Titel: Bemerkungen über neue Kriegswaffen.
Fundstelle: Band 288, Jahrgang 1893, S. 26
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Bemerkungen über neue Kriegswaffen. (Fortsetzung des Berichtes S. 1 d. Bd.) Mit Abbildungen. Bemerkungen über neue Kriegswaffen. Belagerungs- und Festungsgeschütze. Als Neuerung sei die 17,8 cm-(7zöllige) Haubitze der nordamerikanischen Union angeführt. Bei derselben ist sowohl der Rückstoss des Rohres, wie der der Laffete durch Bremsen gemildert. Die Schildzapfenlager (zur Aufnahme der Querachse des Rohres) bilden den oberen Theil von Gleitschuhen, welche sich auf Schienen oben auf der Laffetenwandkante bewegen. Beim Schusse zieht der Schuh den Kolben einer vorn befestigten hydraulischen Bremse zurück und drückt gegen eine Säule von Belleville-Federn, welche sich hinten gegen einen Vorsprung lehnt; letzterer bildet gleichzeitig ein zweites Lager für die Schildzapfen bei längeren Transporten des Geschützes. Das Rohr hat an seiner rechten Seite einen Zahnradbogen, welcher in die Schneckenwelle einer an der rechten Wand drehbaren Stange greift; dadurch wird die Höhenrichtung des Rohres bewirkt. Da die Welle auf der Stange verschiebbar (nicht drehbar) ist, so soll sie eine Rohrbewegung in einer der letzteren parallelen Richtung nicht hindern. Eine besondere Bremse geht von der Mitte der Laffetenwände ungefähr bis zur Bettung, mitten zwischen die Auflagepunkte der Räder. Textabbildung Bd. 288, S. 25 Fig. 5.Nordamerikanische 17,8 cm-Haubitze. Die Wände des Rohres dieser Haubitze sind ganz nach Art des Fig. 2a dargestellten leichten Feldrohres construirt, und es ist vielleicht dieser Einrichtung zuzuschreiben, dass das Gewicht nur 1832 k beträgt. (Das Stahlbronzerohr der österreichischen 18 cm-Belagerungshaubitze wiegt 2030 k; beide Geschütze schiessen ein Geschoss vonungefähr 52 k Gewicht, das erstere aber mit 330 m Anfangsgeschwindigkeit, das letztere mit nur 252 m.) Die Beibehaltung der hohen Lage des Rohres fällt besonders auf. Sie gewährt zwar den Nutzen, dass das Geschütz bei einem Sturmangriff gegen seine Batterie sich selber wehren kann; diese Eigenschaft scheint aber in der heutigen Zeit nicht mehr erforderlich zu sein. Kleine, leicht transportirbare Schnellfeuerkanonen oder sogar selbsthätig arbeitende Maxim-Geschütze besorgen die Sicherung von Batterien, ohne grossen Aufwand an Menschenkräften zu erfordern. Wahrscheinlich würde der Ersatz der Haubitzlaffete mit hohen Rädern durch eine niedrige Mörserlaffete einen Gewinn an Bedienungsschnelligkeit, geschützterer Lage und eine grosse Gewichtsersparniss ergeben. Von anderen Angaben über neue Belagerungsgeschütze, z.B. über Mörser, welche den Feldarmeen folgen sollen, muss augenblicklich hier Abstand genommen werden. Inwiefern die Erhöhung der Anfangsgeschwindigkeit von Geschützen bis über 1000 m Bedeutung für den Belagerungskrieg erlangen kann, wird im nächsten Abschnitt berührt werden. Schiffs- und Küstenartillerie. Bei den schweren Schnellfeuerkanonen, welche zum Theil 1892 285 49 u. ff. besprochen worden sind, scheinen bedeutende Neuerungen im letzten Halbjahre nicht vorgekommen zu sein. Vielleicht ist hervorzuheben, dass wahrscheinlich Nordamerika von den Schnelladegeschützen zu den Schnellfeuergeschützen übergegangen ist, d.h. von den Laffeten mit Schlitten auf schiefer Ebene zu denen, welche dem Rohre einen Rücklauf in der Richtung seiner Längsachse (vor dem Schusse) und also nicht nur ein schnelles Laden, sondern auch ein schnelles Richten gestatten. In demselben Lande haben auch Rohre kleineren Kalibers Laffeten mit Bremsen und Federn erhalten, um auf kleineren Schiffen verwendet zu werden, wo die mit der Laffete und dem Schiffskörper fest verbundenen Rohre beim Schusse einen zu