Titel: Die Seidenraupen-Krankheiten; von J. v. Liebig.
Fundstelle: Band 184, Jahrgang 1867, Nr. XVII., S. 68
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XVII. Die Seidenraupen-Krankheiten; von J. v. Liebig. Aus einem Vortrage, gehalten in der Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe der k. Akademie der Wissenschaften in München am 2. März 1867. v. Liebig, über die Seidenraupen-Krankheiten. Durch die große Gefälligkeit des Hrn. Heinrich Scheibler in Crefeld bin ich in den Stand gesetzt worden, die Ermittelung einer Anzahl von Thatsachen zu veranlassen, welche, wie ich glaube, über die Natur der gegenwärtig herrschenden, für die Seidenindustrie so verderblichen Krankheit der Seidenraupe Licht zu verbreiten vermögen. Eine genaue Untersuchung des Futters der Seidenraupe aus den verschiedenen Ländern und Gegenden, wo die Seidenraupen-Krankheit herrscht oder nicht herrscht, hatte ich Hrn. Scheibler als eine der nächsten und unerläßlichsten Bedingungen bezeichnet, um über diese Krankheit Aufschlüsse zu gewinnen, und durch seine ausgebreiteten Verbindungen gelang es Hrn. Scheibler mir Maulbeerlaub aus China, Japan, der Lombardei, Piemont und Frankreich in genügender Menge zu verschaffen, um eine solche Untersuchung in meinem Laboratorium durch einen sehr geschickten und gewissenhaften Chemiker, Hrn. Dr. Reichenbach, vornehmen zu lassen, und es sind einige Resultate seiner großen Arbeit, die ich in Folgendem mittheilen will. Ueber den Ursprung der Blätter schreibt mir Hr. Scheibler: „Eine nähere Angabe, von welcher Species das Laub genommen, ist mir von China und Japan nicht zugekommen; es ist aber jedenfalls gesundes Laub.“ Die erhaltenen Resultate sind, wenn ich sie richtig interpretire, vollkommen geeignet die Ansicht zu stützen, die ich bereits früher über die Natur der Seidenraupen-Krankheit ausgesprochen habe. Es ist eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß aus Eiern, welche frisch aus China oder Japan, oder auch von manchen anderen Orten bezogen worden sind, Raupen erzogen werden, welche Seide liefern, und keine Symptome von Krankheit zeigen, daß aber die Nachkommenschaft von diesen Eiern in der zweiten oder dritten Generation der Krankheit verfällt. Diese Thatsache scheint mir die Existenz eines „Krankheitsstoffes,“ welcher die einen ansteckt und die anderen nicht, auszuschließen; denn es läßt sich nicht erklären, warum Thiere von frisch importirten Eiern gesund bleiben und Seide liefern, während die zweite oder dritte Generation aus Eiern aus demselben Land unter sonst gleichen Verhältnissen und gleichem Futter krank werden und sterben. Nach Allem was darüber bekannt ist, werden die Raupen von der herrschenden Krankheit vor oder unmittelbar nach der letzten Häutung befallen; sie sterben vor dem Einspinnen, und dem Anschein nach fehlt es ihrem Körper an Vorrath, an dem für das Gespinnst erforderlichen Stoff; daß der Mangel an diesem Stoff ihre Verpuppung gefährden und den Tod der Raupe nach sich ziehen muß, ist selbstverständlich. Auf die Erzeugung dieses Stoffes, welcher die Seide gibt, muß aber die Nahrung einen ganz bestimmten Einfluß äußern, und diejenige muß als die geeignetste für die Seidenraupen angesehen werden, welche das Material hierzu in größter Menge enthält. Die Seide ist sehr stickstoffreich; sie wird in dem Körper der Thiere aus den stickstoffhaltigen Bestandtheilen der Maulbeerblätter erzeugt, und es läßt sich hiernach aus dem Gehalt der letzteren an Stickstoff mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ihr Futterwerth beurtheilen. Die vollständige Entwickelung und die Gesundheit eines Thieres hängt selbstverständlich von seiner Ernährung ab; durch eine Verminderung in der Menge der täglich erforderlichen Nahrung wird seine