Titel: Ueber die fabrikmäßige Darstellung und die Eigenschaften des Nitroglycerins; von P. Champion.
Fundstelle: Band 202, Jahrgang 1871, Nr. LXXXVI., S. 369
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LXXXVI. Ueber die fabrikmäßige Darstellung und die Eigenschaften des Nitroglycerins; von P. Champion. Aus den Comptes rendus, t. LXXIII p. 42; Juli 1871. Champion, über Fabrication und Eigenschaften des Nitroglycerins. Unser Mitarbeiter H. Pellet hatte wiederholt beobachtet, daß im Widerspruche mit der hinsichtlich dieses Gegenstandes verbreiteten Meinung, eine nur wenige Secunden dauernde Berührung zwischen der Baumwolle und dem Gemische von Salpetersäure und Schwefelsäure genügt um Pyroxylin oder Schießbaumwolle zu erhalten. Er dachte, daß ein Gleiches auch für die Entstehung des Nitroglycerins gelten dürfte, was durch den Versuch auch bestätigt wurde. Von diesem Principe ausgehend, versuchten wir die Anwendung continuirlich wirkender Apparate, wie Schlangenrohre, in welche das Glycerin und das Säuregemisch durch regulirte Oeffnungen flossen; wegen der verschiedenen Dichtigkeit der in Berührung kommenden Flüssigkeiten war es aber schwierig, eine gehörige Vermischung derselben zu bewirken. Die Anwendung einer Reihe von über einander aufgestellten Trichtern, um durch den Fall der Flüssigkeit eine möglichst innige Vermischung hervorzubringen, führte zu keinem besseren Resultate. Gießt man aber die zu einer Operation nothwendige Glycerinmenge plötzlich in das Säuregemisch und rührt mit einem Glasstabe ungefähr zehn Secunden lang um, so ist die Zeit für eine Temperaturerhöhung zu kurz; wird dann das Gemisch sofort in eine große Wassermenge (das Fünfzehn- bis Zwanzigfache vom Volum der Säuren) gegossen, so schlägt sich das Glycerin nieder; man erhält auf diese Weise den Maximalertrag. Auf dieses Princip ist die fabrikmäßige Darstellung des Nitroglycerins in Deutschland begründet. Arbeitet man bei dem beschriebenen Versuche mit kleinen Quantitäten, so gestattet die Zähflüssigkeit des Glycerins nicht, eine im Voraus bestimmte Menge desselben rasch in das Säuregemisch einzuführen. Es ist vorzuziehen, folgendes Verfahren anzuwenden: man bringt 100 Gramme des kalten Säuregemisches in ein Becherglas, und läßt dann die entsprechende Glycerinmenge langsam an der inneren Wand des Gefäßes hinabfließen. Mittelst vorgerichteter Taren kann man das Gewicht des angewendeten Glycerins genau bestimmen. Letzteres breitet sich auf der Oberfläche der Flüssigkeit aus und in diesem Zustande kann das Ganze mehrere Stunden stehen bleiben, ohne daß sich eine gegenseitige Einwirkung zeigt. Sobald man aber das Gemisch rasch umrührt, tritt die Reaction ein; ihre Dauer darf nur eine kurze seyn, und im Uebrigen wird die Operation auf die angegebene Weise ausgeführt. Die von uns für die fabrikmäßige Darstellung angenommenen Gewichtsverhältnisse sind folgende: Glycerin von 31° Baumé   380 Grm. rauchende Salpetersäure von 50° Baumé   1000    „ Schwefelsäure 2000    „ das Ausbringen an Nitroglycerin beträgt   760    „ entsprechend 200 Th. auf 100 Th. des angewendeten Glycerins. Anmerkungszeichen zu dieser Fußnote fehlt im Text.Um das Ausbringen an Nitroglycerin zu erhöhen, hatte Berthelot schon vor einiger Zeit empfohlen, die Menge der Salpetersäure bedeutend zu vermehren. (Comptes rendus, t. LXXI No. 20.) Dem Vorstehenden müssen wir mehrere Bemerkungen beifügen: 1) Durch die Anwendung eines größeren oder eines geringeren Verhältnisses von Schwefelsäure wird die Ausbeute an Nitroglycerin vermindert. 