Titel: | Ueber die Ammoniak-Soda auf der Centennial-Weltausstellung in Philadelphia 1876; von Rudolf v. Wagner. |
Autor: | Rudolph Wagner |
Fundstelle: | Band 222, Jahrgang 1876, S. 78 |
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Ueber die Ammoniak-Soda auf der
Centennial-Weltausstellung in Philadelphia 1876; von Rudolf v. Wagner.
v. Wagner, über die Ammoniaksoda etc.
Als ich im Herbste 1873 nach meiner Rückkehr von den Juryarbeiten auf dem Marsfelde
in Wien meine Beobachtungen auf dem Gebiete der chemischen Großindustrie
veröffentlichte und insbesondere über den damaligen Zustand der
Soda-Industrie mich aussprach, da war ich der festen Ueberzeugung, daß die in
Wien zum ersten Male als Industrieproduct aufgetretene Ammoniak-Soda zu den
beachtenswerthesten Ausstellungsobjecten der chemischen Abtheilung gehöre, und daß
deren Fabrikation binnen kurzer Zeit „eine Umwälzung in dem Verfahren der
Sodafabrikation“ bewirken würde (vgl. 1873 209 282). Der nämlichen Ansicht waren viele meiner damaligen Jurycollegen,
namentlich die Männer der Praxis, von denen ich außer Emil Kopp in Zürich, dem wohl kein Fachmann gründliche Kenntnisse der
wirthschaftlichen Seite der Sodafabrikation absprechen wird, nur die Industriellen
F. Kuhlmann in Lille, Dr. Kunheim in Berlin und Emil Seybel in Liesing bei Wien nenne.
Im Hinblick auf die Mißerfolge des neuen Sodaverfahrens in mehreren chemischen
Fabriken des deutschen Reiches ist dem Wiener Preisgericht, und nicht in letzter
Linie mir, von verschiedenen Seiten vorgeworfen worden, daß der Ammoniakproceß und
dessen Bedeutung für die chemische Industrie von uns in allzu rosigem Lichte gesehen
und geschildert worden sei. Ich habe stets, wo es möglich war, diese Vorwürfe als
völlig unbegründet zurückgewiesen und das Nichtprosperiren des neuen Processes durch
seine Jugend und mangelnde Erfahrung und zum Theil durch die verfehlte Wahl der
Persönlichkeiten, die zur Einführung des jungen Verfahrens auserlesen waren, zu
erklären versucht. Mein Glaube an die Zukunft des Ammoniak-Sodaprocesses
wurde durch alle diese
Vorwürfe und Nichterfolge um so weniger erschüttert, als thatsächlich in
außerdeutschen Ländern mit großem finanziellen Erfolge die neue Sodasorte
dargestellt und in wachsender Progression in das deutsche Zollgebiet eingeführt und
verbraucht wird. Nichts desto weniger war es von hohem Interesse, den Stand der
Dinge genau zu erforschen, und dazu bot sich nun die beste Gelegenheit in der
chemischen Abtheilung der Centennialausstellung in Philadelphia dar.
Das, was ich in den nachstehenden Zeilen gebe, ist das Ergebniß mündlicher und
schriftlicher Mittheilungen über die neue Soda und der Wahrnehmungen, die ich
während der zweimonatlichen Arbeiten des chemischen Preisgerichtes in dem
„Judges-Pavilion“ an den Ufern des Schuylkill zu
machen Gelegenheit hatte.
In den Vereinigten Staaten ist das Ammoniak-Sodaverfahren, obgleich bereits 2
oder 3 Patente in dem „Patent-Office“ in Washington auf
den Proceß ertheilt worden sind, in den großindustriellen Kreisen New-Yorks
und Philadelphia's so gut wie unbekannt, dagegen waren in dem
„Mainbuilding“ der Centennialausstellung fünf Aussteller von Ammoniak-Soda vorhanden,
nämlich:
1) Solvay und Comp. in Couillet
in Belgien (Director der Fabrik ist Alfred Solvay; die
Administration befindet sich in Brüssel, Rue Prince Albert Nr. 33);
2) Solvay und Comp. in
Varangéville-Dombasle, Departement Meurthe-et-Moselle,
Frankreich (Director der Fabrik ist Prosper Hanrez);
3) Brunner, Mond und Comp. in
Northwich, England;
4) Richards, Kearn und Gasquoine in Sandbach, England;
5) M. Honigmann in Grevenberg bei Aachen.
