Titel: Ueber die normalen Mikrozymen der Milch als Ursache der freiwilligen Gerinnung und der weingeistigen, essigsauren und milchsauren Gährung dieser Flüssigkeit; ferner über den normalen Alkohol und die normale Essigsäure der Milch; von A. Béchamp.
Fundstelle: Band 209, Jahrgang 1873, Nr. LXIV., S. 373
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LXIV. Ueber die normalen Mikrozymen der Milch als Ursache der freiwilligen Gerinnung und der weingeistigen, essigsauren und milchsauren Gährung dieser Flüssigkeit; ferner über den normalen Alkohol und die normale Essigsäure der Milch; von A. Béchamp. Aus dem Journal de Pharmacie et de Chimie, Mai 1873, t. XVII p. 337. Béchamp, über die normalen Mikrozymen der Milch als Ursache ihrer freiwilligen Gerinnung etc. Die Ursache der freiwilligen Gerinnung der Milch ist noch unbekannt. Ich will zu beweisen suchen, daß dieser Act durch die eigenthümliche Thätigkeit der in der Milch vorkommenden Mikrozymen vollzogen wird, d.h. daß zu dieser Gerinnung die Luft nicht erforderlich ist, sey es nun daß sie durch ihren Sauerstoff eine Aenderung des Caseïns herbeiführe, wie Liebig glaubt, oder daß sie durch in ihr schwebende Fermentkeime wirke. Zunächst erlaube ich mir, eine Stelle eines vor acht Jahren an Dumas gerichteten Briefes hier wiederzugeben; sie lautet: „Die Kreide und die Milch enthalten ausgebildete lebende Wesen, eine Thatsache welche, an und für sich beobachtet, durch eine andere erwiesen ist, nämlich die, daß das Kreosot, wenn man es in nicht coagulirender Dosis anwendet, nicht verhindert daß die Milch später gerinnt, noch daß die Kreide ohne fremde Hülfe den Zucker und das Stärkemehl in Weingeist, Essigsäure etc. umwandelt. (Annales de Chimie et de Physique, 1865, 4. série, t. VI p. 248.) Später nannte ich die lebenden Wesen der Kreide Mikrozymen, und sprach die Vermuthung aus daß sie das erste Beispiel einer Classe ähnlicher Wesen seyen; noch später wies ich mit Hrn. Estor nach, daß die molecularen Granulationen der höheren Thiere zur Classe der Mikrozymen gehören, welche unter gewissen Umständen fähig sind, sich zu Bakterien zu entwickeln. Die lebenden Wesen, welche ich 1865 in der Milch beobachtet habe, sind genau eben solche zu Bakterien ausbildbare Mikrozymen. Dieses zugegeben, entsteht, wenn die in der Milch befindlichen Mikrozymen nicht aus der Atmosphäre gekommen sind, die Frage, welches ihr Ursprung ist und durch welchen Mechanismus sie dahin gelangen? Versuchen wir diese Frage zu lösen. Zunächst will ich daran erinnern, daß die Bierhefe, welche man in Stärkekleister bringt, sich darin durch eine Art von Resorption, durch eine, wie die Physiologen sagen würden, Schmelzung zu Mikrozymen auflöst. Die Milchsecretion findet normal während der Periode des Gebärens statt. In der ersten Milch, dem Colostrum, bemerkt man Kügelchen oder feinkörnige Zellchen. Diese Kügelchen schmelzen d.h. werden resorbirt während die Secretion fortschreitet und das Medium, welches sie enthält, sich verändert, und die Mikrozymen werden ebenso, wie die fetten Körper, welche sie enthielten, frei. Wenn die Secretion im geregelten Fortgange ist, so erfolgt die Bildung und Schmelzung der Kügelchen gewissermaßen gleichzeitig, dergestalt daß die Zeugen der Kügelchenbildner der Milch außerhalb der Brust keine anderen sind als die Mikrozymen, die Fettkügelchen, einige Zellenkerne und Trümmer von Zellen. Um die Mikrozymen und die Kerne der erzeugenden Zellen der Milch beobachten zu können, braucht man nur die frische Milch mit ihrem fünf- bis sechsfachen Volum Kreosotwasser zu verdünnen und an