grossen Rückstoss verursacht haben würden. Besonders anzuführen ist, dass der französische Constructeur Canet erst eine 5,7 und dann eine 10 cm-Kanone durch Verlängerung auf 80 Seelen weiten auf eine Anfangsgeschwindigkeit von über 1000 m bei einem Gasdruck von weniger als 3000 at gebracht hat. Grössere Geschütze sind in der Anfertigung begriffen; nach einem Kammerbericht lässt das französische Marineministerium sogar ein 90 Kaliber langes 16 cm-Rohr anfertigen. In England hat Armstrong mit einer verlängerten 15 cm-Versuchskanone eine Anfangsgeschwindigkeit von 1121 m erzielt. (Des besseren Verständnisses wegen sei hier eingeschaltet, dass Gewehrläufe ungefähr 80 bis 110 Seelenweiten, Karabinerläufe 40 bis 60 lang sind. Danach würden die genannten Geschützrohre wahrscheinlich ein ähnliches Längenverhältniss haben, wie die Gewehre. Frühere Geschützrohre, eingeschlossen die der nordamerikanischen Feldartillerie, würden in Bezug auf Länge mit Pistolen verglichen werden können.) Der Grundsatz, den Canet vertritt, steht in starkem Gegensatz zu dem oben erwähnten von Longridge. Kurz ausgedrückt lauten beide: Lange Rohre, niedrige Gasspannungen (Canet), Kurze Rohre, hohe Spannungen (Longridge). Die Riesenanfangsgeschwindigkeiten erlauben zunächst auf Entfernungen bis 1500 m ohne jeden Visirwinkel, also auch ohne Aufsatzwechsel zu schiessen; dann aber geben sie durch grössere Durchschlagskraft und Schussweite den damit versehenen Geschützen eine ganz neue Bedeutung. So dürften kleine Schnellfeuerkanonen (von 3 bis 6 cm) mit 1000 m Anfangsgeschwindigkeit eine wichtige Rolle im Festungskriege bekommen, während sie bis jetzt nach offiziellen Angaben (mit 400 bis 600 m Geschwindigkeit) nur für wenige, eng begrenzte Zwecke Verwendung finden. Sie dürften neue Aufgaben in der Beschiessung der Beobachtungsposten des Gegners, seiner Beleuchtungsversuche und seiner Ballons finden. Sie würden damit dem Festungskrieg ein anderes Aussehen geben und vielleicht die Rolle der früheren Wallbüchsen in verbesserter Weise übernehmen. Bei grösseren Kalibern wird durch die Erhöhung der Anfangsgeschwindigkeit eine solche Steigerung der Schussweiten erzielt werden, dass 20, selbst 25 km weite Ziele mit einiger Treffsicherheit beschossen werden können. Diese Entfernung übertrifft aber die mancher Grenzfestungen von dem feindlichen Gebiete. Einige im Frieden an gesicherten Punkten dieses Gebietes aufgestellte schwere Geschütze mit über 1000 m Anfangsgeschwindigkeit können sofort nach der Kriegserklärung ihr Feuer gegen das Innere der Festung beginnen; dadurch werden sie zwar nicht den Krieg entscheiden, wohl aber die Mobilmachung der Festungsbesatzung dann stören, wenn sie nicht ausserhalb des Schussbereiches vorgenommen wird. Diese Geschütze von den nächsten Werken der Festung zum Schweigen zu bringen, dürfte des verhältnissmässig kleinen Zielpunktes wegen, den sie bieten, recht schwer sein. Wenn diese Vermuthungen eintreffen sollten, würden die Bestrebungen von Canet und dem französischen Marineministerium zu Neuerungen in der Festungs- und Belagerungsartillerie führen. Von neuen Küstengeschützen müssen die in Nordamerika eingeführten 30,5 cm-(12zölligen) Mörser ihrer eigenthümlichen Anfertigung wegen berührt werden. Die Rohre bestehen aus einem gusseisernen Kernrohre, auf dessen hinterem Theile zwei Lagen von Stahlringen warm aufgezogen sind. Das Metall des Kernrohres ist in einem offenen Herde in der sorgsamsten Weise durch Einschmelzen von Holzkohleneisen gewonnen. Nach dem Gusse wird das Innere des Rohres durch Abkühlen mit Wasser gehärtet, während Sorge getragen ist, dass die Aussenwand nur langsam erkaltet. In Folge der sorgsamen Herstellung werden diesem Mörser ganz bedeutende Anstrengungen zugemuthet, er