Bezüglich der Geschichte des neuen Sodaverfahrens seien folgende Notizen
vorausgeschickt, die auf Zuverlässigkeit Anspruch machen und einige Irrthümer, die
sich in die neue Literatur eingeschlichen haben, berichtigen werden.
Wenngleich die Zersetzung einer concentrirten Kochsalzlösung durch Ammondicarbonat in
den Laboratorien vielfach vor langer Zeit schon beobachtet worden sein mag, so waren
doch die beiden Engländer Harrison Dyar und John Hemming
Die hier und da z.B. in Leuchs' und Landolt's Schilderungen der Sodafabrikation sich
findende Angabe, daß Hemming, Gray, Dyar und Harrison die Patentträger seien, ist irrig und
lediglich eine Folge der Verwechslung der Eigennamen und Bornamen der
wirklichen Patentinhaber. die ersten, welche die industrielle Tragweite dieser Reaction erkannten und
ein darauf sich gründendes Sodadarstellungsverfahren im J. 1838 patentiren ließen.
Das neue Verfahren machte sofort bei seinem Bekanntwerden in Deutschland und in
Oesterreich großes Aufsehen, und im Anfange der vierziger Jahre wurden in der Kunheim'schen Fabrik am Kreuzberg in Berlin, so wie bei
E. Seybel in Liesing Versuche zur Einführung der neuen
Methode angestellt. Die Sache war aber damals noch nicht reif, es fehlte an Ammoniak
und es gebrach an den maschinellen Vorrichtungen, welche die moderne Machinofactur
dem chemischen Fabrikanten liefert. Entmuthigend wirkten ferner die Resultate der
von Anthon in Prag im J. 1840 ausgeführten Arbeiten über
den neuen Sodaproceß, nach welchem ein beträchtlicher Theil Kochsalz unzersetzt
bleibe – eine, wie sich später ergab, nicht stichhaltige Behauptung. In
Frankreich ließ sich Delaunay im J. 1839 ein Brevet auf
den Ammoniakproceß ertheilen. Es ist jedoch Grund zur Vermuthung vorhanden, daß der
Genannte keineswegs ein Erfinder der neuen Methode, sondern nur der Repräsentant der
englischen Patentinhaber war.
Von dieser Zeit an war das neue Sodaverfahren Object zahlreicher Patente in England
und Frankreich, deren Träger die Ehre der Erfindung für sich beanspruchten. Es ist
nicht auffallend, daß die meisten der von den ersten Erfindern angestellten Versuche
resultatlos blieben. Obgleich die dem neuen Verfahren zu Grunde liegende chemische
Reaction einfach ist und so leicht ausführbar erscheint, ist doch der Proceß im
Großen mit unsäglichen Schwierigkeiten verknüpft, und um sich diesen Umstand klar zu
machen, braucht man sich blos dessen zu erinnern, daß die hervorragendsten Praktiker
auf dem Gebiete der chemischen Technik den Ammoniakproceß, obwohl ohne jeglichen
Erfolg, in die Großindustrie einzuführen suchten. Ich nenne aus dieser Epoche nur
Muspratt, W. Gossage, Th.
Schloesing, E. Rolland,
Deacon u.s.w. Türck gründete eine Sodafabrik zu
Sommervillers, welche nach dem neuen Verfahren arbeitete, Schloesing und Rolland im J. 1855 die bekannte
Fabrik zu Puteaux bei Paris; die englische Käuferin des Patentes von Dyar und Hemming legte eine
Sodafabrik in der Grafschaft Cheshire an; Deacon befaß in
Gemeinschaft mit W. Gossage eine 1855 angelegte Fabrik in
Widnes, Brooker eine gleiche in Leeds und Muspratt
sen. endlich, der nämliche, welcher s. Z. den
Leblancproceß in England eingeführt hatte, verausgabte gegen das J. 1850 erhebliche
Summen, um den Ammoniakproceß auf seiner Fabrik in Newston (Lancashire) einzuführen.
An diese erfolglosen Versuche schließen sich die oben erwähnten in Deutschland und
Oesterreich an, so wie aus dem J. 1842 eine vorübergehende Fabrikation zu Vilvorde
bei Brüssel.
