Titel: Ueber Melassenbildung; von E. Friedr. Anthon in Prag.
Autor: Ernst Friedrich Anthon [GND]
Fundstelle: Band 212, Jahrgang 1874, Nr. LXXIX., S. 414
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LXXIX. Ueber Melassenbildung; von E. Friedr. Anthon in Prag. Anthon, über Melassenbildung. Noch immer sind die Chemiker nicht gleicher Ansicht darüber, was man unter „melassenbildend“ zu verstehen habe. Die einen nehmen an – gestützt auf die Thatsache, daß manche Salze (z.B. Salpeter) neben Zucker, wenn beide allein in Lösung vorhanden sind, bis auf die letzten Theile neben einander krystallisiren, ohne Melasse zurückzulassen –, daß krystallisirbare Salze keine Melassenbildner seien und betrachten als solche nur nicht krystallisirbare organische Stoffe als gummöse, Farb-, Extractiv-Stoffe etc. Andere dagegen betrachten die Salze so entschieden als eigentliche Melassenbildner, daß geradezu die gegenwärtig übliche Rendements-Berechnung bei Untersuchung des Zuckers nur auf dieser Ansicht basirt, indem bekanntlich dieser Berechnung die Annahme zu Grunde liegt, daß 1 Theil Salz 5 Theile Zucker in Melasse überführe – eine Annahme, welche jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt und für Rübenzuckerproducte nur zufällig annähernd richtig ist. Wieder andere nehmen alle neben dem Zucker vorhandenen und in Wasser oder Zuckerlösung löslichen Stoffe als melassenbildend an ohne Rücksicht darauf, ob solche organischer oder anorganischer Abstammung sind, und endlich gruppiren viele Chemiker die „Nichtzuckerbestandtheile“ in a: melassenbildende; b: indifferente und c: der Melassenbildung entgegenwirkende. Zur Berichtigung dieser heterogenen Ansichten, von denen einzig und allein nur die dritte ihre volle Berechtigung hat, sei folgende Thatsache mitgetheilt. Daß das Chlorcalcium die Eigenschaft hat, in mäßiger Menge zugesetzt, die Löslichkeit des Rohrzuckers in Wasser zu vermindern und in Folge dessen in einer bei gewöhnlicher Temperatur gesättigten Zuckerlösung eine namhafte Menge Zucker zum Auskrystallisiren zu veranlassen ist vollkommen sichergestellt. Nun aber kommt umgekehrt demselben Salze, wenn es in größerer Menge der Zuckerlösung zugesetzt wird, auch die Eigenschaft zu, in Ueberschuß gelösten Zucker derart am Krystallisiren zu verhindern, daß selbst nach sehr langer Zeit kein Zucker auskrystallisirt. Eine Lösung von 100 bis 110 Theilen Zucker und 8 bis 12 Theilen trockenes Chlorcalcium in 50 Theilen Wasser setzt beim Erkalten und Stehenlassen leicht und in ziemlich reichlicher Menge Zucker in Krystallen ab. Umgekehrt liefert eine Lösung von 50 Theilen Zucker und etwa 85 Theilen trockenes Chlorcalcium in 100 Theilen Wasser eine Lösung, die bei hinlänglichem Abkühlen sehr leicht schön krystallisirtes Chlorcalcium absetzt. Das erste Beispiel zeigt, daß das Chlorcalcium unter Umständen die Krystallisation des Zuckers nicht verhindert, während das zweite den Beweis dafür liefert, daß auch das Chlorcalcium aus Zuckerlösung sich in Krystallen auszuscheiden vermag, der Zucker seine Krystallisirbarkeit somit nicht aufhebt. Diesen beiden Thatsachen für sich allein betrachtet, berechtigen zu der Annahme, daß das Chlorcalcium nicht melassenbildend sei. Wenn man dagegen eine warm bereitete Lösung von 110 Theilen Zucker und 38 bis 40 Theilen ganz trockenes Chlorcalcium in 50 Theilen Wasser stehen und erkalten läßt, so nimmt diese Lösung sehr bald eine dicke, melassenähnliche Beschaffenheit an; es scheidet sich selbst nach jahrelangem Stehen aus derselben nicht die geringste Menge Zucker aus. Diese Lösung erscheint überhaupt so melassenähnlich, daß Jedermann dieselbe für Melasse halten würde, wenn man sie mit ein wenig Caramel braun färben wollte. Es würde denn auch