Titel: | Die Zunahme der Schnellzugsgeschwindigkeiten in Frankreich von 1854 bis 1895. |
Fundstelle: | Band 301, Jahrgang 1896, S. 10 |
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Die Zunahme der Schnellzugsgeschwindigkeiten in
Frankreich von 1854 bis 1895.
Mit Abbildungen.
Die Zunahme der Schnellzugsgeschwindigkeiten in Frankreich von 1854
bis 1895.
In der am 8. November 1895 abgehaltenen Sitzung der Gesellschaft der Civilingenieure in Paris machte R. Varennes über die auf den französischen Hauptbahnen im Verlaufe der
letzten 40 Jahre vor sich gegangene Erhöhung der Schnellzugsgeschwindigkeiten
interessante Mittheilungen (vgl. Mémoires et compte rendu
des traveaux de la société des ingénieurs civils de France, Novemberheft
1895 S. 489), welche er, unter Betonung des grossen und einschneidenden Interesses
der Frage einer beschleunigten Personenbeförderung, mit einem kurzen Hinweis auf die
in den letzten Jahren in Amerika wie in England stattgehabten Wettfahrten von Eisenbahnzügen und die
in diesen beiden Ländern daraus hervorgegangene Zunahme der Fahrgeschwindigkeiten
einleitet.
Textabbildung Bd. 301, S. 11
Fig. 1.Graphische Darstellung der grössten Zugsgeschwindigkeiten auf den
französischen Hauptbahnen (von 1854 bis 1896).
Um die im Laufe der besagten Zeitperiode von den französischen Bahngesellschaften
gemachten Fortschritte in einfacher übersichtlicher Weise darzustellen, hat Varennes auf Grundlage der betreffenden officiellen
Fahrpläne die jeweiligen Durchschnittsfahrgeschwindigkeiten der auf den
französischen Hauptbahnen in Verkehr gestandenen schnellsten
Züge (Expresszüge) in einer graphischen Tafel (Fig. 1) zusammengefasst, aus welcher sich mit einem einzigen Blick
entnehmen lässt, wie weit die einzelnen Eisenbahnverwaltungen Jahr für Jahr bestrebt
gewesen sind, sich bis auf die jetzigen Durchschnittsgeschwindigkeiten
emporzubringen. Bekanntlich unterscheidet man für gewöhnlich zweierlei Arten von
Fahrgeschwindigkeiten, nämlich a) die sogen. commercielle, für deren Berechnung die gesammte Zeit, welche vom Momente
der Abfahrt des Zuges in der Ausgangsstation bis zum Eintreffen in der Endstation
verfliesst, als Basis dient, ohne Rücksicht auf die in den Zwischenstationen etwa
auflaufenden Fahrtunterbrechungen, dann b) die sogen. wirkliche Fahrgeschwindigkeit, d. i. die thatsächliche Schnelligkeit der
Fortbewegung in jedem Augenblicke der Fahrt, welche selbstverständlich
immerwährenden Veränderungen unterliegt. Theilt man die Fahrzeiten mit oder ohne Zuziehung
der Aufenthalte in den Zwischenstationen durch die Länge der Fahrstrecke, so ergibt
sich ersterenfalls die commercielle, letzteren falls
die sogen. wirkliche Durchschnittsgeschwindigkeit. Vom
Standpunkte der Zugförderung jedoch, von welchem die in der Ueberschrift angedeutete
Frage betrachtet werden muss, kann die vorgedachte gewöhnliche Bestimmungsweise der
wirklichen Durchschnittsgeschwindigkeit der
Eisenbahnzüge keineswegs für richtig gelten, weil das jedesmalige Anhalten des Zuges
in einer Zwischenstation eine doppelte Einbusse bedeutet, indem die Fahrt weder bei
voller mittlerer Geschwindigkeit urplötzlich abgebrochen, noch in dieser Art wieder
fortgesetzt werden kann, und weil sonach nebst dem Zeitverluste für das wirkliche
Stillstehen auch die Zeitverluste für das Anhalten und Anfahren in Rechnung zu
ziehen sind. Diese Nebenverluste schätzen die französischen Bahnen in der Regel mit
