Titel: Ueber die Beseitigung und Ausnutzung der städtischen Canalwässer.
Fundstelle: Band 223, Jahrgang 1877, S. 215
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Ueber die Beseitigung und Ausnutzung der städtischen Canalwässer. Ueber die Beseitigung und Ausnutzung der städtischen Canalwässer. Die vierte Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Düsseldorf am 29. Juni bis 1. Juli 1876 verhandelte am 1. Sitzungstage über die technischen Gesichtspunkte, welche für die Unschädlichmachung und Ausnutzung des städtischen Canalwassers in sanitärer, landwirthschaftlicher und nationalökonomischer Beziehung maßgebend sein müssen. Nach den soeben an die Mitglieder des Vereins versendeten Sitzungsberichten wurden die von Prof. Dünkelberg und Ingenieur Bürkli vorgeschlagenen Thesen schließlich in folgender Fassung angenommen: 1. Die directe Ableitung des städtischen Canalwassers in fließende Gewässer ist, sei es, daß sämmtliche menschliche Excrete in dasselbe gelangen oder nicht, in der Regel aus sanitären Gründen bedenklich. Wieweit dieselbe nach der Wassermenge, Geschwindigkeit, geologischen Beschaffenheit der Flüsse etc. zu gestatten sei, sollte baldmöglichst durch exacte, gesetzliche Normen festgestellt werden. Zur Vorbereitung der letztern beantragt der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege beim Reichsgesundheitsamt systematische Untersuchungen an den deutschen Flüssen. Immer aber ist diese Einleitung als ein volkswirthschaftlicher Nachtheil zu kennzeichnen. 2. Die Berieselung geeigneter, mit Kulturpflanzen bestandener Ländereien ist – eine rationelle Anwendung technisch richtiger Principien vorausgesetzt – erfahrungsgemäß das einfachste und durchschlagendste Mittel, das Canalwasser sanitär unschädlich zu machen und es gleichzeitig zu Gunsten der Interessenten landwirthschaftlich in befriedigendem Maße auszunutzen. 3. Bei der öfters vorliegenden Schwierigkeit der Erwerbung eines Rieselfeldes in passender Lage zur Stadt erwächst den Regierungen, welche die Städte mit der Obsorge für die sanitären Interessen belasten, gleichzeitig die Verpflichtung, denselben auch das Expropriationsrecht für die erforderlichen Maßnahmen soweit als nöthig zu gewähren. Betreffs des Düngerwerthes der Canalwässer hat Prof. Nowacki für Zürich mit 50000 Einwohnern berechnet, daß der Düngerwerth des blosen Abwassers, mit Ausschluß der Excremente, jährlich 970000 M. beträgt, der aus den Tonnen der Stadt Zürich fortfließende Harn aber nur 100000 M. werth ist. Die menschlichen Excremente machen demnach selbst in Städten mit Schwemmsystem nur einen verhältnißmäßig geringen Theil der Verunreinigung der Canalwässer aus (vgl. 1873 210 149). Oberbürgermeister v. Winter bestätigt, daß nach den nunmehr fünfjährigen Erfahrungen mit den Danziger Rieselfeldern in sanitärer Beziehung die Berieselung unzweifelhaft ein durchaus wirksames Mittel sei, um das städtische Abflußwasser unschädlich zu machen. Nicht minder werde das Canalwasser auch landwirthschaftlich in befriedigender Weise ausgenutzt. Wenn für 1ha Dünensand der eben erst planirt sei und zum ersten Male mit Canalwasser berieselt werde, jährlich eine Pacht von 140 M. und für die gleiche Fläche Landes, wenn sie schon seit einigen Jahren in Betrieb sei, 240 M. Pacht bezahlt würde, wie dies in Danzig jetzt der Fall sei, so könne man in Westpreußen mit solchen landwirthschaftlichen Erträgen aus dem Dünensand wohl zufrieden sein (vgl. 1874 211 222). Ueber die folgenden Thesen fand keine Discussion statt. 4. Bei der Wahl des Rieselfeldes ist im sanitären Interesse die Filtrirfahigkeit seines Bodens und Untergrundes in erster Linie maßgebend und diese auf Sand und sandigem Lehm am meisten gesichert, wie auch die wünschenswerthe Absorptionskraft des Bodens bei Sand durch Berieselung mit Canalwasser in relativ kurzer Zeit hergestellt wird. Wo dergleichen Bodenarten nicht vorliegen, ist die nöthige Durchlassenheit künstlich, durch Drainage und Tiefcultur, herzustellen. 