Titel: | Die Santonin-Fabrikation in Turkestan; von C. O. Cech in Moskau. |
Autor: | C. O. Cech |
Fundstelle: | Band 253, Jahrgang 1884, S. 475 |
Download: | XML |
Die Santonin-Fabrikation in Turkestan; von C. O.
Cech in Moskau.
C. O. Cech, über die Santonin-Fabrikation in Turkestan.
Gegenwärtig beschäftigt man sich in Turkestan mit der Einführung einer für Ruſsland
ganz neuen chemischen Industrie, indem in der Stadt Tschemkent (im
Sir-Daria-Gebiete) eine groſse Fabrik gebaut wird, um aus dem Zittwersamen das
Santonin zu gewinnen, welches eine auſserordentlich wichtige Bedeutung in der
Medizin hat. Auf dem ganzen Erdballe sind bis jetzt bloſs zwei Orte bekannt, wo der
Zittwersamen als Kulturpflanze erscheint und zwar in einigen Strichen von Südamerika
und in dem nicht bedeutenden Thale des Gebirgsflusses Arissi im Tschemkent'schen
Kreise des Sir-Daria-Gebietes.
In Südamerika wird der Zittwersamen nur in sehr beschränkten Mengen gewonnen, kaum
hinreichend für den Verbrauch an Ort und Stelle, und kommt bezüglich der Güte dem in
dem Tschemkent'schen Kreise gesammelten bei Weitem nicht gleich.
Im Thale des Arissi gedeiht seit undenklichen Zeiten der sogen. „Wurmsamen“
(Artemisia Santonica und maritima) im wilden Zustande, welcher von 2,3 bis 1,8 Proc. Santonin
enthält. Die Pflanze wird von den Eingeborenen „Darmena“ genannt, von welcher jährlich über 1600t Zittwersamen gewonnen werden. Einer Pflege
bedarf die Pflanze nicht, die ganze Mühe beschränkt sich auf das Einsammeln der
Samen. Das Einernten der Samen geschieht durch die eingeborenen Kirgisen und Sarten
während des Augustmonates und werden dieselben dann in gröſseren oder kleineren
Posten nach dem Inneren Ruſslands versendet. Lange Karawanen mit Zittwersamen
belasteter Kameele ziehen jährlich durch die Steppen Asiens gegen Orenburg, von wo
aus die. Weiterbeförderung nach Moskau, dem Hauptmarkte für den Handel mit diesem
Producte, geschieht. Aus Moskau erst gelangt dieser Samen nach allen Gegenden der
Welt.
Theilweise wird der „Wurmsamen“ in rohem Zustande zu medizinischen Zwecken
verbraucht; nach chemischer Verarbeitung gewinnt man das Santonin, welches in der
Medizin allgemein als Wurm abtreibendes Mittel verwendet wird. Das Santonin ist ein
sehr geschätztes Präparat, denn 1k kommt auf 40
bis 60 M. zu stehen.
Ungeachtet der Fortschritte in der pharmazeutischen Chemie im verflossenen Jahrzehnte
gelang es bis jetzt nicht, das Santonin anders als aus dem Zittwersamen lohnend
darzustellen. Fabriken zur Gewinnung des Santonins bestehen in ganz Europa bloſs 5,
wovon 3 auf Deutschland und eine auf England kommen. Im europäischen Ruſsland ist
nur eine Fabrik in sehr bescheidener Anlage seit 3 Jahren in Orenburg thätig
gewesen, hat aber den Betrieb völlig eingestellt. Aus diesem Grunde ist das
plötzliche Erstehen einer groſsartigen Santoninfabrik am Orte der Gewinnung der
Zittwersamen eine in der chemischen Industrie ganz auſserordentliche Erscheinung;
die Einrichtung derselben ist dem Groſsindustriellen W. J.
Iwanow in Taschkent zu danken.