je 1 Minute, das gibt für jede Zwischenstation 2 Minuten, welche behufs einer
gerechten Beurtheilung von der Fahrzeit ebenso in Abzug gebracht werden müssen, wie
die Dauer des eigentlichen Stillstandes. In dieser Weise sind denn auch die in Fig. 1 ausgewiesenen Fahrgeschwindigkeiten, welche man
etwa mit dem Namen „Durchschnittsgeschwindigkeiten der
vollen Fahrt“ bezeichnen könnte, ermittelt worden. Desgleichen
wurden für die graphische Darstellung, wie bereits erwähnt, immer nur die jeweiligen
schnellsten Züge der ausgewiesenen Bahnen in Betracht gezogen, nämlich für die
Ostbahn der Expresszug von Paris nach Nancy, für die Südbahn jener von Bordeaux nach
Cette, für die Nordbahn der von Paris nach Calais, ferner betreffs der Orleansbahn
der Expresszug von Paris nach Bordeaux, für die Westbahn jener von Paris nach Haver
und schliesslich für die Paris-Lyon-Mittelmeerbahn der Expresszug Paris-Marseille.
Auf den durch diese Züge befahrenen Strecken sind nirgends so scharfe Krümmungen
vorhanden, dass hierdurch irgendwie eine nennenswerthe Verlangsamung der Fahrt
bedingt würde, und was die Gefällsverhältnisse anbelangt, so betragen die
hauptsächlichst vorkommenden Steigungen nur 1 bis 5 ‰; steilere Strecken haben die
in der Tabelle Fig. 1 aufgenommenen Züge hingegen zu
überwinden: auf der Ostbahn 11 km, d. s. 3 Proc. der ganzen Fahrt mit 8 ‰ Steigung,
auf der Nordbahn 21 km, d. s. 7,1 Proc. der Gesammtstrecke theils mit 7 ‰, theils
mit 8 ‰ Steigungen, ferner auf der Paris-Lyon-Mittelmeerbahn 31 km, d. s. 3,5 Proc.
der Fahrt mit 8 ‰, und endlich auf der Orleansbahn 9 km, d. s. 1,5 Proc. der ganzen
Strecke, gleichfalls mit 8 ‰ Steigung. Schliesslich bleibt hinsichtlich der
Ermittelung der in Fig. 1 zur Darstellung gebrachten
Daten noch zu erwähnen, dass die Stundenkilometer durchwegs auf Ganze abgerundet
worden sind, indem die Bruchtheile bis incl. 5/10 vernachlässigt und jene über 5/10 als ein
Ganzes zugeschlagen wurden.
Bei einer näheren Betrachtung der Tafel sieht man fürs erste, dass mehrere Züge auf
französischen Bahnen bereits vor 40 Jahren mit 60 bis 63 Std./km
Durchschnittsgeschwindigkeit gefahren sind; eine für diese Zeit gewiss
bemerkenswerthe Erscheinung. Bei jenen Bahnen, welche 1854 bis 1860 wesentlich
niedrige Geschwindigkeiten aufweisen, beruht dies auf dem Umstände, dass sie eben
erst entstanden waren und sich also in den ersten Anfängen ihrer Entwickelung
befanden; vom Jahre 1865 an sind sich die Verhältnisse aller ausgewiesenen sechs
Bahnanstalten auffällig nahe gerückt, bis sie 1875 fast ganz zusammenfallen. Ein
Jahr später macht jedoch die Orleansbahn plötzlich einen mächtigen Sprung nach
vorwärts, so dass sie alle übrigen Bahnen weit überholte, allein seitdem, oder
wenigstens seit 1879, wo ihre Expresszüge die normale Durchschnittsgeschwindigkeit
von 73 Std./km an
genommen haben,
weist sie keine weitere Erhöhung mehr auf. Angespornt durch das von der Orleansbahn
gegebene gute Beispiel, waren auch die meisten anderen Bahnen bestrebt, die
Geschwindigkeit ihrer Expresszüge – allerdings nicht so sprunghaft wie die erstere,
sondern langsam, aber stetig – zu erhöhen. Wenn schliesslich der Stand von 1895 in
Betracht genommen wird, so findet man, dass in den letzten Jahren die französische
Nordbahn den grössten Vorsprung gewonnen hat, indem ihre Expresszüge von Paris nach
Calais eine wirkliche Durchschnittsgeschwindigkeit von 82 Std./km besitzen.
