Titel: Ueber die Rolle der Kreide bei der Buttersäure- und Milchsäure-Gährung, und über die in derselben enthaltenen lebenden Organismen; von A. Béchamp.
Fundstelle: Band 183, Jahrgang 1867, Nr. XVI., S. 50
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XVI. Ueber die Rolle der Kreide bei der Buttersäure- und Milchsäure-Gährung, und über die in derselben enthaltenen lebenden Organismen; von A. Béchamp. Aus den Comptes rendus, t. LXIII p. 451; September 1866. Béchamp, über die Rolle der Kreide bei der Buttersäure- u. Milchsäure-Gährung. Bei meinen Untersuchungen über die Gährungsprocesse stiegen in mir Zweifel auf, ob die Rolle der Kreide bei der sogenannten Buttersäuregährung und Milchsäuregährung einzig darin bestehe, die Neutralität des Mediums zu erhalten, d.h. ausschließlich als kohlensaurer Kalk zu wirken. Die der oberen Abtheilung der Kreideformation angehörende weiße Kreide scheint zum größten Theile aus den mineralischen Resten einer untergegangenen mikroskopischen Welt zu bestehen. Nach Ehrenberg gehören diese fossilen Reste den kleinen Organismen der einen Ordnung der Protozoen, den Wurzelfüßern oder Rhizopoden, und zwar größtentheils der Unterordnung der Polythalamier oder Foraminiferen an. Bekanntlich sind diese dereinst organisirten Reste so zahlreich und so klein, daß ein 100 Gramme schweres Stück Kreide über zwei Millionen davon enthält. Neben diesen Resten von verschwundenen Wesen enthält aber die weiße Kreide noch jetzt eine ganze Generation von Organismen, welche weit kleiner sind als alle, die wir kennen, kleiner als alle Infusorien und Mikrophyten, welche wir bei den Gährungsprocessen beobachten; dieselben existiren nicht allein, sondern sie leben und sind vollständig entwickelt, obgleich ohne Zweifel sehr alt. Sie wirken mit seltener Energie als Fermente und sind, so weit unsere Kenntnisse jetzt reichen, die kräftigsten Fermente, die ich bis jetzt angetroffen habe, insofern sie sich von den verschiedenartigsten organischen Substanzen zu ernähren vermögen, wie ich in einer späteren Mittheilung nachweisen werde. Die Thatsachen, von denen hier die Rede seyn wird, habe ich im Laufe des Decembers 1864 Hrn. Dumas mitgetheilt, welcher auf dieselben in einem, in den Annales de Chimie et de Physique (Octoberheft von 1865) abgedruckten Briefe in folgender Weise hindeutet: „Die Kreide und die Milch enthalten schon entwickelte lebende Wesen, eine Thatsache, welche, an sich beobachtet, durch die andere Thatsache bestätigt wird, daß Kreosot, wenn es in einer Dosis angewendet wird, in der es nicht coagulirend wirkt, weder das spätere Gerinnen der Milch verhindert, noch die Kreide der Fähigkeit beraubt, ohne Beihülfe anderer Substanzen Zucker und Stärkmehl in Alkohol, Essigsäure, Milchsäure und Buttersäure umzuwandeln.“ Man nehme aus der Mitte eines eben aus dem Steinbruche kommenden oder schon lange ausgeförderten Kreideblockes von beliebiger Größe (um nicht der Annahme Raum zu lassen, daß die sich zeigenden Erscheinungen von atmosphärischem Staub herrühren) ein Stückchen, zerreibe dasselbe, übergieße es mit Wasser und bringe einen Tropfen dieser Kreidemilch unter das Mikroskop, bei der Vergrößerung Ocular 7 und Objectiv 2 Nachet. Man bemerkt im Gesichtsfelde glänzende, oft sehr zahlreiche Punkte, welche eine sehr lebhafte zitternde Bewegung wahrnehmen lassen. Nach meiner Ansicht ist diese Bewegung nicht die Brown'sche, sondern den gedachten Molecülen eigenthümlich; ich betrachte dieselben als lebende Organismen, die kleinsten, welche wir bisher beobachten konnten. Zur Lösung des durch diese Hypothese gegebenen Problems habe ich zwei Versuchsreihen angestellt: die erste derselben besteht