soll z.B. Geschosse von 377 k mit 366 m Anfangsgeschwindigkeit verschiessen. Messen von Geschossgeschwindigkeiten. In den sechziger Jahren nahm die Waffen- und Pulverfabrikation einen grossen Aufschwung durch Einführungdes Messens der Geschwindigkeiten mit Hilfe der Elektricität. Durch eine Erfindung des französischen Kapitäns Gossot (beschrieben im Engineer, 17. Mai 1892) ist eine erwähnenswerthe Erleichterung dieses Messens ermöglicht. Bekanntlich wird bei Geschützen die Anfangsgeschwindigkeit u.a. so gemessen, dass das Geschoss zwei Drähte durchschlägt und damit zwei Stromläufe unterbricht; ein besonderer Apparat, der le Boulengé'sche Chronograph (oder besser: Chronoskop) gibt die Zeit an, welche zwischen beiden Unterbrechungen liegt, also die, welche das Geschoss für seinen Flug zwischen den Drähten gebraucht. Jeder Draht ist in einem Rahmen so befestigt, dass er durchschlagen werden muss (Fig. 6a). Der Draht des ersten Rahmens liegt in einem Stromlauf, der einen Eisencylinder umkreist und veranlasst wird, eine Eisenstange aufgehängt zu tragen. Durch eine Unterbrechung des Stromes fällt die Stange an der Schneide eines Messers vorbei, welches, durch eine Feder vorwärts getrieben, zum Anschlagen gebracht wird, wenn eine zweite Stange, von der Unterbrechung eines Stromes im zweiten Rahmen zu Falle gebracht, die vorhandene Sperrvorrichtung ausgelöst hat. Es wird also die Fallhöhe bestimmt und daraus die Geschwindigkeit berechnet (Einzelheiten der Rechnung und des Apparates können hier nicht angegeben werden; eine neuere Beschreibung gibt Engineering 30 V 1890). Textabbildung Bd. 288, S. 26 Fig. 6.Messen von Geschossgeschwindigkeiten. a Bisheriger Gebrauch des le Boulengé'schen Apparates bei Geschützen; b Gebrauch des Boulengé'schen Apparates bei Gewehren; c Unterbrecher von Gossot (Schema); d Gebrauch desselben. Das Durchschiessen der beiden Drähte war ein Uebelstand, welchen der Unterbrecher von Gossot bei Geschwindigkeiten über 330 m abstellte. Dieses Instrument beruht auf der Mach'schen Luftwelle (1891 281 129), welche ein Geschoss erzeugt, wenn es eine Geschwindigkeit hat, die grösser ist, als die des Schalles. Diese Welle bringt ein 0,1 mm starkes Metallplättchen, welches durch den Brennpunkt eines Paraboloids gelegt ist, zum Schwingen (Fig. 6c). Der Beginn des Schwingens unterbricht die Berührung des Plättchens mit einer Metallkugel, welche durch eine Feder gegengedrückt wird. Wenn nun durch Paraboloid, Plättchen, Kugel und den Elektromagneten der ersten Stange des le Boulengé'schen Apparates ein Strom läuft, dann bringt die Luftwelle eines Geschosses diese Stange zu Fall und in gleicher Weise durch einen zweiten Gossot'schen Unterbrecher die zweite (Fig. 6d). Jedes Unterbrechungsparaboloid ersetzt also einen der früheren Drahtrahmen. (Es muss hier bemerkt werden, dass der im Engineer beschriebene Apparat noch eine besondere Einrichtung hat, um bei einer anderen Art von Apparaten zum Messen von Geschwindigkeiten gebraucht zu werden; weil bei uns in Deutschland fast nur die le Boulengé'schen gebraucht werden, so ist die Beschreibung der besonderen Einrichtung unterlassen.) Die Erfindung des Apparates lag nahe, wenn man das Messen der Anfangsgeschwindigkeiten bei Gewehren in Betracht zieht (Fig. 6b). Hier wird der erste Draht dicht vor der Mündung an einer aufgeschraubten Kappe befestigt; der zweite Strom läuft durch den Berührungspunkt einer um eine wagerechte Achse drehbaren Tafel mit einem festen Metallknopf; trifft ein Schuss diese Tafel, so weicht sie etwas zurück und macht die verlangte Unterbrechung, dann aber wird die Tafel sofort wieder vorgedrückt durch eine besonders angebrachte Feder und der Contact wieder hergestellt. Die letztere Unterbrechungsart gibt vielleicht