Titel: Neuere Fortschritte in der Soda-Industrie; von G. Lunge.
Autor: Georg Lunge [GND]
Fundstelle: Band 246, Jahrgang 1882, S. 335
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Neuere Fortschritte in der Soda-Industrie; von G. Lunge. Lunge, über neuere Fortschritte in der Soda-Industrie Die folgenden Blätter, welche die neueren Fortschritte der Soda-Industrie, namentlich in England, beschreiben sollen, werden zum groſsen Theile Dinge berühren, über die schon in einer oder der anderen Form Veröffentlichungen erfolgt sind. Trotzdem hoffe ich, daſs sie dem Fachmann nicht überflüssig erscheinen werden, da meine Arbeit einerseits aus englischen Quellen schöpft, welche dem deutschen Leser schwer zugänglich und bisher in anderweitigen deutschen Veröffentlichungen nur sehr unvollständig benutzt sind, andererseits aber die einzelnen behandelten Gegenstände häufig mit Bemerkungen begleitet werden, welche aus direkten Erkundigungen an best informirter Stelle geschöpft sind. Ebendaher stammt eine gröſsere Anzahl von positiven neuen Angaben, namentlich auch über den Erfolg verschiedener Erfindungen, Calculationen u. dgl. Solche Gegenstände dagegen, welche schon in der deutschen Fachliteratur genügend besprochen worden sind, sollen hier nicht mehr erwähnt werden, weshalb auch dieser Bericht in keiner Weise auf den Charakter einer vollständigen Uebersicht der Fortschritte der Soda-Industrie Anspruch erhebt, sondern vielmehr nur einen Beitrag hierzu geben soll. Wir wollen mit einem Gegenstande beginnen, welcher nicht nur alle Zweige der Soda-Industrie, sondern sogar fast alle Zweige der technischen Chemie überhaupt angeht, nämlich mit der Unsicherheit der Tabellen über specifische Gewichte. In einer Sitzung des Londoner Zweigvereins der neu gegründeten und ungemein thätigen englischen Gesellschaft für chemische Industrie hat R. Messel auf diesen Gegenstand aufmerksam gemacht (vgl. Journal of the Society of Chemical Industry, 1882 S. 5). Er zeigt auf erhebliche, übrigens schon längst bekannte Verschiedenheiten in den Tabellen über specifische Gewichte von Schwefelsäuren und noch gröſsere in denen über Ammoniakflüssigkeit hin und regt es an, daſs die neue englische Gesellschaft die Herstellung einer Gleichförmigkeit sowohl in dieser Beziehung, als in den Methoden zur Werthbestimmung von chemischen Producten überhaupt, anstreben möge. Zugleich weist er auf die in Deutschland nach dieser Richtung schon gemachten Schritte hin, nur daſs er irrthümlicherweise die Gesellschaft für Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands anführt, während es der Verein der deutschen SodafabrikantenSodafahrikanten ist, von dem die Herstellung eines Taschenbuches mit gleichförmigen Normen für die Soda-, Potaschen- und Ammoniak-Industrie an die Hand genommen worden ist (vgl. 1882 243 * 418. 246 279). In der Discussion über Messel's Vorschlag erwähnt Lyte, daſs die Verschiedenheiten in den Angaben über specifische Gewichte häufig von den Ungenauigkeiten der angewendeten Aräometer herrühren. Er begeht dabei den Irrthum, anzunehmen, daſs die Grade des Baume'schen Aräometers die Procente von Kochsalzlösungen ausdrücken sollen, und macht ferner eine Behauptung, welche allerdings sehr in Erstaunen setzen müſste, wenn sie der Wahrheit entspräche. Bekanntlich hat die englische Industrie den auſserordentlich groſsen Vorzug vor der deutschen und französischen, daſs schon seit längerer Zeit in England für schwere