5. Für die Einrichtung der Bewässerung muß behufs der Wahrung der sanitären Interessen sowohl als auch der Sicherung von Maximalerträgen pro Flächeneinheit der Gesichtspunkt leitend sein, daß eine gleichmäßige und relativ ausgedehnte Verbreitung des Canalwassers in dünner Schicht nur bei lebendiger Bewegung des Wassers über die Rieselfläche hin und bei intermittirender Anwendung desselben sicher und nachhaltig erreicht werden kann. Für die Großcultur auf Ackerland und Wiese sind starke Flächengefälle (d.h. 4 bis 5 und mehr Proc.), einerlei ob Hang- oder Rückenbau angewendet wird, zur Sicherung der günstigsten Resultate erforderlich. Für die Gartencultur und deren übliche wiederholte Bodenlockerung, wie auch der kürzeren Dauer der Bewässerung wegen, sind geringere Gefällgroßen zulässig. 6. Zur Sicherung der sanitären Zwecke, welche eine rasche Zersetzung der organischen Bestandtheile des Canalwassers und deren Ueberführung in unorganische Verbindungen erfordern, darf auf ausgesprochen durchlassendem Boden die in 24 Stunden ausfließende Wassermenge für 1cbm filtrirendes Erdvolum 30 bis 40l bei periodischer Anwendung in der Regel nicht übersteigen und sollte für wenig durchlässigen Boden entsprechend geringer genommen werden. Im landwirthschaftlichen Interesse ist ein weit kleineres Wasservolum, welches dem Feuchtigkeits- und Düngerbedürfniß der angebauten Gewächse erfahrungsgemäß anzupassen ist, angezeigt. In beiden Fällen ist zu verlangen, daß der etwaige Grundwasserstand mindestens 1,5 bis 2m von der Oberfläche entfernt bleibt, indem mit der größeren Tiefe der filtrirenden und absorbirenden Erdschicht die Reinhaltung des Grundwassers mehr gesichert erscheint. 7. Die Bewässerung ist so zu handhaben, daß das aufgeleitete Canalwasser nicht nur nach dem Bodenvolum und der Fläche richtig bemessen, sondern auch in steten Contact mit den Wurzeln vegitirender Pflanzen gebracht und nur ausnahmsweise auf Brachland verwendet wird. Für die Winterberieselung sind daher besonders Wiesen und Grasfelder vorzusehen, um auch in dieser Zeit die vereinigte Action des Bodens und der Pflanzen für die Reinigung des Canalwassers zu beanspruchen. 8. Die größten Reinerträge können, außer auf Wiesen und mit italienischem Raygras angebauten Feldern, durch rationelle Gartencultur und zwar durch den Anbau von Gemüse und Obstbäumen erzielt werden. Der Getreidebau kann nur in untergeordneter Weise und soweit es der Fruchtwechsel bedingt, in Betracht kommen. 9. Die Beschaffung des Rieselterrains seitens der Communen und dessen Verpachtung empfiehlt sich vor Allem und namentlich da, wo es an Landbesitzern fehlt, welche das nöthige Terrain zur Disposition stellen und einen entsprechenden Preis für das Canalwasser bezahlen, außerdem aber auch die erforderliche Sicherheit für exacte Durchführung der Bewässerung bieten können. Jedenfalls ist die erste Erstellung der Bewässerungsanlage und die Ueberwachung der Vertheilung des Wassers gegen entsprechende Entschädigung seitens der Nutznießer durch die Stadt zu bewirken. Die Selbstbewirthschaftung ist nur in Ausnahmefällen anzurathen. Zu letzterer These bemerkt Dünkelberg noch Folgendes: Es kann den Magistraten großer Städte nicht wohl angemuthet werden, sich mit der steten Selbstbewirthschaftung eines Rieselfeldes zu befassen, oder es werden doch die Reinerträge desselben stets hinter denjenigen zurückbleiben, welche der Private als Pächter auf denselben erzielt. Es ist über diese erfahrungsmäßig feststehende Thatsache kein Wort weiter zu verlieren. Dies schließt aber die Nothwendigkeit und Verbindlichkeit nicht aus, daß das Rieselfeld von den städtischen Verwaltungen beschafft und eingerichtet werden muß, wenn nicht paffend gelegene und genügend große Privatgrundstücke