Entwickelung beeinträchtigt und die Körpermasse verringert; der Widerstand gegen äußere Schädlichkeiten, welchen der Begriff der „Gesundheit“ in sich einschließt, wird dadurch geschwächt, d.h. das Thier wird bei mangelhafter Ernährung leichter von Krankheiten befallen; gut genährt, widersteht es besser. Das Maximum von Nahrung, welches ein Thier zu verzehren vermag, hängt in gleichen Verhältnissen von der Größe oder dem Umfang seiner Verdauungswerkzeuge ab; über ein gewisses Quantum Futter hinaus kann ein Thier nicht fressen. Es ist ferner klar, daß ein Thier von zwei Nahrungsmitteln, von denen das eine bei gleichem Gewicht mehr eigentlichen Nährstoff als das andere enthält, von dem ärmeren dem Gewicht nach mehr verzehren muß als von dem reicheren, um ein gleiches Quantum Material zur Ernährung und zum Aufbau seines Körpers in sich aufzunehmen. Von Brod und Fleisch zusammen bedarf ein Mensch z.B. dem Gewicht nach weniger als von Brod allein; von Brod weniger als von Kartoffeln. Wenn man nun von diesen Grundsätzen aus die Zusammensetzung der Maulbeerblätter aus verschiedenen Ländern betrachtet, so ergibt sich, daß sie sehr ungleich in ihrer Zusammensetzung sind, daß die eine Sorte aus China oder Japan z.B. sehr viel mehr von den Stoffen enthält, die zur Entwickelung des Körpers und zur Bildung der Seide dienen, als die andere. In Zahlen ausgedrückt, hat die Analyse folgende Verhältnisse ergeben: Stickstoffgehalt der Maulbeerblätter aus Japan China Tortona (Piemont) Alais Brescia 1) 3,23 3,13 1) 2,34 2,38 3,36 2) 3,36 2) 2,34 3) 2,49 oder in Fleisch und Seide bildenden Stoffen ausgedrückt: im Mittel Japan China Tortona Alais Brescia 20,59 19,56 14,93 14,62 21,0. Diese Zahlen zeigen, daß die Maulbeerblätter aus Piemont und Alais beinahe ein Drittel weniger von den zur Bildung der Körperbestandtheile der Raupe und der Seide dienenden Stoffen enthalten als die aus Japan und China, und wenn diese Verhältnisse durch weitere Untersuchungen sich bestätigen und constant erweisen, so knüpfen sich hieran Schlüsse von großer Bedeutung. Es liegt zunächst auf der Hand, daß, wenn eine Anzahl Raupen von chinesischen oder japanischen Blättern eine Quantität von 1000 Gr. und ebenso viel von piemontesischen oder von Blättern aus Alais verzehren, die Raupen in den ersteren 205 oder 195 Gr. Blut und Seide bildende Stoffe, in den anderen hingegen nur 149 Gr. dieser Stoffe in ihren Körper aufnehmen, und daß ferner die Raupen von den in Alais und in Tortona gewachsenen Blättern nahe an 1400 Gr. verzehren müssen, um ebenso viel von diesen Stoffen in ihren Körpern aufzunehmen als sie in 1000 Gr. chinesischem oder japanischem Laub empfangen hätten. Ein Einfluß dieser Ungleichheit in der Beschaffenheit des Futters auf die Körperbeschaffenheit der Thiere kann nicht verkannt werden. Mit derselben Menge Maulbeerblätter gefüttert, würde der Körper der Raupen in China und Japan an sich stärker und reicher an Seide bildenden Stoffen seyn müssen als der Körper der Thiere, die mit Blättern von Tortona oder Alais ernährt worden sind. Man kann nicht annehmen, daß jede einzelne von 1000 Raupen ebenso viel frißt wie eine andere, denn dieß hängt von der Körperbeschaffenheit der Individuen ab, welche theils durch die Race, theils von der Körperbeschaffenheit der Eltern mit bedingt wird; aber man kann, ohne einen Fehler zu begehen, voraussetzen, daß die Nachkommen derselben Race nicht mehr Futter zu verzehren im Stande sind als ihre unmittelbaren Vorfahren zu fressen vermochten. Wenden wir dieß auf Raupen an, die aus japanischen oder chinesischen Eiern gezogen, mit Maulbeerlaub in Tortona oder Alais ernährt werden, so wird eine gewisse Anzahl, welche in China oder Japan 1000 Gr. Maulbeerlaub gefressen hatte, auch 1000 Gr. von dem piemontesischen