Flüssigkeiten ganz allgemein das Aräometer von Twaddell eingeführt ist, bei dem von Grad zu Grad eine Verschiedenheit von 0,005 stattfindet, so daſs z.B. 100° Tw. = 1,500 ist. Hierdurch ist nicht allein die Verwandlung von Twaddell-Graden in specifische Gewichte ohne alle Tabellen durch eine äuſserst einfache, im Kopfe auszuführende Rechnung möglich, sondern die Herstellung von Aräometern sollte danach auch eine sichere Operation sein und alle solche Instrumente durchaus mit einander übereinstimmen, wo sie auch gemacht sein mögen. Freilich müſsten sie dann nach den wirklichen specifischen Gewichten angefertigt sein, während Lyte, wie es scheint ohne genügenden Grund, annimmt, daſs die Twaddell'schen Grade der gewöhnlichen Aräometer die Anzahl von Unzen Kochsalz in einer Kochsalzlösung bezeichnen. Jedenfalls wäre dies, wenn es vorkäme, ein Miſsbrauch, welcher dem Systeme als solchem durchaus nicht anhängt. Der Verfasser möchte es sich nicht versagen, sein Bedauern darüber auszusprechen, daſs bisher durchaus keine Aussicht vorhanden zu sein scheint, dieses so rationelle Aräometer auf dem Continent einzuführen, wo wir nicht nur mit dem ohne Tabelle gar nicht auf specifische Gewichte zurückführbaren Baume'schen Aräometer behaftet sind, sondern noch dazu eine ganze Anzahl von verschiedenen Spindeln unter demselben Namen vorkommen. Wenn wir seit allgemeiner Annahme des metrischen Maſs- und Gewichtssystemes in dieser Beziehung auf die Engländer und Amerikaner „herabschauen“ dürfen, so können dieselben diesen Ausspruch in Bezug auf unsere Aräometer für schwere Flüssigkeiten gebrauchen. Es ist aber mindestens zu hoffen, daſs in Deutschland die Baume'schen Aräometer in Zukunft nicht mehr, wie früher gewöhnlich, durch Eintauchen in Salzlösungen oder in englische Schwefelsäure, sondern in rationeller Weise nach der Formel d = 144,3 : (144,3 – n) graduirt werden. Auf einen anderen oft übersehenen Punkt machte in der Besprechung über Messel's Vorschlag Squire aufmerksam, nämlich daſs die in den Büchern zu findenden Tabellen sich nur auf reine Säuren u. dgl. bezögen und daher auf die Handelsproducte häufig gar nicht paſsten. Namentlich ist dies der Fall mit der rohen, Schwefelsäure haltigen Salzsäure und mit der Schwefelsäure; deshalb solle man so weit als möglich an Stelle des Aräometers eine wirkliche Analyse treten lassen (was freilich in der Praxis meist nicht angeht). Von den anderen Anwesenden wurde bemerkt, daſs bei der gerade in London noch viel fabricirten Schwefelsäure aus Rohschwefel die Verunreinigungen das specifische Gewicht nicht merklich beeinflussen könnten. Ich meinerseits möchte schon dies bezweifeln; sicher aber ist es, daſs bei der jetzt in Deutschland ausschlieſslich erzeugten Säure aus Kiesen die specifischen Gewichte erheblich höher sind, als dem Procentgehalt nach irgend einer der brauchbaren Tabellen für reine Säure entspricht. Dem Baumé-Grad 66 = 1,842 bei 15° sollte hiernach chemisch reines Monohydrat entsprechen, während in Wirklichkeit die 66grädige Schwefelsäure nur 95 bis höchstens 96 Proc. SO4H2 enthält und manchmal noch 1 bis 2 Procent weniger zeigt. Freilich muſs man bedenken, daſs nicht nur bei den höchsten Concentrationen schon ein ganz unbedeutender Unterschied im Volumengewicht einem erheblichen Unterschiede im Gehalte entspricht, sondern daſs auch das Volumengewicht der allerstärksten Säuren nach Kohlrausch wieder zurückgeht (vgl. meine Soda-Industrie, Bd. 1 S. 