Erst im J. 1863 nahm Ernst Solvay ein Patent, dessen
Schwerpunkt weniger in der chemischen Seite des Verfahrens, als vielmehr in den
eigenthümlichen Apparaten und Vorrichtungen lag. Er errichtete mit seinem Bruder
Alfred Solvay eine kleine Sodafabrik zu
Saint-Josse-ten-Node bei Brüssel, in welcher mit solchen
Erfolgen gearbeitet wurde, daß die Gründung der großen Fabrik zu Couillet bei
Charleroi (Hennegau, Belgien) in Angriff genommen werden konnte. Es vergingen jedoch
Jahre, bevor ein regelmäßiger Gang der Fabrikation erzielt wurde. Dank der Energie
der Gebrüder Solvay ist heute das neue Verfahren chemisch
und mechanisch so weit ausgebildet, daß es in Bälde den Leblancproceß an vielen
Orten unmöglich machen wird. Ich nehme daher keinen Anstand, für das neue und
berühmte Sodaverfahren den Namen „Solvayproceß“ in Vorschlag zu bringen.
Ueber die Fabriken, in welchen Soda nach dem neuen Verfahren dargestellt wird, kann
ich auf Grund der den Preisrichtern in Philadelphia vorgelegten Schriften, Gutachten
und Briefe, folgende Details geben:
1) Die Fabrik in Couillet (Solvay und Comp.), ursprünglich auf eine Jahresproduction von
1500000k berechnet, ist nach und nach
derart erweitert worden, daß die gegenwärtige Production an Soda 5000000k (= 100000 Ctr.) beträgt. Die Erzeugung
von Natriumbicarbonat ist keine erhebliche, doch richtet sich die Fabrik auf eine
größere Production ein. Als Nebenproduct tritt Chlorcalcium in der Menge von
500000k auf. Die Fabrik liegt zwischen
dem canalisirten Sambre und der belgischen Staatsbahn, und diese Lage würde eine in
gewerblicher Hinsicht vollkommene genannt werden müssen, wenn Belgien Steinsalz
producirte. Da dies nun nicht der Fall ist und das erforderliche Salz aus England
oder Frankreich bezogen werden muß, so lag es nahe, eine Fabrik auf französischem
Boden anzulegen.
2) Die Fabrik in Varangéville (Departement Meurthe-et-Moselle)
liegt zwischen dem Marne-Rhein-Canal und der Ostbahn, unweit Ranzig
und Lunéville und nicht allzufern von der deutschen Reichsgrenze. Sie ist auf
dem großen lothringischen Salzlager errichtet, und hat in industrieller Hinsicht
eine unvergleichliche Lage. Das der Fabrik gehörige Terrain gestattet eine
Einrichtung für eine Jahresproduction von 30000000k (= 600000 Ctr.) Soda. In diesem Stadium
der Erweiterung würde sie die größte Sodafabrik der Welt sein. Vor der Hand
producirt sie 300000 Ctr. Soda und beschäftigt 500 Arbeiter.
3) Die Fabrik von Brunner, Mond und Comp. in Northwich (England) arbeitet gleichfalls nach dem Solvayproceß.
Ueber die Größe der Production dieser Fabrik ist nichts bekannt. Das nämliche
gilt
4) von der Fabrik von Richards, Kearn und Gasquoine, von der in Philadelphia behauptet wurde, daß
die ausgestellten Producte (Soda und Bicarbonat) aus der Fabrik in Couillet
stammten;
5) die Fabrik von Moritz Honigmann in Grevenberg bei
Aachen hatte, wie bereits 1873 in Wien, auch in Philadelphia Soda und Bicarbonat
nach dem Ammoniakproceß (aber nicht nach dem Solvay'schen
Verfahren) erhalten, ausgestellt. Mit dem Namen des Inhabers der Fabrik ist die
Entwicklung des Ammoniakverfahrens im deutschen Reich innig verknüpft, insofern er
die Veranlassung gab, daß an mehreren Orten in Deutschland Sodafabriken, nach Honigmann's Verfahren arbeitend, eingerichtet wurden. Von
vielen neuen chemischen Processen kann man mit demselben Rechte wie von den Büchern
sagen: „habeat sua fata“. Es darf
daher nicht Wunder nehmen, daß mehrere von den neu errichteten Fabriken nicht nur
nicht prosperirten, sondern, was am meisten Zu beklagen war, das neue Verfahren in
Mißcredit brachten! Mir ist eine süddeutsche Fabrik bekannt, die nach dem
Ammoniakverfahren Soda fabriciren wollte, durch die negativen Ergebnisse aber
dergestalt den Muth verlor, daß sie, das Kind mit dem Bade ausschüttend, zum
Leblancproceß überging.
Nach einem mir vorliegenden Gutachten von Dr. Adolf Gurlt vom 4. Juni 1876 producirte die Sodafabrik in
Grevenberg in regelmäßigem Betriebe täglich 70 bis 80 Ctr. calcinirter Soda mit
einem Gehalte von über 98 Proc. Natriumcarbonat (was einer jährlichen Production von
25000 bis 28000 Ctr. entspräche).