das Vorbild des paraboloidischen Unterbrechers. Der Nutzen des Gossot'schen Apparates besteht darin, dass keine Arbeit nöthig ist, um Drähte zu verbinden, dass bei allen Geschossen, auch bei den mit Zündern versehenen, gemessen werden kann; ohne also andere Zwecke eines Schiessens zu behindern, kann man ganz beiläufig durch Geschwindigkeitsmessungen die Güte des gebrauchten Pulvers z.B. bestimmen. Es unterliegt auch gar keinem Bedenken, vor der Mündung Gossot'sche Unterbrecher, am Ziele aber, wo vielleicht die Geschwindigkeiten unter 330 m sinken, andere anzuwenden. Es wird dadurch das Messen von Geschwindigkeiten und ganzen Flugzeiten eine so leicht auszuführende Arbeit, dass diese Messungen in ganz anderem Umfange als bisher angestellt werden können. Vielleicht werden dadurch ganz neue Kenntnisse über den Flug der Geschosse erzielt (in einem späteren Abschnitte wird dies besprochen). (Es sei hier eingeschaltet, dass le Boulengé'sche Apparate auch zum Messen von Flugzeiten [also längeren Zeiten] eingerichtet sind; an Stelle des Fallraumes eines Stabes wird dann die Masse ausfliessenden Quecksilbers zur Bestimmung benutzt.) Messen von Gasspannungen. Die Bestimmung der Gasspannungen im Inneren des Rohres während eines Schusses ist eine Sache von der grössten Wichtigkeit; aber die bisher angewandten Verfahren sind noch immer recht verbesserungsfähig. Nach der Revue de l'armée belge, 1892 Bd. 2, ist in Spanien für Gewehre ein Apparat eines Lieutenants Losada im Gebrauch, welcher recht zweckmässig erscheint. Der Apparat (Fig. 7b) besteht zunächst aus einem Rohrstück, welches an das hintere Laufende an Stelle der Verschlusshülse geschraubt wird. In dieses Stück wird, nachdem eine Patrone in den Lauf geschoben, ein Metallcylinder so eingesetzt, dass der Patronenboden beim Schusse gegen ihn drückt. Der Cylinder soll nun diesen Druck auf ein hintergelegtes Kupferstück übertragen, dessen hintere Seite sich unbeweglich gegen eine in das Ende des Rohrstückes eingeführte Schraube lehnt. Durch den Druck wird eine Stauchung des Kupfers hervorgerufen, welche mit der verglichen werden kann, welche ein ruhendes oder ein fallendes Gewicht verursacht. In recht praktischer Weise hat Losada eine Anzahl von Kupferstollen mit verschiedenen Gewichten vor dem Versuche gestaucht; vor dem ersten Schuss setzt er einen passend gewählten ein und schraubt die hintere Schraube so, dass das Kupfer weit genug vorsteht, um gestaucht zu werden (die feste seitliche Lagewird durch Papp- oder Ledereinlagen bewirkt). Ist dies geschehen, so wird beim zweiten Schuss ein Stollen genommen, der von einer grösseren Kraft gestaucht worden war; bekommt dieser keine Stauchung, so steht die Gasspannung der untersuchten Patrone zwischen den Kräften, mit welchen beide Kupferstollen vorher gestaucht worden waren. In ähnlicher Weise kann man den Gasdruck einer Patrone zwischen immer engeren Grenzen ermitteln. Zum Abfeuern muss ein Schlagbolzen oder ein Stift in das Zündhütchen des Patronenbodens geschnellt werden; zur Aufnahme des zugehörigen Apparates sind der Metallcylinder zum Uebertragen des Druckes und das Rohrstück mit Schlitzen versehen. (Die nähere Einrichtung ist nicht von Belang; ein rechteckiges Eisenstück in der Fig. 7b soll eine einfache Vorrichtung zum Spannen der Feder vorstellen.) Das Mittel Losada's, sich durch eine eigene Art der Messungen von der Ungleichförmigkeit der Kupferstollen frei zu machen, ist leider bei Geschützen nicht gut möglich, weil es zu viel Munition und Zeit kosten würde. Hier muss ein weniger sicheres Verfahren durch Aufstellen einer Tabelle stattfinden, welche ablesen lässt, welcher Druck einer bestimmten Stauchung des Kupferstollens entspricht (Rev. d'artill., 15. Juli 1892 S. 352 