25), allerdings erst oberhalb der Grenze, bis zu welcher Schwefelsäure (abgesehen von rauchender) im Handel vorkommt. Als eine Art Trost für den Schwefelsäurefabrikanten mag es gelten, daſs nach Tyrer die Verwirrung in den Tabellen für Ammoniakflüssigkeit noch viel gröſser ist und Unterschiede bis zu 25 Procent des Gehaltes an NH3 vorkommen. Als einen zweiten Gegenstand von allgemeinem Interesse für alle Zweige der Soda-Industrie möchte ich den Umstand hervorheben, daſs in England, wo die Feuerungseinrichtungen in den chemischen Fabriken früher groſsentheils mangelhafter Natur waren und wo die vereinzelten Versuche zur allgemeineren Anwendung von Gas-Generatoren (fast ausschlieſslich Siemens'schen) keinen dauernden Erfolg zu verzeichnen hatten, man neuerdings doch, ebenso wie schon früher in Deutschland, einzusehen anfängt, daſs in der Gasfeuerung die rationellste Art des Betriebes von chemischen Oefen zu finden ist. In England knüpft sich die allgemeine Verbreitung der Gasfeuerung an eine in Deutschland wohl sehr wenig verbreitete Construction, nämlich Wilson's Gas-Producer, von welchem schon früher in diesem Journal (1878 228 * 136) eine kurze Beschreibung gegeben worden ist. Ausführlichere Mittheilungen darüber finden sich in dem Journal of the Society of Chemical Industry, 1882 S. 53 und 96. Da bei diesem Apparate die Luft durch ein Dampfstrahlgebläse in den unteren Theil des Schachtes (ein Rost ist nicht vorhanden) eingepreſst wird, so wird auch das Gas mit einem gewissen Drucke abgegeben, was für manche Zwecke von groſsem Nutzen ist. Die Gaserzeugung findet auf verhältniſsmäſsig sehr kleiner Herdfläche statt und das billigste Brennmaterial kann benutzt werden. Natürlich kann man mit oder ohne Regenerator arbeiten. Der Wilson'sche Gasgenerator wäre wohl auch in Deutschland gröſserer Aufmerksamkeit werth; denn in England wird er schon sehr vielfältig angewendet für Stahlöfen, Schweiſsöfen, Glasöfen, Kupferöfen, Porzellanöfen u. dgl. Uns interessirt hier mehr seine Anwendung in chemischen Fabriken, wo er sich namentlich zur Feuerung des Mactear'schen Sulfatofens (vgl. unten) ausgezeichnet bewährt hat. Wir wenden uns zur Schwefelsäure-Fabrikation. Nach authentischen Angaben von Chance (Journal of the Society of Arts, 1882 S. 724) wurden nach England eingeführt: 1880 1881 Rohschwefel   46896   40561t engl. Pyrit 657867 542046    „ mithin i. J. 1881 bedeutend weniger als im Vorjahre. Von dem Schwefel wird natürlich ein groſser Theil für Schieſspulver und andere Zwecke verbraucht; aber auch Schwefelsäure wird in England noch in groſsem Maſsstabe aus Rohschwefel gemacht, da manche Fabrikationszweige, wie die Fabriken von schwefelsaurem Ammoniak, von organischen Säuren, von Weiſsblech, die Bleichereien u. dgl., die Pyritsäure durchaus nicht brauchen wollen, zum Theil auch wohl nicht können. Von der Pyritsäure wird ein sehr groſser Antheil (den ich glaube, sehr nahe auf ⅓ der ganzen Production schätzen zu können) zur Darstellung von künstlichen Düngemitteln gebraucht. Die zur Zersetzung von Kochsalz verwendete Menge Säure läſst sich aus den für diesen Zweck verbrauchten Mengen Salz berechnen, welche für d. J. 1880 = 700016, für 1881 = 675099 betrug, im Mittel also 687500t engl. Da man annimmt, daſs man mit der Säure von 1t spanischen Kieses etwa 1t,75 gewöhnlichen (d. i. des in England verwendeten feuchten) Salzes zersetzen kann, so entspricht obiges einer Menge von 392890t Pyrit als