebnisse der mühevollen und kostspieligen Arbeiten, denn es
handelte sich immer um Ausführungen im Großen, womit die praktische Bewährung
festzustellen war, sind von großem Werthe und lassen an der völligen Lösung der
Aufgabe kaum mehr zweifeln: den Flachs in seine Zellen auflösen und wie Baumwolle
auf den gebräuchlichen Maschinen zu verarbeiten und zu spinnen.
Hr. Gustav Tetzner erzeugt aus Flachs bereits fabrikmäßig
eine Flachswolle, welche er auf den Baumwollenmaschinen verspinnt.
Die Flachswolle ist etwas lichter als der rohe Flachs. Die einzelnen Zellen sind so
fein wie die feinste Sea Island-Baumwolle und
unter dem Mikroskope cylindrisch und glatt. Gebleicht ist sie so weiß wie die
weißeste Baumwolle, und von einem glasartigen Glanze, ähnlich der weißen Seide; was
aber ihren Werth ungemein erhöht, ist ihre Länge; die einzelnen Flachszellen sind
zwischen zwei und drei Wiener Zoll (60 bis 80 Millim.) und sie übertreffen daher die
meisten Baumwollenarten an Länge.
H. Tetzner verspinnt die Flachswolle und erzeugt daraus
Garne von Nr. 4 bis Nr. 8, welche gerade für den Massenverkehr sehr wichtig
erscheinen, und setzt diese Nummern zu 60 bis 75 fl. den Wiener Centner in Verkehr.
Er spinnt auch feinere Nummern aus Flachswolle, aber da die Trennung der
Flachszellen in fabrikmäßigem Betrieb noch keine vollständige ist und daher noch
Zellenbündel übrig bleiben, welche die mechanische Behandlung beim Trennen
theilweise zerreißt, so kosten die höheren Nummern noch eine ungewöhnliche Nachhülfe
des Arbeiters an der Spinnmaschine und sie kommen daher unverhältnißmäßig
theurer.Hr. Rentamtmann Gümbel in Kaiserslautern hat auch
ein Verfahren ermittelt um Flachs und Werg so zuzubereiten, daß diese
Spinnstoffe auf den Baumwollenspinnmaschinen verarbeitet werden können. Im
Kleinen mit von ihm bezogenen Proben angestellte Versuche haben ein
günstiges Resultat geliefert.A. d. Red.