u. ff., Compt. rend. de l'acad. des sciences, Paris 20. Juni 1892). Der Apparat zum Messen der Gasspannungen durch Stauchen (Manomètre crusher) wird bei Geschützen meist in besonderen Ausbohrungen der Verschlüsse untergebracht. Textabbildung Bd. 288, S. 27 Fig. 7. a Messen von Geschossgeschwindigkeiten; b Messung nach Losada. Fig. 7a stellt die Anbringung eines Stauchapparates seitwärts vom Laufe dar. Diese Anordnung hat sich nicht bewährt; noch unbrauchbarer waren Messungen an noch weiter vorgeschobenen Punkten. Nach einer Ansicht gibt der Apparat viel zu grosse Stauchungen, wenn er vorwärts der Patrone angebracht ist, weil der Druck der Gase „schlagartig“ wirken soll, nach einer anderen viel zu geringe. Nach anderweitigen Versuchen ist bei Gewehren das letztere das Wahrscheinlichere; es scheint nämlich, als ob die Spannung eines in einem engen Raume eingeschlossenen Gases sich nur dann gleichmässig nach allen Seiten verbreiten kann, wenn genügend Zeit vorhanden ist; diese Zeit scheint den Gasen im Laufe aber zu fehlen. (Prof. Vogel gibt in Glaser's Annalen, 15. November 1892 S. 192, eine beachtenswerthe Bemerkung über diesen Punkt.) Auf Grund dieser widersprechenden Ansichten darf man wohl behaupten, dass die Erfahrungen über Gasdrücke recht mangelhaft sind und dass Vergleichungen solcher Gasdrücke, welche von verschiedenen Personen gemessen wurden, mit Vorsicht aufzufassen sind. Forschungen über den Geschossflug. Die Nitratpulver sind mit ihren grossen Geschossgeschwindigkeiten die Ursache geworden, dass die Lehre vom Geschossfluge zwei Umstände besonders in Betracht zu nehmen hat, welche früher sehr vernachlässigt wurden, nämlich den Luftwiderstand und die Rotation. Die Bedeutung des ersteren zeigte sich schon oben bei der Besprechung der Gewehre von 620 und 730 m Anfangsgeschwindigkeit; sie tritt noch mehr hervor durch einen Vergleich wirklicher Flugbahnen mit den errechneten des luftleeren Raumes. Fig. 8 soll den Vergleich erleichtern; in den vier oberen Skizzen ist jedesmal eine der Flugbahnen von 300, 450, 620 und 730 m mit einer solchen des luftleeren Raumes zusammengestellt, welche denselben Abgangswinkel, und einer solchen, welche dieselbe Schussweite hat. Bei 300 m Geschwindigkeit ist noch eine gewisse Aehnlichkeit zwischen den Bahnen vorhanden, bei 450 nur eine geringe, bei 630 und 720 m ist es bedeutend leichter, in der Zeichnung die Flugbahn des leeren Raumes mit der nächst gelegenen geraden Linie, wie mit der wirklichen Bahn zu vergleichen. Es beträgt die Schussweite im luftleeren Raume für dieselben Verhältnisse, die eine Entfernung beim Mannlicher-Gewehr von 1600 m bedingen, 6128 m. Erstgenannte Schussweite würde im luftleeren Raume mit einem Viertel des angewandten Abgangswinkels erreicht werden. In früheren Zeiten pflegte im physikalischen Unterricht die Bahn des leeren Raumes eingehender besprochen zu werden; aber es fragt sich doch, ob das jetzt noch von Werth ist. So wurde z.B. darauf hingewiesen, dass bis zum Scheitel die Geschwindigkeiten ab-, von da ab wieder zunehmen; in Wirklichkeit nimmt, wie schon Fig. 1c angibt, die Geschwindigkeit bei allen Gewehren stets ab; nur bei einigen sehr grossen Flugbahnen von Geschützen geben die Schusstafeln für ein sehr kleines Endstück eine geringe Zunahme an Geschwindigkeit. Dann pflegten mathematische Eigenschaften einer Parabel mit senkrechter Achse besprochen zu werden. Zum Beweise, dass dies misslich ist, stellt die letzte Skizze der Fig. 8 die Flugbahn des Mannlicher-Gewehrs für 2500 m dar; hier ergibt sich deutlich, dass der Einfallwinkel fast doppelt so gross wie der Abgangswinkel ist, dass der Gipfel viel näher dem Ende der Bahn liegt als dem Anfange, und dass letzterer beinahe eine gerade Linie ist, während das