Jahresdurchschnitt für 1880 und 1881. Ein Theil des Sulfates wird natürlich als solches, namentlich zur Glasfabrikation, verwendet; aber nach Chance (der als einer der gröſsten englischen Glasfabrikanten hiervon Bescheid wissen muſs) höchstens etwa 40000t, so daſs etwa 350000t Pyrit für die zur Fabrikation von Leblanc-Soda dienende Säure übrig bleibt. Der Werth dieses Pyrites ist, zu 24 Schilling ex shipy, 420000 Pfund Sterling und die Ausladekosten, Frachten u. dgl. erhöhen diese Summe noch ganz erheblich. Der dadurch repräsentirte Schwefel geht in der Sodafabrikation, wenn keine Regeneration aus den Rückständen stattfindet, ganz verloren, und zwar etwa 85 Procent davon in Form von Sodarückstand, der Rest als der Soda beigemengtes Sulfat u. dgl. Der Preis des Schwefels im Schwefelkies wird durch eine Vereinigung aller der groſsen spanischen Grubengesellschaften geregelt und ist bis Anfang d. J. 1885 auf 6 Pence per unit, d.h. 24 M. für die Tonne 48procentigen Kieses festgesetzt. In Folge der unerträglichen Nothlage der englischen Leblanc-Sodafabrikation und zugleich der unten zu besprechenden energischen Versuche zur Einführung der Schwefelregeneration aus den Sodarückständen hatten sich zwei der groſsen Grubengesellschaften (Tharsis und Rio Tinto) schon zu einer Preisherabsetzung von 25 Proc. verstanden, aber da die dritte (Mason und Barry) dagegen Verwahrung einlegte, so konnte dieser Abschlag nicht durchgeführt werden und die Sache bleibt beim Alten, wenn nicht etwa ein entschiedener Erfolg der Schwefelregeneration schlieſslich doch den Widerstand jener einen Firma bricht. Während, abgesehen von allen anderen jetzt ganz veralteten Methoden, bis auf die neueste Zeit die englischen Fabriken die Verbrennung des Feinkieses fast ausschlieſslich mittels der in meiner Soda-Industrie, Bd. 1. S. 169 beschriebenen Methode (Mahlen mit Wasser zu Schlamm, Formen in Kuchen und Aufgeben mit dem Stückkies) bewirkten, ist durch die englische Ausgabe meines Werkes die Aufmerksamkeit auf die bei uns gebräuchlichen Etagenöfen gelenkt worden. Die Newcastle Chemical Works (früher Allhusen) zu Gateshead haben ihre sämmtlichen Pyritöfen abgeschafft und Etagenöfen nach der in meinem Buche S. 195 enthaltenen, mir von Hrn. Generaldirektor Schaffner freundlichst überlassenen Zeichnung erbautDer Plan dieser Oefen rührt nach einer Mittheilung des Hrn. Direktor Schott in Heinrichshall von diesem her; das Prinzip ist natürlich das von Malétra zuerst angewendete., worin sie nun täglich die bedeutende Menge von beinahe 100t spanischen Feinkieses verbrennen. Hr. Alfred Allhusen gibt mir hierüber folgende specielle Auskunft: „Wir sind mit den Etagenöfen sehr zufrieden; wir haben jetzt 129 von diesen im Betrieb und brennen wöchentlich 600 bis 650t Feinkies. Jeder Brenner wird alle 8 Stunden beschickt; die Beschickung beträgt zwischen 4 ½ und 4 ¾ Centner (229 bis 241k), je nach dem Zustande der Oefen und dem Bedarf an Schwefelsäure. Das Ausbringen an Schwefelsäure zeigt sich nach 9 monatlicher ununterbrochener Arbeit als ausgezeichnet; aber ich glaube, daſs der Verbrauch an Salpeter um ein sehr Unbedeutendes höher ist als bei den früheren StückkiesbrennernDie Stückkiesöfen der groſsen Fabrik in Gateshead gehörten zu den vollkommensten Typen ihrer Art, wie sie in meiner Soda-Industrie, Bd. 1 S. 151 abgebildet und in Deutschland wohl auch meist üblich sind.G. L. (a shade higher, but only a shade). Der Feinkies, welchen wir