Ausserdem verkehrte in diesem Jahre (1895) auf der Nordbahnstrecke Paris-Lille ein
Expresszug Nr. 317, welcher eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 85 Std./km erreicht
und deshalb in Fig. 1 besonders eingezeichnet
erscheint. Diesen bemerkenswerthen Fortschritt verdankt die Nordbahn ihrem früheren
Präsidenten du Bousquet, und sein Verdienst ist es
demnach, dass Frankreich Züge aufweist, welche schneller fahren, als jene im ganzen
übrigen europäischen Festlande, und die sich ganz wohl mit den raschesten Zügen
Englands in eine Reihe stellen lassen, ganz abgesehen von Amerika, wo mit Ausnahme
des bekannten Empire-State-Express-Zuges nur die gewöhnlichen Fahrgeschwindigkeiten
vorkommen. Die Betriebsleitung der französischen Nordbahn war es auch, welche
hinsichtlich der Einführung des Verbundsystems und der Drehgestelle für
Schnellzuglocomotiven den Impuls gegeben und die ersten praktischen Erfolge damit
erzielt hat. Was nun die Westbahn anbelangt, welche in der Tabelle die bescheidenste
Stelle (bei 67 km) einnimmt, so gab es auf derselben schon seit 1854 bis 1893 keine
einschneidende Erhöhung der Geschwindigkeiten. Zwischen der Nordbahn und Westbahn
halten die übrigen vier Verwaltungen mit 72 bis 73 Std./km nahezu die Mitte. Als bedauerlich
darf es angesehen werden, dass die Orleansbahn, auf den Lorbeeren ausruhend, welche
sie bereits 1876 so glänzend errungen hafte, sich so weit von der Nordbahn überholen
liess. Ganz erhebliche Fortschritte hat jedoch in den letzten Jahren, wie Fig. 1 erkennen lässt, die Paris-Lyon-Mittelmeerbahn
gemacht; dieselben sind lediglich eine günstige Folge der Einführung von
viercylindrigen Compoundmaschinen mit Serve'schen
Röhrenkesseln. Wenn nun trotz der verwendeten vorzüglichen Locomotiven die
Expresszüge zwischen Paris und Marseille keine grössere Geschwindigkeit aufweisen
als 73 Std./km so
liegt die Schuld daran einfach nur in der ganz ausserordentlich grossen Belastung
dieser Züge. Gewiss ist es nicht uninteressant, die Strecken kennen zu lernen, wo
die in Fig. 1 ausgewiesenen Züge ihre grösste, nach
dem eingangs erläuterten Verfahren berechnete Durchschnittsgeschwindigkeit
besitzen:
Zug
Minuten
Std./km
Busigny-St.-Quentin, (Nordbahn) 27 km:
Nr. 112
braucht hierzu 19,
das gibt 95
Paris-Longueau (Nord- bahn) 126 km:
„ 311
„ „ 90,
„ „ 86
Bordeaux-Langon (Südbahn) 42 km:
„ 101
„ „ 33,
„ „ 81
Paris-Reims (Ost- bahn) 156 km:
„ 29
„ „ 120,
„ „ 79
Valence-Avignon (Paris-Lyon-Mittel- meerbahn)
124 km:
„ 1
„ „ 98,
„ „ 78
Aubrais-Paris (Orleans- bahn) 119 km:
„ 34
„ „ 96,
„ „ 76
Chartres-Mans (West- bahn) 123 km:
„ 5
„ „ 108,
„ „ 70
Ueberraschend ist der Umstand, dass sich bei der zur Herstellung der Tabelle
(Fig. 1) erforderlich gewesenen Durchsicht und
Vergleichung aller Expresszugfahrpläne hinsichtlich mancher Bahnen und Strecken
nicht nur kein Fortschritt in den Fahrgeschwindigkeiten, sondern ein auffälliger
Rückschritt herausgestellt hat. So wurde beispielsweise auf der 381 km langen
Strecke Rennes-Paris im J. 1878 mit 59 Std./km, im J. 1895 dagegen nur mit 54 Std./km, ebenso
auf der Strecke Paris-Trouville im J. 1878 mit 63, 1895 bloss mit 56 Std./km gefahren.