oder französischen Laub fressen. Die Untersuchung gibt nun zu erkennen, daß die mit piemontesischen oder französischen Maulbeerblättern ernährten Raupen nahe ein Drittel weniger stickstoffhaltige Nähr- und Seide bildende Stoffe empfangen als die in China und Japan mit dortigem Maulbeerlaub ernährten Raupen. Ist die Fütterung mit einer gegebenen Menge chinesischer oder japanischer Blätter ausreichend für die vollständige Ernährung und Metamorphose einer gewissen Anzahl von Raupen gewesen, so ist die gleiche Menge Blätter von Tortona oder Alais nicht genügend für diese Zwecke; die Raupen in Tortona und Alais werden mit derselben Menge Maulbeerlaub unvollständig ernährt seyn, und wie in allen Fällen von mangelhafter Ernährung, muß die Nachkommenschaft dieser Thiere schwächer als ihre Vorfahren seyn, schwächer in Beziehung auf die Ausbildung ihrer Organe und ihrer Entwickelungsfähigkeit, und schwächer in Hinsicht auf ihr Vermögen äußeren Schädlichkeiten Widerstand zu leisten. Durch eine an Nährstoffen reichere Nahrung wird die Race wieder verbessert werden können, d.h. es kann in diesen Thieren der gesunde und kräftige Zustand, der ihre Vorfahren auszeichnete, dadurch wieder hergestellt werden; aber mit dem mangelhaften Futter ernährt, wird die dritte Generation noch mehr ausarten. Während die erste Generation (von aus Japan und China importirten Eiern), die von den stärksten Eltern stammt, noch kräftig frißt, so daß man das bekannte Geräusch beim Fressen deutlich hört, und noch so viel Vorrath von Seide bildendem Stoff in ihrem Körper zu sammeln vermag, um sich einzuspinnen, nimmt dieser Vorrath in den Individuen der zweiten und dritten unvollständig ernährten Generation nothwendigerweise ab. Aus den Eiern mangelhaft ernährter Eltern muß sich ein schwächeres Geschlecht entwickeln, und der Umstand, daß die daraus hervorgehenden Individuen weniger kräftig fressen, wird von den Seidenzüchtern als eines der frühesten Symptome der sogen. Krankheit angesehen, und sehr bald gibt sich ein bemerklicher Unterschied in ihrer Größe zu erkennen. Viele Raupen verlieren die Fähigkeit sich zu häuten, und es erzeugen diejenigen, welche bis zum Einspinnen kommen, ein loses dünnes Gewebe; ihre Puppen verbleiben länger im Cocon; der kleine, in seinen Bewegungen träge Schmetterling hat häufig verkrüppelte Flügel. Dieß sind alles Zeichen einer unvollständigen Ernährung und eines herabgekommenen Geschlechts, aber nicht die einer besonderen Krankheit. Es tritt bei diesen Thieren derselbe Fall ein, wie bei guten Viehracen, deren Einführung aus England z.B. nach der Erfahrung mancher Viehzüchter keinen Vortheil hat, weil sie in ihrer Gegend ausarten, d.h. weil ihre Nachkommen viele der ausgezeichneten Eigenschaften ihrer Eltern wieder verlieren, während es sicher ist, daß, wenn sie das importirte Vieh mit gleicher Sorgfalt, ebenso reichlich und mit ebenso gutem Futter ernähren würden, wie dieß in England geschieht, von einer solchen Ausartung keine Rede seyn könnte. Worin läge aber der Vortheil – so sagte mir ein Viehzüchter – wenn es mir nicht gelingt die Race zu erhalten mit dem Futter, das mir gerade zu Gebote steht? Diese Viehzüchter suchen einen gewissen Vortheil durch die Einführung von fremdem Vieh zu erzielen; da sie aber die Bedingungen mißachten, durch die er gesichert wird, so erreichen sie ihren Zweck nicht, was Niemand in Verwunderung setzt, der die ersten Elemente der Ernährungsgesetze kennt. In Europa ist der Seidenzüchter nicht wie in Japan und China ein Landwirth, der seine Maulbeerbäume selbst pflanzt und sorgfältig pflegt, sondern für ihn ist Maulbeerlaub Maulbeerlaub, woher es auch stammen mag. Der einfachste Bauer weiß, daß unter seinem Heu ein Unterschied ist, daß die eine Sorte Heu weiter