Titel: | Langgeschosse vor der Mündung. |
Fundstelle: | Band 280, Jahrgang 1891, S. 207 |
Download: | XML |
Langgeschosse vor der Mündung.
Mit Abbildungen.
Langgeschosse vor der Mündung.
Die letzten Hefte des „Archiv für die Artillerie- und
Ingenieurofficiere des deutschen Heeres“, Jahrg. 1890, bringen eine
Arbeit über „Langgeschosse vor der Mündung“ der Feuerwaffen, welche
vielleicht von Interesse für weitere Kreise ist.
Textabbildung Bd. 280, S. 207Langgeschosse vor der Mündung. Durchlochter Papierbogen. Sie geht von folgendem Experimente aus: Schiesst man einen Holzcylinder,
an welchem vorn eine Bleispitze befestigt ist, aus einer in gewohnter Weise
gehaltenen, glatten Pistole gegen einen, 1 m vor der Mündung aufgestellten
Papierbogen, so wird eine Durchlochung erzeugt, deren Aussehen beweist, dass die
Spitze des Geschosses beim Durchfliegen tiefer als der Boden lag. Hält man die
Pistole beim Schusse mit dem gekrümmten Griffe nach oben, so dass Lauf und Hahn nach
unten liegen, dann erzeugt das Geschoss eine Durchschlagsfigur, in welcher umgekehrt
die Marken für den Boden über denen für die Spitze liegen. Die Erklärung dieser
Erscheinung wird darin gefunden, dass die Mündung der Pistole in dem Momente des
Geschossaustrittes eine Bewegung (nicht nur nach rückwärts, sondern auch) nach oben
bezieh. nach unten macht; diese, in der Beschleunigung begriffene Bewegung soll den
Geschossboden aus der Schussrichtung hinausschlagen. Dabei ist die Thatsache als
bekannt vorausgesetzt, dass beim Schusse sich die Pistole in der festhaltenden Hand
um den vom Laufe abgebogenen Kolben dreht.
Legt man dieselbe Pistole auf ein Gerüst fest, welches beim Schusse einige Bewegung
erlaubt, versieht den Bodenrand der Geschosse mit einem vorstehenden Papierbande und
stellt man endlich in der Schusslinie Papierscheiben mit kleinen, höchstens 1 m
betragenden Abständen auf, so erhält man bei einem Schusse eine ganze Reihe von
Rissmarken, welche ganz genau die Lage der Geschossachse beim Durchfliegen erkennen
lassen und das Errechnen von Flugbildern für diese Punkte ermöglichen. In einigen
Figuren und in Tabellen stellt die Arbeit eine Anzahl solcher Flugbilderreihen
dar.
Die Anfänge von allen lassen die starken Ausschläge der Geschossböden dicht vor der
Mündung der Waffe erkennen, im weiteren Geschossfluge kommen ähnlich grosse nicht
mehr vor. Ausserdem zeigen auf dieser Strecke, also in dem früher allein beachteten
Theile der sogen. „Flugbahn“, die Geschossachsen zuerst wagebalkenartige,
dann unregelmässig drehende Bewegungen. Bei einem der dargestellten
Versuchsgeschosse (Anfangsgeschwindigkeit 250 m) hatte die Längsachse bis 40 m vor
der Mündung vier Ausschläge gemacht, indem sie dreimal die Flugbahn passirte.