für diesen Zweck gegen angemessene Entschädigung für das gelieferte Canalwasser offerirt und den Communalverwaltungen das Recht eingeräumt wird, die exacte Verwendung und Reinigung des Canalwassers zu überwachen und zu beeinflussen, damit vorweg und unter allen Umständen der sanitäre Zweck erreicht und dauernd gesichert wird. Und selbst bei der Benutzung von Privatländereien als Rieselfeld ist die erste Anlage der Bewässerung, auf welche nach dem oben erwähnten so viel ankommt, unbedingt von den städtischen Behörden wenn nicht zu bewirken, so doch dahin zu beeinflussen, daß die Anlagen durch einen tüchtigen Techniker hergestellt werden. Denn es ist leider eine feststehende Thatsache, daß die deutschen Landwirthe im großen Ganzen in Bewässerungsanlagen zu wenig Erfahrung und Uebung haben, als daß man denselben die selbständige Einrichtung der Rieselfelder für Canalwasser irgendwie überlassen dürfte. Mit der Zeit, und wenn erst größere derartige Anlagen bei uns länger bestehen, wird sich dieser Zustand verändern und verbessern und dann eine Zeit kommen, wo solche Rieselfelder zu Preisen verpachtet werden können, daß die Einnahmen daraus einen wesentlichen Posten in dem Budget der Städte bilden. Erst dann werden die Einreden der Gegner völlig verstummen. Diesen Beschlüssen entsprechend hat dann der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege an das Reichsgesundheitsamt folgende Eingabe gerichtet: „Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hat in seiner Generalversammlung zu Düsseldorf am 29. Juni dieses Jahres die Ansicht ausgesprochen, daß systematische Untersuchungen über die Verunreinigung der Flüsse in Deutschland dringend wünschenswerth seien, um darauf hin exacte gesetzliche Bestimmungen über diesen Gegenstand von Reichs wegen zu erlassen; und es beehrt sich nun der Vorstand des genannten Vereins, im Auftrage der Generalversammlung, dem hohen Reichsgesundheitsamte die gegenwärtige Eingabe in diesem Betreff ganz ergebenst vorzulegen. In den meisten deutschen Staaten bestehen Verordnungen darüber, daß die öffentlichen Wasserläufe nicht in gefahrbringender Weise verunreinigt werden dürfen; aber alle diese Vorschriften beschränken sich auf einige dehnbare Sätze, ohne eine genaue Grenze in Zahl und Maß anzugeben, bis wohin die Einleitung von Schmutzwässern getrieben werden darf. Die Folgen eines so weiten, den Behörden überlassenen Spielraums sind leicht zu ermessen und treten gegenwärtig bei einer Menge von Unternehmungen in beunruhigender Weise hervor. Die Gutachten von Sachverständigen und die Entscheidungen der Behörden entbehren nämlich jeder festen einheitlichen Grundlage, werden mehr oder weniger auf das Gefühl gestützt und differiren von Ort zu Ort, von Fall zu Fall ganz außerordentlich. Hier wird die Verunreinigung durch eine gewisse Fabrik untersagt, welche dort für zulässig gehalten wird; hier darf sich die Canalisirung einer Stadt des vorhandenen Flusses zum Ablauf bedienen, dort wird unter ähnlichen Umständen ein solches Project verdächtig oder unmöglich gemacht. Hiermit ist sicherlich das praktische Ziel der öffentlichen Gesundheitspflege nicht erreicht. Nur exacte Vorschriften vermögen ein wirksames Vorgehen gegen die Verunreinigung der Wasserläufe zu sichern und anderseits die Fabrikanten und Gemeinden gegen Willkür der Behörden zu schützen, sowie diejenigen, welche unter einer angeblichen Schädigung zu leiden haben, zur Ruhe zu bringen. Man kann der deutschen Gesetzgebung keinen Vorwurf daraus machen, daß sie den Gegenstand nicht eingehender behandelt hat; denn es fehlt eben bis jetzt an den wissenschaftlichen Vorarbeiten dazu. Wenn allerdings in England und neuerdings in Amerika, in Paris und in Hamburg umfassende Untersuchungen hierüber angestellt und in England auch bestimmte Grenzwerthe für die praktische Handhabung des Schutzes vor Verunreinigungen