reicht, und lieber von seiner Kuh gefressen wird, und mehr und reichere Milch liefert, als eine andere. Der Seidenzüchter weiß von allen diesen Dingen nichts, und wenn er fortfährt auf seinem Standpunkt und auf seiner längst in die Rumpelkammer veralteter Begriffe verwiesenen Ansicht zu beharren, daß auf die Thiere alles ankommt, und daß ihr Organismus alles schafft und auch Seide erzeugt aus Futter, in welchem das Material zu ihrem Gespinnst weitaus nicht in hinreichender Menge enthalten ist, so zieht er täglich an der Glocke zum Grabgeläute einer Industrie, auf welcher der Reichthum großer Länder beruht, und dieß kann nicht anders seyn. Zum Schlusse will ich mir noch eine Bemerkung hinsichtlich der Maulbeerblätter von Brescia erlauben, von denen ich nicht mehr als von den anderen weiß, und das ist, daß es Blätter sind von der Beschaffenheit wie sie in der Gegend von der sie stammen, als Futter für die Raupen benutzt werden. Die analysirten Blätter von Brescia sind nämlich ebenso reich an Stickstoff als die japanischen und chinesischen, aber verglichen mit den letzteren ist in ihrer Größe ein auffallender Unterschied; die chinesischen und japanischen Blätter sind völlig ausgewachsen, die chinesischen sind aber handgroß, dick und müssen frisch sehr vollsaftig und fleischig gewesen seyn; die lombardischen Blätter sind hingegen klein (um 1/3 kleiner), dünn und wahrscheinlich jünger. Es ist eine ganz allgemeine Erfahrung, daß die jungen Blätter reicher an Stickstoff sind als die ausgewachsenen, und höchst wahrscheinlich daß jüngere chinesische oder japanische Blätter einen noch weit höheren Stickstoffgehalt ergeben hätten als die analysirten. Aus den Erfahrungen der Landwirthschaft wissen wir, daß die Düngung einen ganz entscheidenden Einfluß auf den Gehalt und den Reichthum der Pflanzen an stickstoffhaltigen Bestandtheilen ausübt, und daß in China und Japan jede Pflanze, von der man eine Ernte gewinnen will, gedüngt wird. Die chinesischen Werke über Seidenmanufactur beginnen mit der Beschreibung des Culturverfahrens des Maulbeerbaumes oder Strauches, und es läßt sich daraus der Werth erkennen, den der chinesische Bauer auf die richtige Pflege der Pflanze legt, welche bestimmt ist das Futter für den Seidenwurm zu liefern; dem Anbau der Pflanze oder der Saat geht jederzeit die Düngung des Bodens voraus, und die Zusammensetzung der Asche der Maulbeerblätter aus China und Japan gibt mit großer Wahrscheinlichkeit zu erkennen, daß dieses Laub von gedüngten Bäumen gewonnen worden ist. Aus den chinesischen Werken (s. z.B. The Chinese Miscellany. On the Silkmanufacture and the Cultivation of the Mulberry Nr. III. Printed at the Mission Press. Schanghai 1849) sieht man, daß in manchen Gegenden in China der Bauer den Maulbeerbaum sehr nahe so wie der Winzer in Europa den Rebstock behandelt; auf das Beschneiden wird die größte Sorgfalt verwendet, und werden dazu die genauesten Vorschriften gegeben. In dem citirten Werke heißt es S. 84: „Jeder Hieb mit der Hacke erzeugt 3 Zoll Fruchtbarkeit, und jeder Schnitt mit dem Messer sichert einen doppelten Ertrag vom Maulbeerbaum.“ Ferner: „Ueberfluß an Zweigen durch Vernachlässigung des Beschneidens macht die Blätter dünn und geschmacklos; daher ist das Beschneiden der Bäume von der grüßten Wichtigkeit für die Zucht der Seidenraupen.“ Wenn der europäische Seidenzüchter gelernt haben wird, die Vorschriften seines Meisters in der Seidenzucht, des gewöhnlichen chinesischen Bauers, genau und richtig zu befolgen, so wird er ganz unzweifelhaft Herr des großen Uebels werden, das seine Existenz bedroht. Die Natur gibt dem Menschen alles was er von ihr will, aber auf die Dauer nichts umsonst; sie lohnt ihn für seine Pflege, und straft ihn, wenn er sie beraubt. Dieß ist das Gesetz.