einem kühlen staubfreien Orte zu filtriren. Auf dem Filter bleibt eine gewisse Menge unlöslicher Materie und Fett zurück. Den Filterinhalt behandelt man mit Aether zur Entfernung des Fettes, dann mit einer verdünnten Lösung von kohlensaurem Natron um ein wenig Caseïn aufzunehmen, und zuletzt mit destillirtem Wasser. Bringt man dann den Rest unter das Mikroskop, so erkennt man bei 500maliger Vergrößerung die Mikrozymen mit ihren gewöhnlichen Merkmalen, vermengt mit Kernen und Trümmern von Zellen. Die Milch muß also wohl Mikrozymen enthalten, und enthält sie auch wirklich. Ich will nun auch angeben, wie ich verfahren bin um darzuthun, daß die freiwillige Gerinnung der Milch ihnen zugeschrieben werden muß. Ich ließ die Milch einer Kuh, in dem Momente wo man sie zur gewohnten Stunde aus dem Euter zog, in einen Apparat laufen, welcher ein wenig Kreosotwasser enthielt, im Uebrigen voll Kohlensäure war und durch welchen man, während er sich mit Milch füllte, Kohlensäure streichen ließ. Die Milch gelangte aus dem Euter in den Apparat vermittelst eines Trichters, der mit feiner Leinwand ausgekleidet war, welche man zuvor mit heißem kreosothaltigem Wasser gewaschen hatte. Die Milch ward auf diese Weise mit Kohlensäure gesättigt, und völlig frei von atmosphärischer Luft. Der Apparat wurde nun verschlossen in eine Temperatur von 35 bis 40° C. gestellt. Am folgenden Morgen war die Milch darin geronnen. Derselbe Versuch wurde mehrmals wiederholt und stets mit gleichem Erfolge. In dem Augenblik wo die Gerinnung ihr Ende erreicht hat, und man die vom Käse und der Butter getrennte Molke deutlich erkennen kann, ist es unmöglich, etwas anderes Organisirtes darin wahrzunehmen, als die Original-Mikrozymen. In einem anderen Versuche, welcher 14 Tage gedauert hatte, gab es isolirte Mikrozymen, gegliederte Mikrozymen und Bakterien. Welcher Art sind die Producte, welche die Gerinnung der Milch begleiten, und welchen Antheil nimmt daran das Caseïn? Bekanntlich enthält die geronnene Milch Milchsäure, und ich selbst habe mich auf die unzweideutigste Weise davon überzeugt. Ferner weiß man, daß die Milch in Berührung mit der Luft fähig ist in geistige Gährung überzugehen; aber man hat Weingeist und Essigsäure noch niemals in der eben erst geronnenen Milch, und ebenso wenig in dem bei Luftabschluß entstandenen Coagulum gesucht. Da überdieß die Mikrozymen und die daraus hervorgehenden Bakterien bei allen von mir studirten Gährungen Weingeist und Essigsäure erzeugen, selbst in Abwesenheit von Glycose, so mußte ich diese Verbindungen auch unter den Producten der Gerinnung der Milch finden. In der That traf ich außer Milchsäure beständig Weingeist und Essigsäure in merklicher Menge bei meinen Versuchen an, mochten nun die Mikrozymen in Bakterien schon übergegangen seyn oder noch nicht. Ich habe es mir sehr angelegen seyn lassen festzustellen daß dieser Weingeist Aethylalkohol ist; aber es entstand noch die Frage, ob die Milch auch im normalen Zustande Weingeist und Essigsäure enthält. Ferner erhob sich die Frage, ob das Caseïn oder eine andere albuminöse Materie vor, während oder nach der Gerinnung der Milch eine Veränderung erleidet. Ich habe zu beweisen gesucht, daß die Milch Mikrozymen enthält, welche durch einen physiologischen Act die Agentien der freiwilligen Gerinnung erzeugen. Aus der bekannten Thätigkeit der Mikrozymen im Allgemeinen habe ich geschlossen, daß die geronnene Milch außer der Milchsäure nothwendig Weingeist und Essigsäure enthalten muß; aber warum sollte denn die Milch diese beiden Substanzen nicht physiologisch enthalten? Ich