verarbeiten, kommt aus der Grube von Mason und Barry in Portugal (dies ist das San Domingos-Erz, vgl. meine Soda-Industrie, Bd. 1 S. 89) aus deren Cementationswerk und ist durch die Wirkung der Luft und des Wassers während der Kupferextraction entstanden. Wenn dieser Feinkies zu uns kommt, hält er noch 0,75 bis 1 Proc. Kupfer; die Abbrände gehen nach dem Kupferextractionswerke von Gibb, Johnson und Comp., welches das Kupfer mit Vortheil gewinnt und uns für die Abbrände einen solchen Preis zahlt, daſs uns der Schwefel etwas unter 3 Pence per unit (d. i. die Hälfte des in England bis 1884 contractmäſsig eingeführten Preises von 6 Pence per unit oder 24 Mark für 1t 48procentigen Kieses ex ship) zu stehen kommt. Die Abbrände, wie sie in das Kupferwerk gehen, enthalten 3 bis 4 Proc. Gesammtschwefel.“ Jene Fabrik erspart mithin durch Einführung der Etagenöfen jährlich über 400000 M. und hat sich mithin die Ausgabe für Anschaffung meines Werkes recht gut bezahlt gemacht. Auch Weldon (Journal of the Society of Chemical Industry, 1882 S. 47) erwähnt, daſs die Etagenöfen jetzt an vielen Orten in England eingeführt werden. Das Verfahren von Benker und Lasne (Einführung von schwefliger Säure und Wasserdampf in die Kammeraustrittsgase vor dem Eintritt in den Gay-Lussac-Thurm, vgl. 1882 243 56 u. 244 247) ist in einer ganzen Reihe von englischen Fabriken ausgeführt worden, u.a. in sehr gründlicher Weise bei Chance. Der Erfolg stimmt mit dem, was ich nach meinen Untersuchungen über das Verhalten der Unterschwefelsäure zur Schwefelsäure vorausgesagt hatte, nämlich daſs bei normal arbeitenden Kammern mit richtig construirten Apparaten das Verfahren keinen Nutzen geben werde. Es wird mir in Privatnachrichten höchst verläſslicher Natur mitgetheilt und wird sogar durch den englischen Vertreter des Patentes (Weldon a. a. O. 1882 S. 45) zugegeben, daſs das Benker und Lasne'sche Verfahren in keiner einzigen englischen Fabrik günstige Resultate gegeben habe. Dasselbe ist nach Privatnachrichten der Fall mit einem Versuche gewesen, den man in Schottland mit dem Richters'schen Verfahren (1882 243 56) gemacht hat; ob in genügender Weise und hinreichend lange, kann ich nicht sagen. Die Einführung von Salpeter in Form von wässeriger Lösung ist im Rückgange begriffen; sowohl das direkte Einlaufen in den Gloverthurm, als auch das Burnand'sche Verfahren sind fast überall wieder aufgegeben worden (vgl. meine Soda-Industrie, Bd. 1 S. 298). Angesichts der immer weiteren Ausbreitung der Ammoniaksoda -fabrikation und der Unwilligkeit der englischen Fabrikanten, für den Schwefelkies theure Preise bei groſsem Verluste anzulegen, haben sich die Besitzer der groſsen Pyritgruben entschlossen, sich ihrerseits von den englischen Fabrikanten möglichst unabhängig zu machen, indem sie selbst Fabriken errichten. Namentlich die Rio-Tinto-Gesellschaft ist sehr rührig in dieser Beziehung; eine groſse Sodafabrik nach Hargreaves und Leblanc, zugleich mit Kupferextraction aus den Rückständen, wird von ihr zu Marseille errichtet und eine andere für Schwefelsäure und Kupfer zu Elizabeth bei New-York folgt nach; eine Leblanc-Sodafabrik zu Antwerpen soll den Beschluſs machen. Alle drei werden von englischen technischen Chemikern gebaut und dirigirt. In Amerika wird übrigens auch eine Ammoniaksodafabrik mit einer Wochenproduction von 400t gebaut. Von der Colonialregierung von Neuseeland war ein Preis für die Darstellung der ersten 500t Schwefelsäure