erstere sich stark krümmt. Textabbildung Bd. 288, S. 28 Fig. 8.Aehnlichkeiten der wirklichen Flugbahnen und der parabolischen, sonst und jetzt. Um eine Flugbahn als „Parabel“ annehmen zu können, bedarf es endlich der Voraussetzung, dass die Erde eine unbegrenzte Ebene sei und die Schwerkraft senkrecht undin jeder Höhe gleich stark wirke. Wenn diese Voraussetzungen nicht mehr gemacht werden dürfen, so muss nach alten Ermittelungen tüchtiger Mathematiker die Flugbahn im luftleeren Raume als „Ellipse“ betrachtet werden. Ebenso wie die sogen. „parabolische Theorie“ nicht richtig, so ist sie auch nicht nöthig, um etwa die Gleichung der wirklichen Flugbahn herzuleiten. Diese Gleichung kann unmittelbar aus allgemein bekannten Beziehungen zwischen Kräften und Widerständen hergeleitet werden, ohne dass man den Begriff „Parabel“ berührt. Als ein neues Beispiel hierfür sei der Ansatz der Flugbahngleichungen durch Gilman in The Journal of the Franklin-Institution, October 1891 S. 267, angeführt: \frac{d^2\,x}{d\,t^2}=-c\,\frac{d\,x}{d\,t} \frac{d^2\,y}{d\,t^2}=-g-c\,\frac{d\,y}{d\,t} (Hierbei ist angenommen, dass der Luft-widerstand = einem Coefficienten [c]malder einfachen Geschossgeschwindigkeitsei.) Für den Wegfall der „parabolischen Theorie“ aus dem physikalischen Unterricht spricht ausser den obigen Gründen auch noch der Umstand, dass technische Zeitschriften von heutzutage vielfach ballistische Fehler bringen, die nachweislich nur durch Verwechselung der wirklichen Flugbahn mit einer Parabel entstanden sind. Mit dem bisher Gesagten würden auch derartige Irrthümer verschwinden. Die eben gegebenen Formeln für das wirkliche Schiessen können auch benutzt werden, um zu zeigen, wie nothwendig eine Aenderung der Formeln für die wirklichen Flugbahnen der neuesten Geschütze ist. Während die angeführten noch für die beschriebenen nordamerikanischen Feldgeschütze brauchbar sein werden, sind sie es z.B. nicht mehr für den oben berührten gusseisernen 30,5 cm-Küstenmörser. Dieser hat eine Schussweite von beinahe 10 km (6 Miles) und wird eine grösste Flughöhe von weit über 4 km haben. Die obigen Formeln basiren auf der Annahme eines rechtwinkeligen Coordinatensystems, also darauf, dass die y- senkrecht zur x-Achse steht und die Beschleunigung der Erde parallel zu ersterer wirke. Dies ist nicht ganz der Fall, denn zwei um 10 km entfernte senkrechte Linien auf zwei gleich hohen Punkten der Erdoberfläche schneiden sich verlängert unter einem Winkel von 5 Minuten. Ferner nimmt die Beschleunigung (g) mit jedem Kilometer Höhe über der Erde annähernd um 2 mm ab, also in diesem Falle mindestens 8, möglicher Weise 10 mm bis zum Scheitel der Bahn. Da die Geschosse sich verhältnissmässig lange in dem oberen Theile der Bahn aufhalten, so wird der oben angegebene Ansatz Gilman's für die grösste Mörserflugbahn ohne weiteres nicht berechenbar sein, da „g“ eine „unbekannte“ Grösse ist, welche allerdings zwischen 9,802 und 9,812 m liegt; der Fehler wird ein bedeutender sein, wenn die Schussweite das Doppelte und Dreifache erreicht und, das kann in der nächsten Zeit schon stattfinden. (In den eben gegebenen Formeln war der Luftwiderstand gleich einer besonders zu ermittelnden Grösse gesetzt, mal der einfachen Geschwindigkeit. Beiläufig sei bemerkt, dass diese Annahme in Europa weniger gebräuchlich ist; hier wird der Luftwiderstand gleich einer zu bestimmenden Grösse mal dem Quadrate, der dritten, vierten u.s.w. Potenz der Geschwindigkeit angenommen. Es ist aber der Coefficient durchaus nicht ein „constanter“ für die ganze Flugbahn, sondern einen Werth hat er nur für Geschwindigkeiten innerhalb bestimmter Grenzen. In der Dehnbarkeit der Grösse des Coefficienten liegt es, dass man nicht anzunehmen braucht, die Formeln