In Kasan (Rußland) schien das neue Verfahren gleichfalls Wurzel fassen zu wollen,
doch arbeitet, nach einer mir durch Hrn. Solvay (vom 27.
Mai 1876) zugegangenen Notiz, die Fabrik seit Jahren nicht mehr. Die Fabrik im
Nagy-Bocsko in der Marmaros in Ungarn soll ebenfalls nicht mehr im Betriebe
sein, die große, mit bedeutendem Geldaufwands angelegte Fabrik in Wyhlen in Baden
ebenfalls. Von einer andern deutschen Fabrik, die noch jetzt arbeitet, behauptet
man, daß sie belgische Soda aus Couillet beziehe und als ihr Product verkaufe.
Angesichts dieser Resultate muß man zugeben, daß das neue Verfahren (nach Honigmann) mit einer oder höchstens zwei Ausnahmen im
deutschen Reiche und in Oesterreich-Ungarn bis heute noch keine Wurzel gefaßt
hat, und daß die deutsche Industrie bezüglich des zukunftsvollen
Ammoniak-Sodaprocesses vom Zollausland bedeutend überholt worden ist.
Neben Honigmann hat sich ein anderer deutscher Ingenieur,
Moritz Gerstenhöfer, seit Jahren eingehend mit dem
Ammoniak-Sodaprocesse und dessen Vervollkommnung beschäftigt. Es macht mir
Freude, constatiren
zu können, daß, wie mir aus zuverlässiger Quelle mitgetheilt wird, die chemische
Großindustrie Deutschlands, weit entfernt, durch die ungünstigen Resultate
entmuthigt zu sein, mit Energie daran denkt, das Ammoniak-Sodaverfahren in
modificirter Form einzuführen. Wie ich höre, wird der neue Proceß bald in Trotha bei
Halle, in Buckau, in Linden bei Hannover, bei der Silesia, in der Seybel'schen Fabrik in Liesing bei Wien und in Griesheim
zur Ausführung kommen.
Was den Chemismus des Ammoniak-Sodaprocesses betrifft, so wendet man in allen
Fabriken, die nach dem neuen Verfahren arbeiten, zur Regeneration des Ammoniaks
Aetzkalk an. Die Verwendung des gebrannten Magnesites an Stelle des Kalkes ist im
Großen nirgends in Anwendung gekommen, da die in Aussicht gestellte Verarbeitung des
abfallenden Chlormagnesiums auf Salzsäure und Magnesia sich als unausführbar
erwiesen hat. Allerdings bleibt zur Vervollkommnung des
Ammoniak-Sodaprocesses noch die für die Rentabilität der Fabrik
bedeutungsvolle Frage nach zweckmäßiger Verwendung des für sich werthlosen
Chlorcalciums zu lösen – eine Frage, deren Beantwortung jedoch nicht hierher
gehört.
In Anbetracht der großen Reinheit und Weiße der Ammoniaksoda wird sie in vielen
Fällen in der Industrie bereits der Leblanc-Soda vorgezogen, ja sogar, wie in
gewissen Zweigen der Glasfabrikation, anstatt des Natriumsulfats angewendet.
Ich kann meine Notizen über die Ammoniaksoda nicht schließen, ohne auch der nach dem
Verfahren von Hr. de Grousilliers
Vergl. A. W. Hofmann: Die chemische Industrie auf
der Wiener Weltausstellung. Braunschweig 1875 S. 455. dargestellten Alkalicarbonate zu gedenken, obgleich dieselben auf der
transatlantischen Ausstellung nicht vorhanden waren. Ich darf wohl beiläufig
bemerken, daß ich es war, welcher Hrn. de Grousilliers im
März 1873 während meines Aufenthaltes in Berlin veranlaßte, seine Versuche
fortzusetzen und sein Verfahren sich patentiren zu lassen. Trotz aller Bemühungen
und der von W. Siemens construirten Apparate, wodurch der
Betrieb ein continuirlicher und der Alkoholverlust auf ein Minimum reducirt wird,
ist das Alkoholverfahren nicht in die Praxis übergangen und hat gegenüber dem
vervollkommneten Solvayproceß vor der Hand nicht die geringste Aussicht, von der
genau calculirenden chemischen Großindustrie adoptirt zu werden. Für die Herstellung
von chemisch reinem Kaliumcarbonat und Kaliumbicarbonat ist es jedoch aller
Beachtung werth.
Würzburg, 18. September 1876.