will also den Beweis führen, daß die Kuhmilch schon bei ihrem Austritt aus dem Euter in der That die beiden genannten Substanzen enthält, und daß, indem dieselbe Ursache während der Coagulation und nachher fortwirkt, Weingeist und Essigsäure in der geronnenen Milch zunehmen müssen. Die frische Milch wird mit Oxalsäure in leichtem Ueberschuß versetzt, und unmittelbar darauf in einem Chlorcalciumbade der Destillation unterworfen, dessen Temperatur jedoch, zur Vermeidung des Entstehens zufälliger Producte, nicht über 120° C. steigen darf. Während dieser Operation ist die Bildung eines lästigen Schaumes nur schwer zu vermeiden; tritt derselbe auf, so setzt man dessenungeachtet die Destillation fort und entledigt sich desselben durch Rectification. Man zieht von der Milch 19/20 über. Das klare Destillat reagirt stets sauer; man übersättigt es mit kohlensaurem Natron, destillirt etwas mehr als 1/10 davon ab, und concentrirt dieses Destillat noch durch Rectificiren über kohlensaures Kali. Bereits geronnene Milch wird kolirt, der Käse ausgewaschen und sämmtliche Flüssigkeiten wie eben angegeben behandelt. Den Weingeist erkannte ich 1) an seiner Entzündlichkeit und Flammenfarbe; 2) an den Producten seiner Oxydation mittelst chromsaurem Kali und Schwefelsäure; 3) an der Bildung von krystallisirtem essigsaurem Natron; 4) an der Bildung und Zusammensetzung von essigsaurem Silberoxyd. In Bezug auf letzteres erhielt ich: bei 100° Cels. getrocknetes Silbersalz 0,236 Grm. nach dem Glühen zurückgebliebenes Silber 0,153   „ also 64,83 Proc. Silber, während die Rechnung 64,66 verlangt. Die Essigsäure wurde aus dem natronhaltigen Rückstande, von welchem der Weingeist abgezogen worden war, gewonnen; sie gab ein schön krystallisirtes Natronsalz, worin keine Spur einer in der Fettsäurereihe höheren Säure zu bemerken war. Dieselben Resultate in Bezug auf die Gegenwart von Weingeist und Essigsäure lieferte Milch, welche bei Abschluß der Luft von selbst geronnenwar. In diesem Falle erregte es besonders Interesse, nach Buttersäure oder anderen flüchtigen homologen Säuren, welche Producte der Zersetzung albuminöser Materien sind, zu suchen; doch war meine Mühe vergebens, denn ich erhielt nur Essigsäure. Nach diesen Ergebnissen unterließ ich auch nicht, in der durch Labmagen geronnenen Milch noch Weingeist und flüchtige Säuren zu suchen. Es wurde nämlich der Inhalt des vierten Magens zweier Lämmer mit Wasser verdünnt und die Flüssigkeit destillirt. Im Destillate fanden sich Weingeist, Essigsäure und Capronsäure. Um zu erfahren, ob es hier gestattet sey zu generalisiren, prüfte ich auch die Eselsmilch auf Weingeist und Essigsäure, und zwar ganz frisch in meiner Gegenwart gemolken. Das Resultat fiel wiederum bejahend aus. Man kann mithin wohl ohne Bedenken behaupten, daß die Milch aller Grasfresser Weingeist enthält. Es erübrigt nun noch, ihn in der Milch der Fleischfresser zu suchen. Es schien mir von Interesse, einige quantitative Bestimmungen des Weingeistes und der Essigsäure in frischer und in geronnener Milch auszuführen. I. 1,500 Kub. Cent. Kuhmilch lieferten: Weingeist ausgedrückt in Essigsäure 0,336 Grm., per Liter 0,224 Grm. Essigsäure 0,090   „  „       „ 0,060   „ II. 1,750 K. C. Kuhmilch lieferten: Weingeist ausgedrückt in Essigsäure 0,360 Grm., per Liter 0,205 Grm. Essigsäure 0,114   „  „      „ 0,065   „ III. 2,000 K. C. Milch einer anderen Kuh lieferten: Weingeist ausgedrückt in Essigsäure 0,042 Grm., per Liter 0,021 Grm. Essigsäure 0,282   „  „      „ 0,141   „ IV. 2,500 K. C. Milch derselben Kuh lieferten: Weingeist ausgedrückt in