ausgesetzt worden, um die Einführung dieser Industrie in das Land zu befördern. Der Preis ist wirklich gewonnen worden, indem zu Dunedin eine Fabrik errichtet wurde, welche jetzt in vollem Betrieb ist (vgl. Journal of the Society of Chemical Industry, 1882 S. 172). Von der Prüfung auf das Entweichen von schädlichen Gasen (Hüttenrauch) handelt ein Aufsatz von W. J. Lovett im Journal of the Society of Chemical Industry, 1882 S. 209, welcher eine Anzahl von Absorptionsapparaten, Aspiratoren u. dgl. beschreibt und abbildet, wesentlich diejenigen, welche von einem der englischen Sodafabriks-Inspektoren,. G. E. Davis, angewendet werden. Der deutsche Leser wird darin kaum vieles finden, was zugleich neu und gut wäre. Originell ist es, daſs als Davis' Nitrometer eine Abbildung gegeben ist, welche mein Nitrometer, nur mit sehr primitivem Stativ, vorstellt, während der wirkliche Apparat von Davis zur Ausführung der Crum'schen Methode nichts als eine ganz rohe Form der Frankland'schen Hahnröhre in einer Quecksilberwanne war und als viel zu unbequem und zugleich ungenau sich in der Praxis nie erheblich einführen konnte. Das wesentlich Neue, nämlich die Ersetzung der Wanne durch ein Niveaurohr mit Verbindungsschlauch, die Einführung des Dreiweghahnes und die erst durch diese Aenderungen ermöglichte Anwendung eines langen und sorgfältig getheilten Meſsrohres, ja selbst der Name „Nitrometer“ rühren von mir her, wovon Lovett kein Wort sagt. Davis' Verdienst, das ich als solches immer anerkannt habe, ist nur dies, daſs er die Aufmerksamkeit der Sodatechniker auf das von Crum gefundene und von Frankland und Armstrong sowie von Watt weiter ausgebildete Verfahren zur Bestimmung von Stickstoffsäuren lenkte; aber sein Apparat (den ich in seinen eigenen Händen gesehen habe) war äuſserst roh und zugleich viel zu unbequem zum Gebrauche in Fabriken; auch hatte er nie Versuche zur Controle der Methode auf ihre Genauigkeit angestellt, wie ich und später Warington dies gethan haben, und die Crum'sche Methode wäre also trotz Davis' Empfehlung wenig in Aufnahme gekommen, wenn nicht die anderweitig geschehene Construction eines handlichen Apparates sie zugänglich gemacht und zugleich wissenschaftlich genaue Versuche ihre Zuverlässigkeit dargethan hätten. Eine Arbeit von einer Art, wie sie selbst in der theoretischen Chemie bisher nur in ganz eng begrenzten Gebieten, abgesehen von dem Grenzgebiete mit der Physik, und in sehr einfachen Fällen versucht worden ist, nämlich die mathematische Behandlung der Vorgänge hat F. Hurter für eine technische Frage von ziemlicher Complicirtheit zu leisten gesucht. Seine dynamische Theorie der Schwefelsäurefabrikation im Journal of the Society of Chemical Industry, 1882 S. 8, 49 und 83 eilt mithin der sogenannten „reinen“ Chemie ein groſses Stück voraus. Es ist dies wohl kaum nur daraus zu erklären, daſs die Chemiker im Allgemeinen zu wenig mathematische Bildung besitzen, um sich an der Behandlung solcher Fragen versuchen zu können; denn wenn es auch bei der Mehrzahl derselben (zu denen sich leider auch Schreiber dieses rechnen muſs) zutrifft, daſs sie bestenfalls im Stande sind, einer strengeren mathematischen Deduction zu folgen, aber keinesfalls es unternehmen können, eine solche selbst aufzustellen, so gibt es doch heutzutage schon so manchen Chemiker, namentlich unter den jüngeren Lehrern der reinen Wissenschaft, welcher die nöthige Befähigung in dieser Richtung besitzt. Wenn sie