Niemanden gelingen, aus derselben den Zucker fabrikmäßig wieder zu gewinnen, trotzdem neben dem Zucker nur ein Stoff vorhanden ist, der von manchen Chemikern als entschieden nicht melassenbildend, von anderen sogar als die Zuckergewinnung unterstützend angesehen wird. Zwischen diesen beiden Grenzen und Gegensätzen im Verhalten des Chlorcalciums zum Zucker, nämlich zwischen der Beförderung und der gänzlichen Verhinderung der Krystallisation des Zuckers, muß selbstverständlich das Chlorcalcium, bei einer bestimmten Menge desselben, sich dem Zucker gegenüber auch vollständig indifferent verhalten. Damit ist nun dargethan, daß ein und derselbe Stoff melassenbildend, dann indifferent und endlich auch der Melassenbildung entgegenwirkend, d.h. die Zuckerausscheidung begünstigend sein kann. Eine Gruppirung der Nichtzuckerbestandtheile nach diesem Verhalten ist demnach durchaus unzulässig, indem ja dann z.B. das Chlorcalcium allen drei Gruppen eingereiht werden müßte. Daß das Chlorcalcium – obgleich ein krystallisirbares Salz – dennoch unter den bemerkten Verhältnissen nicht blos überhaupt melassenbildend, sondern dieses sogar in noch höherem Grade sein kann als manche andere fremde Stoffe, beweist die Thatsache, daß schon 38 Theile desselben 110 Theile Zucker (also schon bei einem Zuckerquotienten von circa 74) in Melasse umwandeln, während in der normalen Melasse 38 Th. Nichtzucker nur 63 bis 64 Th. Zucker am Krystallisiren verhindern (somit bei einem Quotienten von 62,25). Daß diese melassenbildende Eigenschaft des Chlorcalciums nicht auf einem chemischen sondern nur physikalischen Grund beruht, bedarf wohl keines weiteren Beweises. Es tritt dieselbe unverkennbar erst dann hervor, wenn die Menge des Chlorcalciums so groß ist, daß dadurch die Zuckerlösung zäh und schwer oder gar unbeweglich wird. Bei Gegenwart von weniger Chlorcalcium, wird dieses deshalb nicht verhindert, seine die Löslichkeit des Zuckers herabmindernde Kraft zur Geltung zu bringen, weil die Lösung genügend dünnflüssig ist um krystallisiren zu können. Nach dem Mitgetheilten wirken die Salze entschieden mit als Melassenbildner wie jeder andere neben dem Zucker in Lösung vorhandene Stoff. Das oben angeführte Beispiel mit dem Salpeter wiederlegt diese Angabe nicht, indem in der Zuckerfabrikation Lösungen ausgeschlossen bleiben, welche neben Zucker blos ein krystallisirbares Salz enthalten. In der Melasse trägt jeder fremde Stoff, wenn auch in ungleichem Grade, offenbar zum Dick- und Zähwerden bei, vermehrt so die Menge der werdenden Melasse, vergrößert also den Zuckerverlust. Diese Wirkung wird aber gewiß nur in sehr seltenen Fällen – wenn überhaupt solche nachzuweisen sind – eine chemische sein und auf der Bildung von unkrystallisirbaren oder überhaupt von chemischen Verbindungen zwischen Zucker und anderen Stoffen beruhen, sondern auf der bloßen Gegenwart der letzteren und zwar in deren Gesammtheit, wie es auch bei den Mutterlaugen in den chemischen Fabriken der Fall ist. Die Melasse ist die „Mutterlauge“ der Zuckerfabriken. Für das Nichtvorhandensein von chemischen Verbindungen zwischen Zucker und anderen Stoffen – oder doch deren blos untergeordnetes Auftreten – spricht nicht nur die normale Beschaffenheit der Melasse (50 Zucker, 30 Nichtzucker und 20 Wasser), in welcher der Zucker dem Wasser gegenüber, also nicht in großem Ueberschuß vorhanden ist, sondern auch die von mir in diesem Journal (Jahrgang 1868 Bd. CLXXXIX S. 242) constatirte Thatsache, daß der in der Melasse in Ueberschuß gelöste Zucker zum Auskrystallisiren gebracht wird, wenn man derselben ihre Zähflüssigkeit nimmt. Dieser Ueberschuß von Zucker ist demnach in freiem Zustand und nicht als chemische Verbindung in der Melasse vorhanden.