Essigsäure 0,090 Grm., per Liter 0,036 Grm. Essigsäure 0,102   „  „      „ 0,041   „ V. 800 K. C. Eselsmilch lieferten 30 K. C. Weingeist von 3,5 Proc. und 0,036 Grm. Essigsäure. Weingeist und Essigsäure schwanken also in der Milch in sehr weiten Grenzen, worauf ich später noch zurückkommen werde; aber ihre Quantität nimmt in der bei Abschluß der Luft geronnenen Milch beträchtlich zu, wie die beiden folgenden Versuche beweisen. I. In dem, drei Tage nach erfolgter Gerinnung von 1,700 K. C. Milch erhaltenen Serum befanden sich: Weingeist ausgedrückt in Essigsäure 0,45 Grm. Essigsäure 0,48   „ II. In dem, vierzehn Tage nach erfolgter Gerinnung von 1,690 K. C. Milch erhaltenen Serum befanden sich: Weingeist ausgedrückt in Essigsäure 0,62 Grm. Essigsäure 0,79   „ In dem ersten dieser beiden Fälle befanden sich die Mikrozymen im normalen Zustande; im zweiten waren sie zum Theil in Bakterien umgewandelt. Ich muß hier die bemerkenswerthe Thatsache hervorheben, daß in der durch Labmagen geronnenen Milch eine ebenso große Menge Bakterien vorkommt. Vorstehendem zufolge erzeugt also die Milch nicht nur beim Sauerwerden, sondern auch an und für sich schon Weingeist und Essigsäure. Ich wage nicht zu behaupten, daß der Weingeist in derselben Weise wie gewisse andere chemische Elemente der Milch ein Product der Schmelzung der Kügelchen ist, sondern glaube vielmehr, daß er sich in der Euterdrüse von einem Zuge zum anderen durch die Einwirkung der Mikrozymen auf die zuckerigen Materien der Milch erzeugt. Jedenfalls kommen Weingeist und Essigsäure darin nur in äußerst geringer Menge vor, sie nehmen aber außerhalb des Euters zu, und zwar ohne Einwirkung anderer organisirten Fermente als der Mikrozymen. Meine Arbeit liefert, wie mir scheint, einen wesentlichen Beitrag zu einer großen Generalisation. Schon früher wies ich Weingeist und Essigsäure in lebhaft geschüttelten Eiern, in der unversehrten sich selbst Verlassenen Leber, im menschlichen Harne u.s.w. nach. Die Mikrozymen jeglichen Ursprungs, welche ich studirt habe, nämlich die der Kreide und anderer Kalkverbindungen, die der Atmosphäre und des Straßenstaubes, die der Thiere und Pflanzen, besitzen sämmtlich die gleiche Fähigkeit, Weingeist und Essigsäure zu erzeugen, und zwar nicht nur mit zuckerbildenden Materien, sondern auch mit Substanzen welche sonst nicht in Zucker umgewandelt würden, wie die Weinsteinsäure, Citronensäure, Schleimsäure, Milchsäure etc. In den reifenden Früchten sind es dieselben Mikrozymen, welche Weingeist und Essigsäure bilden, die man so leicht darin nachweisen kann, und die darin in noch größerer Menge auftreten, wenn man, indem man sie zerquetscht, die Zellen zerreißt und dadurch die in ihnen enthaltenen Mikrozymen in unmittelbarere Berührung mit den Säften bringt – ein Gegenstand, den ich künftig noch ausführlicher behandeln werde. Liebig und viele Physiologen schreiben der Zersetzung der albuminösen Materie bei den Erscheinungen der Gährung eine bedeutende Rolle zu, ohne wissenschaftlich festzustellen, worin diese Zersetzung besteht. Das sind aber ganz irrige Ansichten. Ich habe bereits nachgewiesen, daß bei der Gährung der Eier die albuminöse Materie gar keine Veränderung erleidet; und später werde ich zeigen, daß beim Sauerwerden der Milch das Caseïn und die andere albuminöse Materie unverändert bleiben. Hier will ich nur noch bemerken, daß es mir gelungen ist, die rotatorische Kraft des Caseïns zu bestimmen, und daß dieselbe das Vierfache des Albumins beträgt. Aber das Caseïn der geronnenen und das der frischen Milch besitzen gleiches Rotationsvermögen.