Die Vortheile der Santonin-Erzeugung am Orte der Samengewinnung in Turkestan
verdienen besondere Beachtung. Der Erfahrung nach gewinnt man aus 100k des Samens bloſs gegen 2k Santonin; die 98k zurückbleibender Abfälle finden bei den Fabriken im Auslande nicht nur
keine lohnende Verwendung, sondern wirken störend. Es ist daher leicht begreiflich,
wie theuer dem ausländischen Fabrikanten 98 Proc. Abfälle während des langwierigen
Frachtweges zu stehen kommen, um schlieſslich weggeworfen zu werden. Diese
unverwerthbaren Abfälle aus Turkestan in Deutschland oder England erhöhen
selbstredend bedeutend den Preis der rein gewonnenen Waare, während der jetzt am
Erzeugungsorte des Rohmaterials arbeitenden Fabrik durch den Versand keine
wesentlichen Spesen erwachsen. Das Santonin aus Turkestan wird in Folge dessen mit
so niedrigen Preisen im Handelsverkehre auftreten können, daſs von einem ergiebigen
Betriebe der europäischen Santoninfabriken kaum mehr die Rede sein kann.
Gegenwärtig, wo diese neu entstandene Fabrik in Tschemkent noch mit der inneren
Einrichtung beschäftigt ist und kein Gramm Santonin erzeugen konnte, haben die
übrigen Fabriken auf die Nachricht des Entstehens einer derartigen Fabrikanlage im
Turkestanischen Gebiete hin die Einstellung ihres Betriebes beschlossen, mit
Ausnahme einer Fabrik in Hamburg und der in England.
Die Turkestan er Fabrik verursachte bis jetzt einen Kapitalaufwand von etwa 950000 M.
Nach vollständiger Einrichtung wird dieselbe einen Werth von 1300000 M. darstellen.
Die Gesellschaft (Iwanow und Sawnikow) gedenkt jährlich gegen 1600t
Zittwersamen zu verarbeiten, also 32000k Santonin
zu gewinnen. Die innere Einrichtung der Fabrik, sowie die Methode der Aufarbeitung
des Zittwersamens hat das Hamburger Handelshaus von Biber
und Zebel
übernommen, welches auch den Vertrieb des Santonins in den ersten 5 Jahren besorgen
wird. Mit der Lieferung der Maschineneinrichtung ist die Fabrik Gebrüder Burgdorf in Altona betraut. Der im Sommer 1883
begonnene Bau ist bereits bis auf die Einzelausführungen beendet. Das Interessante
an dieser Fabrik ist, daſs die Heizung sowohl der Dampfkessel, wie auch der
Wohnungen aus den Abfällen der Samen bestritten wird, welche in Ziegelform gebracht
werden. Auf diese Art werden die 98 Proc. Abfälle, welche beim Versande ins Ausland
nicht unbedeutende Summen verschlangen, an Ort und Stelle den Unternehmern nicht
unerheblichen Nutzen bringen, als bekanntermaſsen Turkestan wegen seiner
Brennmaterialientheuerung dem südlichen Ruſslande die Hand reichen kann. Im
verflossenen Frühjahre waren die Maschinen und Apparate bereits in Tschemkent an
Stelle geschafft. Die Zustellung war in der That eine äuſserst schwierige und kam
auf etwa 33000 M. zu stehen. Man war gezwungen, besondere Wagen zu bauen, um einen
Weg von etwa 1100km mit den schweren Dampfkesseln,
Maschinentheilen, Apparaten u. dgl. zurücklegen zu können. Von Orenburg nach
Tschemkent durch die Steppe geschah die Fortschaffung auf Kameelen und dauerte ein
volles Jahr; desto bewundernswerther ist die Energie, mit welcher die chemische
Industrie nach dem fernen Osten verpflanzt wird. Die Aufstellung der Maschinen
(unter Leitung des Hrn. Knapp jun. aus Braunschweig)
nimmt auf der Fabrik einen raschen Fortgang, so daſs man mit Oktober laufenden
Jahres die Erzeugung von Santonin beginnen wird.
Moskau, im August 1884.