2) Nimmt man weniger Salpetersäure, als oben vorgeschrieben, so erhält man gleichfalls weniger Nitroglycerin, obgleich sich aus der theoretischen Berechnung ergibt, daß bei den angegebenen Zahlen 36,8 Procent vom Gewichte der Salpetersäure nicht effectiv zur Konstitution des Glycerins beitragen. 3) Die Bildung von Oxalsäure in dem Gemische haben wir nicht beobachtet. Dieses Verfahren ist mit gar keiner Gefahr verbunden. Sollte man die Flüssigkeit zu lange umrühren, so gäben die entstehenden Untersalpetersäuredämpfe dem Experimentirenden den nöthigen Wink. Der zur Fabrication im Großen erforderliche Apparat bestünde aus einem um eine horizontale Achse beweglichen Recipienten, in welchem der Flüssigkeit die nöthige Bewegung durch Einblasen von Luft ertheilt wird; am oberen Theile desselben wäre ein zur Aufnahme des Glycerins bestimmtes Gefäß angebracht, welches rasch entleert werden kann; unterhalb des Apparates würde ein mit Wasser gefüllter, in Bewegung erhaltener Behälter nach beendigter Operation das Gemisch von Säure und Nitroglycerin aufnehmen. Würde dieses Wasser nicht in Bewegung erhalten, so wäre zu befürchten, daß in Folge der durch das rasche Einführen der Schwefelsäure veranlaßten bedeutenden Temperaturerhöhung Unfälle herbeigeführt werden. Darstellung der Salpetersäure und des Glycerins. Die im Handel vorkommende rauchende Salpetersäure zeigt gewöhnlich 48° Baumé und ist gelb gefärbt; um sie von 50° zu erhalten, muß man sie mit ihrem gleichen Gewicht Schwefelsäure versetzen und der Destillation unterwerfen, indem man nur die erste Hälfte des Destillates auffängt. Die in letzterem stets enthaltene Untersalpetersäure, welche zu Unfällen Veranlassung geben kann, entfernt man durch eine zweite Destillation über Mangansuperoxyd, oder, was vorzuziehen ist, indem man durch die auf 70° C. erhaltene Flüssigkeit einen Strom von atmosphärischer Luft ziehen läßt. Das Glycerin kommt im Handel mit 28° Baumé vor; es ist unnöthig, dasselbe weiter zu concentriren. Bei raschem Abdampfen färbt sich das Glycerin braun; als wir es vorsichtig im Oelbade erhitzten, fanden wir, daß eine mehrere Stunden lang unterhaltene Temperatur von 135° C. hinreichend war um das Wasser zu verjagen, ohne das Product zu verändern. Letzteres nimmt dabei eine schwache Bernsteinfarbe an und verliert 6 Procent seines Gewichtes. Das auf oben angegebene Weise erhaltene Nitroglycerin bildet eine ölartige, weißliche, sehr saure Flüssigkeit; um mit derselben Dynamit bereiten zu können, muß man es sättigen und vollständig entwässern. Zu diesem Zwecke rührt man es zunächst mit überschüssigem Wasser um, und beendet die Operation mittelst zweifach-kohlensauren Natrons oder kohlensauren Kalkes, weil das Nitroglycerin die letzten Spuren der in ihm enthaltenen Säure nur schwierig an das Wasser abgibt. Man kann es mit krystallisirtem Chlorcalcium austrocknen. Das geschmolzene Chlorcalcium zeigt nämlich den Uebelstand, das Product durch seine Alkalinität zu verändern und Chlor abzugeben, welche Reaction jedoch erst nach dreißigstündiger Berührung stattfindet. Bei der Darstellung des Nitroglycerins im Laboratorium kann man das Product auch im Vacuum über Schwefelsäure trocknen. Wird es übrigens mehrere Wochen sich selbst überlassen, so klärt es sich, indem das vorhandene Wasser sich abscheidet und an die Oberfläche tritt. Bei der fabrikmäßigen Darstellung erwärmt man es in einem Wasserbade auf 30 bis 40° C. Ein Wassergehalt vermindert einerseits die Explosionsfähigkeit, andererseits verlieren die zur Umwandlung des Nitroglycerins in Dynamit dienenden Substanzen, wie die amorphe Kieselsäure, bei Gegenwart von Wasser im Nitroglycerin einen beträchtlichen Theil ihres