es trotzdem nicht wagen, die mathematische Analyse auf chemische Reactionen anzuwenden, so mag dies wohl daran liegen, daſs ihnen der Mechanismus der letzteren bisher zu wenig klar gestellt und die Bedingungen der Vorgänge nicht allseitig genug erforscht zu sein scheinen, um ein so feines Instrument schon mit Vortheil daran probiren zu können. Der Vorgang Hurter's ist daher ein recht kühner, ist aber um so mehr mit Dank zu begrüſsen, als doch einmal ein Anfang gemacht werden muſs und es sicher in dieser Beziehung völlig gleichgültig ist, ob man die Reactionen innerhalb einer Glasretorte oder diejenigen innerhalb einer Bleikammer verfolgt. Bei der Natur solcher Untersuchungen ist es beinahe selbstverständlich, daſs dieselben durch einen kurzen Auszug nicht genügend wiedergegeben werden können, und ich muſs daher den sich dafür interessirenden Leser auf das 9 Quartseiten umfassende Original verweisen. Es sei also nur Folgendes erwähnt, um eine Idee davon zu geben, in welcher Richtung sich Hurter's Arbeit bewegt. Er versucht zu zeigen, in welcher Verbindung nach mathematischen Gesetzen die Dimensionen der Kammern, die Zusammensetzung der Gase, die Intensität der Reactionen, die Kammertemperatur und die Combination der einzelnen Kammern zu Systemen zu einander stehen. Er glaubt ein für complicirte Reactionen anwendbares Gesetz gefunden zu haben, welches er so ausdrückt: Die Geschwindigkeit einer chemischen Veränderung hängt ab von und ist proportional zu der Leichtigkeit, mit welcher Gruppirungen von Molecülen, die für diese specielle Veränderung günstig sind, in dem der Veränderung unterworfenen Systeme sich bilden können. Man wird wohl meist ein solches Gesetz auch ohne mathematische Deductionen für ein ganz selbstverständliches halten; aber daſs ein mathematischer Beweis dafür unnöthig sei, wird Niemand behaupten wollen. Uebrigens gibt Hurter nicht die Deduction selbst, sondern nur eine darauf beruhende Differentialgleichung, in welche er nun für den hier behandelten speciellen Fall den Betrag an Schwefligsäure, Sauerstoff, Wasser und Stickstoffverbindungen einführt, um die dynamische Gleichung für die Geschwindigkeit der Bildung von Schwefelsäure in den Kammern zu finden. Er kommt zu folgenden Resultaten: 1) Mit der Vermehrung des Kammerraumes in arithmetischer Progression vermindert sich der Betrag von nicht in Schwefelsäure verwandelter SO2 in geometrischer Progression; 2) der Kammerraum für einen gegebenen bestimmten Verlust an Schwefel ist direkt proportional der Geschwindigkeit des Gases, oder, was dasselbe sagen will, dem Betrage des verbrannten Schwefels; 3) der Kammerraum ist umgekehrt proportional zu den anwesenden Stickstoffverbindungen und auch zu dem Wasserdampfe. Er gibt auch einige Zahlen aus der Praxis, welche einen Beleg für die Richtigkeit dieser Sätze bilden sollen, aber doch wohl kaum zureichend sind, um bestimmt darzuthun, daſs wirklich um so weniger Kammerraum nöthig ist, je verdünnter die Kammersäure gehalten wird; hiergegen spricht schon der Umstand, daſs seine Beispiele sämmtlich von Kammersystemen ohne Gay-Lussac- und Gloverthurm genommen sind, sowie die für so complicirte Verhältnisse kaum genügende Zahl (5), wobei sogar eines der beiden Beispiele von schwachen Kammersäuren unsicher ist. Immerhin darf man nach Hurter's Beweisführungen in Zukunft bei der Beurtheilung von Betriebsresultaten auch die Stärke der Kammersäure nicht mehr vernachlässigen. Mit der Praxis