vorgeschlagen worden sind, so sind doch diese Materialien nicht ohne weiteres auf andere Flüsse übertragbar. Es geht dies schon daraus hervor, daß die Untersuchungen der Flüsse sehr mannigfaltige Resultate über den Schaden einer Verunreinigung, beziehungsweise über den Erfolg der sogenannten Selbstreinigung der Flüsse ergeben haben. Es sind eben eine Menge von Umständen gleichzeitig von Einfluß auf das Verhalten eines Flusses gegen eingeleitete Abwässer als: die Wassermenge des Flusses hinsichtlich der Verdünnung des Schmutzwassers, die Geschwindigkeit hinsichtlich der Vermischung mit der Luft und Oxydation der organischen Stoffe; das Vorhandensein von Felsen, Wehren und andern Unregelmäßigkeiten, welche den eben genannten Effect ebenfalls steigern; das Verhältniß und die Dauer der verschiedenen Wasserstände, die chemische Beschaffenheit des Bettes, der Stinkstoffe und Geschiebe, der Pflanzen im Flusse, welche auf Zersetzung der Abwässer hinarbeiten können; die gegenseitige Einwirkung von gewissen Industrieabfällen u.s.w. Es wird zwar schwerlich gelingen, alle diese Umstände wissenschaftlich zu sondern, noch weniger dieselben in Gesetzesbestimmungen zu berücksichtigen, aber wenigstens die die beiden Hauptfactoren: die Wassermenge des Flusses und die chemische Beschaffenheit des Schmutzwassers sollten bei der Aufstellung gesetzlicher Vorschriften zum bestimmten Ausdrucke kommen. Daß die deutschen Flüsse heutzutage von Reichs wegen geschützt werden müssen, dürfte wohl ohne weiteres zugegeben werden; macht sich doch die bisherige unsichere Behandlung dieses Gegenstandes von Seiten der Einzelstaaten vielfach über die Grenzen derselben hinaus fühlbar, und ist doch die öffentliche Gesundheitspflege ein Gebiet, welches stets in großem Rahmen, ja theilweise international behandelt werden muß. Es wird aber unseres Erachtens nicht genügen, sich bei der gesetzlichen Regelung des vorliegenden Gegenstandes auf ausländische Vorarbeiten allein zu stützen. Denn namentlich die englischen Flüsse befinden sich größtentheils in extremen Zuständen: träge fließend sind sie seit langer Zeit mit Schmutz aller Art überladen. Bei der Mehrzahl unserer deutschen Gewässer kommt es ja glücklicherweise eher darauf an, eine noch ziemlich befriedigende Reinheit zu bewahren, und sind auch die Wassermengen u.s.w. günstiger. Somit wären neue Beobachtungen an allerlei Flüssen wünschenswerth, deren Verunreinigung erst schwach oder mäßig ist, mit verschiedenen Wassermengen und zu verschiedenen Jahreszeiten. Aus einem reichhaltigen Material dieser Art ließe sich erst beurtheilen, welche Grenzbestimmungen der Verunreinigung für verschiedene Klassen deutscher Flüsse aufgestellt werden können und müssen. Der Verein für öffentliche Gesundheitspflege glaubt, daß die soeben angedeuteten Untersuchungen und darauf begründeten Gesetzvorschläge eine hervorragende Aufgabe der von ihm freudig begrüßten, neuerdings eingesetzten Reichsbehörde bilden. Er gestattet sich deshalb, dem hohen Reichsgesundheitsamte seine betreffenden Wünsche hiermit ganz ergebenst zu unterbreiten, sowie seiner Ueberzeugung Ausdruck zu geben, daß dieser Gegenstand angesichts der eben jetzt vorliegenden zahlreichen Canalisationsprojecte deutscher Städte ein dringender ist. Die Einzelheiten der Ausführung werden natürlich vertrauensvoll der hohen Behörde überlassen, und noch weniger ist es unsere Sache, wegen etwaiger Fragen der Competenz gegenüber den Einzelstaaten oder der Herbeischaffung der erforderlichen Geldmittel uns zu äußern. Doch wollen wir nicht unterlassen, zu bemerken, daß es unserm Verein zur Ehre und Freude gereichen würde, wenn derselbe, soweit es seine Organisation zuläßt, demnächst zur Mitwirkung oder Begutachtung bei den einschlägigen Arbeiten, Untersuchungsmethoden, Verwerthung der Resultate, Aufstellung von Vorschriften, herangezogen werden sollte.“