in dem Nachweise, daß diese Molecüle Fermente sind; die zweite umfaßt die Isolirung und die Analyse derselben, d.h. den Beweis, daß sie Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff in Form organischer Substanz enthalten:Die zu meinen Versuchen angewendete Kreide verdanke ich Hrn. Michel, Brücken- und Straßenbau-Ingenieur, welcher dieselbe für mich besonders hatte gewinnen lassen. Sie stammt aus einem Steinbruche, welcher südlich von der Stadt Sens, zwischen dem Rû de Chèvre genannten Wege und dem die Kirche Saint-Martin du Tertre tragenden Hügel liegt. Das Stück wog 20 Kilogrm. Es war 20 Meter unter Tage, etwa 20 Meter weit von dem Mundloche des zu dem 10 Met. hohen Steinbruche führenden Stollens, und zwar oberhalb der Bank von schwarzen Feuersteinen gewonnen worden. I. Die Kreide wirkt, ohne Zusatz einer eiweißartigen Substanz, als Ferment.Für sämmtliche Versuche wurde Kreide aus dem Inneren des Blockes genommen. a) Wirkung der Kreide auf Stärkmehl. – 420 Grm. Kleister mit einem Stärkmehlgehalt von 20 Grm. wurden mit 30 Grm. Kreide aus der Mitte des Blocks und 4 Tropfen Kreosot auf das Innigste gemengt. Gleichzeitig ward ein ähnliches Gemenge bereitet, zu welchem indessen anstatt der Kreide reiner frisch gefällter und acht- und vierzig Stunden lang mit der Luft in Berührung gewesener kohlensaurer Kalk genommen wurde. Am anderen Tage schienen beide Gemenge noch in demselben Zustande zu seyn. Am folgenden Tage begann der kreidehaltige Kleister flüssig zu werden und einen Tag später war er vollständig verflüssigt, wogegen das den reinen kohlensauren Kalk enthaltende Gemenge sich gar nicht verändert zeigte. Die löslichen Antheile des verflüssigten Kleisters enthielten lösliches Stärkmehl und Spuren von Dextrin. Am 14. November 1864 wurden 100 Grm. Stärkmehl – im Kleisterzustande mit 1500 Kubikcentimeter Wasser – mit 100 Grm. Kreide von Sens und 10 Tropfen Kreosot auf's Innigste gemengt. Wie bei dem vorhergehenden Versuche stellte sich rasch Verflüssigung des Kleisters ein und bald wurde auch eine Entwickelung von Kohlensäure und Wasserstoff beobachtet. Am 30. März 1865 wurde das Product der Reaction analysirt und dabei erhalten: absoluter Alkohol 4 K. C. bei + 15° C. Buttersäure 8,0 Grm. krystallisirter essigsaurer Kalk 5,2 Grm. Bei einem anderen Versuche wurde neben den im Vorstehenden angegebenen Producten auch eine beträchtliche Menge von milchsaurem Kalk erhalten. b) Wirkung der Kreide auf Rohrzucker. – Am 25. April 1865 wurden 80 Grm. sehr weißer Rohrzucker, 1400 Grm. Kreide und 1500 K. C. kreosothaltiges Wasser gemengt. Am 14. Juni wurde das Product der Reaction der Analyse unterworfen und dabei erhalten: absoluter Alkohol 2,6 K. C. bei + 15° C. Buttersäure 4,5 Grm. krystallisirter essigsaurer Kalk 6,8    „ krystallisirter milchsaurer    „ 9,0    „ Ich habe diese Resultate wiederholt erhalten, sie sind constant. Ich bemerke noch, daß unter gleichen Verhältnissen reiner kohlensaurer Kalk ohne Wirkung bleibt, sobald man alle Vorkehrungen trifft, den Zutritt der Luft vollständig abzuhalten; allein es kommen auch Fälle vor, in denen das Kreosot die Gährung dieser Gemenge nicht verhindert, daher anzunehmen ist, daß in der Luft vollständig entwickelte Organismen existiren, welche in einem kreosothaltigen Medium, in welchem kohlensaurer Kalk zugegen ist, zu leben vermögen. Ich füge noch zwei Beobachtungen hinzu. Erstlich muß man, um die Wirkung der Kreide sowohl auf Rohrzucker, als auch auf Stärkmehl zu verhindern, dieselbe in feuchtem Zustande bis zu einer + 300° C. nahen Temperatur erhitzen. Zweitens findet man bei Beobachtung der erforderlichen Vorsichtsmaßregeln nach der Gährung kein