stimmt dagegen ohne allen Zweifel das theoretische Verhältniſs zwischen Kammerraum und Salpeter, sowie die Beweisführung, daſs weitaus der gröſste Theil der Schwefelsäurebildung (70 bis 80 Proc.) in dem ersten Drittel des Systemes vor sich gehen muſs, wenn der Verlust an entweichender SO2 nicht ein bedeutender sein soll; die hierauf bezüglichen graphischen Darstellungen Hurter's sind auſserordentlich lehrreich. Weniger Fortschritt scheint mir seine Betrachtung der Temperaturverhältnisse zu ergeben, aus der wir kaum etwas direkt Verwerthbares ableiten können; immerhin zeigt er, welchen Weg eine zukünftige Behandlung dieser Sache einschlagen muſs. Sein Schluſs ist, daſs der Ueberschuſs der Temperatur der Kammern über diejenigen der Umgebung bei auf einander folgenden Kammern nahezu in geometrischer Progression abnehme und daſs die Temperatur der ersten (Haupt-) Kammer von der Zahl zu einem System verbundener Kammern abhänge. Endlich berechnet er nach seiner Formel auch noch die beste Zusammensetzung der Kammergase beim Eintritt und Austritt, freilich nothwendigerweise mit Einführung einer Anzahl von rein empirischen Annahmen. Hiernach wäre die beste Zusammensetzung der Gase für spanischen Kies, der 45 Proc. Schwefel beim Brennen abgibt und 71,3 Proc. Abbrand hinterläſst: Röstgas beimEintritt in dieKammern Austrittsgas vonden Kammern inden Thurm Schwefligsäure (SO2) 7,84 Proc. Sauerstoff 10,92 7,93 Proc. Stickstoff 81,24     92,07 Hierbei komme man auf nur 0,5 Proc. Verlust an Schwefligsäure; übrigens zeigt die Rechnung, daſs zwischen den Grenzen von 6 bis 10 Proc. Schwefligsäure beim Eintritt und 11 bis 4 Proc. Sauerstoff beim Austritt der Verlust an Schwefligsäure nur ganz unbedeutend gröſser sein sollte. Man muſs freilich sagen, daſs die Praxis rationell geführter Werke erheblich engere Grenzen als die Hurter'sche Theorie verlangt, was eben mit der Complicirtheit der Bedingungen zusammenhängen mag, von denen die Gleichungen nur einen Theil berücksichtigen können. Für Verbrennung von Rohschwefel kommt er auf einen theoretisch besten Gehalt von 9,33 Proc. Schwefligsäure im Eintritts- und 8,14 Proc. Sauerstoff im Austrittsgas. Hurter deutet darauf hin, daſs seine Theorie durch eine einfache Rechnung ein ähnliches, aber genaueres Resultat gegeben habe, als die Erfahrung von 100 Jahren geliefert hat. Freilich würde andererseits ohne diese Erfahrung die ganze Theorie in der Luft schweben und wenig Beachtung finden; so lange der Prüfstein der Erfahrung fehlt, könnten am Ende andere Mathematiker ganz andere Theorien aufbauen und zu ganz abweichenden Resultaten kommen. Schon in der Wissenschaft der reinen und wahrlich noch mehr in der technischen Chemie liegen die Sachen so, daſs das so bedeutend gehäufte empirische Material meistens zu vielseitige Bedingungen darbietet, um schon einer fruchtbaren mathematischen Behandlung unterworfen werden zu können. Aber wenn dieselbe in irgend einem Gebiete noch nicht verfrüht erscheinen sollte, so ist es gewiſs in demjenigen der Reactionen von Gasen auf einander, also auch in dem von Hurter behandelten Falle. Ohne mithin ein Urtheil. über den mathematischen Werth von Hurter's Theorie aussprechen zu wollen, wozu dem Berichterstatter die Competenz durchaus fehlt, möchte derselbe nur dem Wunsche Worte geben, daſs diese jedenfalls sehr beachtenswerthe Theorie dem deutschen Publikum seitens des Verfassers zugänglicher gemacht werden möchte. (Fortsetzung folgt.)