Absorptionsvermögens. Eigenschaften des Nitroglycerins. Reines Nitroglycerin bildet eine ölartige, farb- und geruchlose Flüssigkeit von anfänglich süßlichem, dann schwach brennendem Geschmack; seine Dichtigkeit ist 1,60. Die Darstellung und Hantirung desselben verursacht heftigen, von Uebelkeit begleiteten Kopfschmerz. Diese Erscheinungen treten gewöhnlich erst nach mehreren Stunden ein. Nach Verlauf einiger Tage ist der Organismus für die Wirkung dieser Substanz nicht mehr empfindlich. Zwei Tropfen, unter die Epidermis eines Vogels injicirt, verursachten keine unmittelbar auftretende Krankheitserscheinung; nach sechs Stunden war aber das Thier in einen Zustand von Betäubung gerathen und verendete. In Wasser ist das Nitroglycerin unlöslich; dagegen löst es sich in allen Verhältnissen in Aether und Methylalkohol; in gewöhnlichem Alkohol löst es sich bei mittlerer Temperatur nur sehr wenig, aber bei + 50° C. in bedeutender Menge. Unterhalb 100° C. verflüchtigt es sich nur schwach, ohne eine Zersetzung zu erleiden; man kann sich von dieser Thatsache auf die Weise überzeugen, daß man es acht Tage lang auf dem Wasserbade erhält, und das Gefäß, in welchem es enthalten ist, mit einem Trichter bedeckt. Die Spannung seines Dampfes im Vacuum fand Lorm zu 5 Millimeter bei 15°, zu 27 Millim. bei 87°, und zu 30 Millim. bei 100°. Im reinen Zustande erleidet es keine freiwillige Zersetzung. Mehrere Stunden lang einer Temperatur von – 15° ausgesetzt, wird es dickflüssig, ohne zu gerinnen; dagegen genügt eine hinreichend lange anhaltende Kälte von – 2°, um es zum Krystallisiren zu bringen. Das mit Glycerin von 28° B. dargestellte Nitroglycerin stimmt in seinen Eigenschaften und in seiner Zusammensetzung mit dem aus Glycerin von 32° B. erhaltenen überein. Von rauchender Salpetersäure, sowie von Schwefelsäure von 66° B. und von einem Ueberschusse des zu seiner Darstellung dienenden Gemisches dieser beiden Säuren, wird das Nitroglycerin bei gewöhnlicher Temperatur aufgelöst und zersetzt.Aus dieser Thatsache dürfte die Differenz zwischen dem theoretischen Ausbringen, welches 246 ist, und dem in der großen Praxis erzielten, welches nur selten mehr als 200 auf 100 Th. Glycerin beträgt, zu erklären seyn. Von Königswasser wird es rasch und unter Zersetzung aufgelöst; ebenso verhält es sich gegen gewöhnliche Salpetersäure bei 50° C. Temperatur. Längere Zeit mit einer concentrirten Natronlösung in Berührung gelassen, färbt sich die Flüssigkeit unter Bildung von Salpetersäuresalz gelb. Durch Kochen wird diese Wirkung beschleunigt. Nach der Angabe mehrerer Chemiker detonirt das Nitroglycerin bei einer Temperatur von 180° C. Da unsere ersten Versuche mit dieser Angabe in Widerspruch zu stehen schienen, so construirten wir einen Apparat, dessen Idee von Hrn. Leygue herrührt und welchen wir demnächst beschreiben werden. Nach den mittelst desselben erhaltenen Resultaten sind in nachstehender Tabelle die Veränderungen verzeichnet, welche das Nitroglycerin bei verschiedenen Temperaturen erleidet. Bei 185° C. Siedepunkt, Verflüchtigung mit Entwickelung gelber Dämpfe. 194° langsame Verflüchtigung. 200° rasche Verflüchtigung. 217° heftige Verbrennung. 228° lebhafte Verbrennung. 241° schwache Detonation (schwierig). 257° heftige Detonation. 267° schwächere Detonation. 287° schwache Detonation mit Flamme. Bei Dunkelrothglühhitze nimmt das Nitroglycerin den sphäroidalen Zustand an und verflüchtigt sich ohne Detonation. Durch den Stoß detonirt das Nitroglycerin heftig. Wie wir bei neuen Versuchen mit Ruhmkorff's kräftigen Apparaten uns überzeugt haben, ist die Elektricität auf das Nitroglycerin ohne Wirkung.