Demzufolge müssen die Bewegungen eines rotationslosen Langgeschosses in der Luft
ebenso unberechenbar erscheinen, wie die eines rohen Holzpfahles, der mittels eines
Strickes durch ein Gewässer gezogen wird. Da aber ein Geschoss mit jedem
Stellungswechsel einen Richtungswechsel, und zwar mit der Abweichung nach der Spitze
hin, annimmt, so muss die Flugbahn unbestimmbar, die Treffsicherheit also gleich
Null werden. Diesen Ausführungen gemäss würde demnach die Rotation, welche den
Geschossen eine gewisse Stabilität der (Längen- und) Drehachse verleihen kann,
nothwendig sein, um: 1) die Wirkung der Mündungsbewegung der Waffe, 2) Schwankungen
der Geschosse in der Luft (welche den Unregelmässigkeiten der Oberflächen und der
Schwerpunktslagen zugeschrieben werden) unschädlich zu machen. Neben dieser neuen
Theorie des Zwecks der Rotation (und der Züge der Feuerwaffen) werden zahlreiche
Versuche angeführt, welche die Richtigkeit der Vermuthungen einsichtsvoller
Ballistiker, wie Rutzky, Mieg, Thiel, bestätigen, dass
rotationslose Langgeschosse von einer gewissen Länge und Schwerpunktslage sich nie überschlagen, dass also die noch vielfach
herrschende Ansicht, die Rotation habe den Zweck, die Spitze der Geschosse nach vorn
gerichtet zu halten, unrichtig ist. – Ausserdem wird durch Versuche der Beweis
geliefert, dass eine neuerdings ausgesprochene Theorie, welche behauptet, die dem
Geschosse nachgeschossenen, vor der Waffe noch Kraft besitzenden Pulvergase seien
von Einfluss auf die Lage der Längsachse, nicht aufrecht zu halten ist.
Von der entwickelten, für stichhaltig erachteten Theorie über die Notwendigkeit der
Rotation hebt die Arbeit den ersten Theil, die Mündungsbewegung als besonders
wichtig für die heutigen gezogenen Geschütze hervor. – Für das Vorhandensein dieses
„Buckens der Mündung“ wird u.a. eine ältere französische Messung
angeführt, der zufolge ein bestimmtes Geschützrohr vor dem Austritte des Geschosses schon 3 cm
zurückgelaufen war und dann noch eine Beschleunigung der Rückwärtsbewegung gezeigt
hatte; es wird für naturgemäss gehalten und noch besonders zu begründen versucht,
dass gleichzeitig mit diesem Rücklauf auch eine beschleunigte Aufwärtsbewegung der
Mündung stattfinden musste, welche nicht ohne Einfluss auf den Bodenrand und damit
auf die Lage des herausfliegenden Geschosses bleiben konnte.
Es werden zunächst Ermittelungen bei Geschützrohren im Momente des Geschossaustrittes
verlangt und einfache Vorrichtungen dazu aufgeführt.
Diese Ermittelungen würden zunächst dem Ballistiker den wirklichen Abgangswinkel des
Geschosses liefern können, der zur Berechnung der Flugbahn dringend wünschenswerth
ist. – Dann würde mit Hilfe derselben der Geschützconstructeur in den Stand gesetzt
werden, die Mündung, welche bis jetzt der beweglichste
Punkt bei den meisten Geschützarten war, in einen solchen zu verwandeln, der die
Flugbahn und die Kraft der Geschosse nicht mehr schädlich beeinflusst. Aeltere
Geschütze mit mangelhafter Trefffähigkeit und geringer Eindringungstiefe, deren
Geschossachsen starke conische Bewegungen während des Fluges machen, lassen sich
vielleicht durch einfache „Reparaturen“ verbessern. Die Beachtung der
Mündungsbewegung und der Umstände, wovon sie abhängig ist, wird für dringend
nothwendig bei Neuconstruction der Geschütze gehalten, an deren Leichtigkeit und
Beweglichkeit grosse Ansprüche gestellt werden müssen.
Die Leistungen vorhandener Geschütze werden vielleicht dadurch sofort gesteigert,
dass in den Gebrauchsregeln die schädlichsten Erscheinungen der Mündungsbewegung
umgangen werden.
Es wird überhaupt die Vermuthung ausgesprochen, dass die Mündungsbewegung und ihr
Studium die Wirkung der Geschütze in ähnlicher Weise beeinflussen werde, wie es bei
den Gewehren die Untersuchung der Vibrationen der Läufe und die dadurch
herbeigeführte Einführung der Laufmantelrohre gethan hat.