müssten sich widersprechen; sie können theoretisch alle brauchbar sein; der Flugbahnrechner [Ballistiker] muss sich die beste aussuchen.) Textabbildung Bd. 288, S. 29 Fig. 9.Luftwiderstand bei Geschwindigkeiten von 0 bis 500 m. Wie die Grösse des Luftwiderstandes von der Geschwindigkeit abhängt, ergibt sich aus folgender Skizze (Fig. 9), in welcher die wagerechten Quadratseiten Geschossgeschwindigkeiten, die senkrechten Luftwiderstandsgrössen darstellen. Der Luftwiderstand ist errechnet aus den Geschwindigkeitsunterschieden, die ein Geschoss auf zwei Strecken einer Flugbahn zeigt. (Der Deutlichkeit wegen ist eine ältere Skizze von Mayewski-Siacci wiedergegeben. Rev. d'artill., Bd. 17 S. 59.) Die Skizze verdeutlicht die eigenthümliche Erscheinung, dass der Luftwiderstand von 0 bis beinahe 300 m Geschwindigkeit (AB) ziemlich gleichmässig gross bleibt, dann aber plötzlich ungeheuer rasch zunimmt (BC) und dann wieder bis über 500 m eine ziemlich gleich bleibende Grösse beibehält. Für den auffallenden Knick lauten die Geschwindigkeits- und Luftwiderstandszahlen: bei 172 m : 0,0152, bei 282 m : 0,0163, 409 m : 0,0430, 512 m : 0,0443. Aufgeklärt ist diese Erscheinung noch nicht; ihre Wichtigkeit wird vielleicht folgende Ausführungen entschuldigen: Nach einer Ansicht werden bei kleinen Geschwindigkeiten die Lufttheilchen durch das Geschoss verdrängt, bei Seite geschoben, bei grossen aber vorwärts geworfen auf dort schon befindliche, hierbei drücken sie sich mit diesen zusammen und zur Seite. Diese beiden verschiedenen Arten der Luftbewegung sollen die erheblich von einander verschiedenen Widerstände bei kleinen und bei grossen Geschwindigkeiten bedingen. Zu einer anderen Ansicht kann man durch folgende Folgerungen gelangen: In der Rev. d'artill., 15. Juli 1892, wird in einem Aufsatze über den Luftwiderstand dargelegt, dass ein durch die Luft fallender Körper weniger schnell sinkt als ein im luftleeren Raume fallender, und ein in wagerechter Richtung durch die Luft geworfener noch langsamer als der erstere. Ein Mr. Marty hat letztgenannte Thatsache photographisch festgestellt. Die Verzögerung des Falles (oder Verminderung des durchfallenen Raumes) muss der Einwirkung, also gewissermaassen dem „Tragen“ der Luft zugeschrieben werden, und zwar wird angenommen, dass beim Wurf in wagerechter Abgangslinie der Luftwiderstand von unten mehr oder weniger schräg gegen die geschleuderte Kugel wirkt. Eine Angabe im französischen Règlement sur l'instruction du tir 1883, S. 232, lässt sich vielleicht mit dieser Bemerkung zusammenbringen. Die Angabe besagt, dass ein Gewehrgeschoss im luftleeren Raume mehr fallen würde, als es fällt, wenn es verschossen worden ist. Es stellt sich dabei die überraschende Thatsache heraus, dass nach der Schusstafel für das Gras-Gewehr auf grossen Schussweiten die Fallstrecke um ⅓ vermindert wird. Man kann nun diese Andeutung weiter verfolgen und folgende Zusammenstellung aus Schusstafeln entnehmen; danach hat der gegen das verschossene Geschoss wirkende Luftwiderstand die Fallstrecke vermindert bei: derösterr.18 cm-Hau-bitzev0 =252 m dem österreichischen demösterr.GewehrM. 88v0 =630 m demfranz.Gras-Gewehr1874v0 =520 m 12 cm-Be-lagerungs-geschütz 9 cm-Feldgeschütz v0 = 516 m v0 = 448 m v0 = 191 m Proc. Proc. Proc. Proc. Proc. Proc auf  300 m   2,65   1,1     3,3 1 11 (– 3)   „   600 „ 2,3   6,5     6,4   1,9 14     8,4   „ 1200 „ 4,5 11,9   11,6   5,2 19   24,6   „ 1800 „ 3,4 13,3   14,8   8,2 22 34   „ 2100 „  „ 2250 „ 2323   „ 2400 „ 5,7 14,6   16,5   „ 3000 „ 5,1 16,2 17   „ 4800 „ 7,9 18,6   18,8   „ 6000 „ 19,7   20,9   „ 6300 „   21,2   „ 6375 „   21,3 –––––––––   „ 6450 „   20,6   „ 7000 „ 20,2   „ 7500 „   20,73 –––––––––   „ 8000 „     20,674 v0 soll heissen: Anfangsgeschwindigkeit. Die Zahlen für die 12 cm-Kanone lauten von 7400 m ab bis 8000 in: 20,313 –,73 –,47, 20,47 –,671 –,54 und 20,674. Aus diesen Zahlen ergibt sich zunächst, dass auf kleinen Entfernungen das „Tragen“ durch den Luftwiderstand sehr gering ist, also von letzterem allein, der dort am grössten, nicht abhängig ist. (Die Zahlen für das österreichische Gewehr würden sich etwas anders gestalten, wenn die Angaben der Schusstafeln für die Flugzeiten vielleicht noch eine Decimalstelle mehr hätten.) Für einen weiteren Vergleich ist dann ein Unterschied zwischen den Geschossen mit grosser und mit kleiner Geschwindigkeit zu machen. Bei letzteren, d.h. beim Feldgeschütz mit v0 = 191 m und bei der 18 cm-Haubitze mit v0 = 252 m, verringert die Luft das Fallen der Geschosse nur um wenige Procent; grosse Abgangswinkel oder grosse Flugzeiten kommen hier vor; jeder dieser Umstände für sich allein erwirkt also nicht eine tragende Einwirkung der Luft. Bei grosser Geschwindigkeit tritt von 600 m ab zunächst eine starke Vermehrung dieser Einwirkung ein: später vermindert sich diese Vermehrung, es findet endlich gar keine mehr statt (österreichisches Gewehr bei 2100 und 2250 m, 12 cm-Kanone von 7400 bis 8000 m), oder es beginnt sogar wieder eine Annäherung der Fallstrecken, welche die Geschosse wirklich zurücklegen, an die des luftleeren Raumes (Feldgeschütz bei 6375 m). Wenn vielleicht die plötzliche Zunahme des Luftwiderstandes bei Geschossgeschwindigkeiten zwischen 300 und 400 m (Fig. 7) eigenthümlich erscheint, so muss das anfangs geringe, dann stark zunehmende, dann wieder schwach werdende und endlich abnehmende Tragen der Luft bei derselben Flugbahn einen noch wunderbareren Eindruck machen. Einen Fingerzeig zur Erklärung dieser eigenthümlichen Erscheinung gibt vielleicht die Thatsache, dass durch die Erhöhung der Umdrehungsgeschwindigkeit eines Geschosses sich die Schussweite vergrössert hat (bei Beibehaltung oder sogar Verminderung von Anfangsgeschwindigkeit und Abgangswinkel). Hier scheint die tragende Eigenschaft des Luftwiderstandes deutlich mit der Rotation zusammenzuhängen. Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Rotation und Luftwiderstand besteht vielleicht auch bei den Geschossen des österreichischen Feldgeschützes mit grossen und kleinen Ladungen, bei welchen die Anfangswinkelgeschwindigkeiten III und 47 Umdrehungen betragen. Bevor weitere Schlüsse für Geschosse gemacht werden, sei auf anderweitige Ermittelungen über den Flug cylindrokonischer Körper mit grosser, kleiner und mit gar keiner Umdrehungsgeschwindigkeit verwiesen. Wirft man einen derartigen Körper mit grosser Winkelgeschwindigkeit so durch die Luft, dass die geometrische Achse, um welche die Drehung erzeugt wurde, und die Abgangsrichtung zusammenfallen, so bemerkt man deutlich sein Bestreben, diese Lage beizubehalten. Die Projectionen des Körpers auf die zu den Flugbahntangenten senkrechten Ebenen sind also durchaus keine Kreise; es wird der gegen die Vorwärtsbewegung wirkende Luftwiderstand um so grosser sein, je grosser diese projicirte Fläche ist (also je grosser der Winkel zwischen Geschossachse und Flugbahn). Die gegen die vordere und untere Seite des sich drehenden, fliegenden Körpers wirkende Luft muss auch einen Einfluss auf die Drehbewegung haben. Um die Sache vorzeitig nicht zu verwickeln, kann man zunächst dahingestellt sein lassen, ob die hier in Betracht kommenden Lufttheilchen bei Seite geworfen werden oder sich an der Geschosswand reiben, jedenfalls muss die Möglichkeit zugestanden werden, dass bei diesen drehenden und fliegenden Körpern die Rotationsgeschwindigkeit durch den Luftwiderstand beeinflusst wird und dass also eine grosse in eine kleine verwandelt werden kann. (Schluss folgt.)