anderes Ferment, als die in der Kreide wahrnehmbaren, diese aber in vermehrter Menge. II. Die Kreide enthält Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff in Form organischer Substanz. Wenn die vorstehenden Versuche wahrhaft beweisend sind, so müssen wir in der Kreide organische Substanzen finden. Zur Nachweisung derselben unterwarf ich den bei der Behandlung der Kreide mit verdünnten Säuren zurückbleibenden unlöslichen Theil der organischen Analyse. Ein nicht gepulverter Kreideblock wurde in schwacher Chlorwasserstoffsäure gelöst. Die ungelöst gebliebenen Antheile wurden auf einem Filter von starkem, glatten Papiere gesammelt, und mit angesäuertem Wasser so lange gewaschen, bis die ablaufende Flüssigkeit keinen Kalkgehalt mehr zeigte. Dann wurde der noch feuchte Rückstand mit einer ganz reinen Karte vom Filter genommen, ohne etwas abzureißen, in einer dünnen Lage auf einer Glasplatte ausgebreitet und, sorgfältig vor Staub geschützt, getrocknet. 100 Grm. Kreide ließen, auf diese Weise behandelt, 1,15 Grm. unlöslicher, bei + 100° getrockneter Theile zurück. Dieselben wurden bis zu 160° ausgetrocknet und dann verbrannt; es ergab sich, daß 100 Thle. des bei 100° getrockneten Rückstandes bestehen aus: Wasser (zwischen 100° und 160° entwichen) 2,47 organischer Substanz (Verbrennungsverlust) 7,17 mineralischer Substanz (Verbrennungsrückstand) 90,36 ––––– 100,00 Der bei 100° getrocknete Rückstand ergab, als er zur Bestimmung des Kohlenstoffs, Wasserstoffs und Stickstoffs der organischen Analyse unterworfen wurde, die nachstehenden Resultate: Kohlenstoff 1,053 Proc. Wasserstoff 0,740   „ Stickstoff 0,128   „ Der Stickstoff wurde nach dem Will-Varrentrapp'schen Verfahren bestimmt. Es fragt sich nun, ist die weiße Kreide die einzige Form des kohlensauren Kalkes, welche entwickelte Fermente enthält? Um diese Frage zu lösen, wendete ich mich abermals an Hrn. Michel, welcher mir einen Block des sogenannten Kalksteins von Pountil verschaffte. Derselbe war aus einem südlich vom Dorfe Saint-Pargoire, am linken Ufer des Hérault, etwa 80 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Einschnitte genommen worden. Das Gestein gehört der Formation des tertiären Süßwasserkalks an, welche in dem ganzen Centrum des Hérault-Departements, sowie in der ganzen Gegend zwischen den Cevennen und dem Mittelmeere in bedeutender Mächtigkeit auftritt. Der Kalkstein von Pountil zeigte in jeder Hinsicht dasselbe Verhalten wie die weiße Kreide. Fassen wir die hier mitgetheilten Beobachtungen kurz zusammen, so ergibt sich, daß man durch weiße Kreide allein – ohne andere eiweißartige Substanz als die in den Stärkekörnchen enthaltene und die Spur, welche im Rohrzucker vorauszusetzen ist – den Rohrzucker und das Stärkmehl in Gährung zu versetzen und außer Alkohol, dem charakteristischen Endproducte der geistigen Gährung, auch Essigsäure, Milchsäure und Buttersäure, die charakteristischen Endproducte der Milchsäure- und Buttersäuregährung zu erzeugen vermag. Für die in der Kreide enthaltenen kleinen Fermente schlage ich den Namen Microzyma cretae vor. Ich glaube, daß dieß das erste Beispiel einer Classe von ähnlichen Organismen ist, über welche ich der Akademie weitere Mittheilungen machen werde. Die Microzyma finden sich überall; dieselben treten in Begleitung mehrerer anderer Fermente auf, und kommen in manchen Mineralwässern vor, ferner in der cultivirten Ackerkrume, in welcher sie ohne Zweifel keine secundäre Rolle spielen; auch glaube ich, daß eine Menge von Molecülen, welche man als mineralische und mit der Brown'schen Bewegung begabte betrachtet, nichts anderes als Microzyma sind, z.B. die Sedimente aus alten Weinen.