Für diese rückschrittliche Erscheinung fehlt jede vernünftige Erklärung, da sich an
den in Betracht kommenden Locomotiven, sowie an dem Bahnzustande der betreffenden
Strecken nichts geändert hat.
Textabbildung Bd. 301, S. 12
Fig. 2.Crampton-Maschine der tranz. Nordbahn und
Paris-Lyon-Mittelmeerbahn 1854.
Dass eine möglichst grosse Fahrgeschwindigkeit bei den Personenzügen für die
Gesammtheit der Reisenden und ebenso wohl für die rasche Beförderung der Postsachen
einen erstrebenswerthen Vortheil bedeutet, liegt auf der Hand. Rechnet man noch,
welche Zeitersparnisse sich herausstellen, wenn die übrigen grossen Bahnen
Frankreichs ebenso rasch fahren wollten wie die Nordbahn zwischen Paris und Calais,
d. i. mit 82 Std./km, so findet sich, dass für die Fahrt
Std.
Min.
Std.
Min.
von Paris nach Bordeaux statt
8
43
nur
7
46
„ „ „ Marseille „
13
–
„
11
39
„ „ „ Nancy „
5
34
„
5
–
„ Bordeaux nach Cette „
7
37
„
6
47
„ Paris nach Havre „
3
30
„
2
54
nothwendig sein würden. Die Ausführbarkeit einer solchen
allgemeinen Steigerung der Fahrgeschwindigkeiten erscheint in keiner Weise
bedenklich oder unausführbar, da der als Maasstab zu Grunde gelegte
Nordbahn-Expresszug eine. Strecke zu durchfahren hat, welche entschieden mehr
Schwierigkeiten bietet, als die sämmtlichen anderen Linien.
Textabbildung Bd. 301, S. 12
Fig. 3.Locomotivtype der franz. Südbahn und der Orleansbahn 1854.
Nach diesen Betrachtungen ist es nunmehr an der Zeit, auch dem Hauptmittel zur
Erreichung grösserer Zugsgeschwindigkeiten, nämlich den Locomotiven, einige
Aufmerksamkeit zuzuwenden. Vor 40 Jahren waren die Expresszüge auf den französischen
Bahnen noch ganz gering belastet und zu ihrer Beförderung reichten Maschinen mit freier Triebachse
ganz gut aus. Von solchen Locomotiven ist die bekannte Crampton-Type (Fig. 2) am häufigsten in Verwendung gestanden, und
dieselbe hat im Schnellverkehr der Ostbahn, der Nordbahn und der
Paris-Lyon-Mittelmeerbahn lange Jahre hindurch die vorzüglichsten Dienste geleistet.
Die Südbahn und die Orleansbahn benutzten eine dreiachsige Locomotive (Fig. 3), bei welcher sich die Triebachse in der Mitte
befand und die wagerecht liegenden Cylinder aussen angebracht waren. Eine Abart
davon mit schiefliegenden Cylindern (Fig. 4) war auf
der Rouener Linie durch Buddicom eingeführt. Diese drei
Typen repräsentirten sozusagen die leichte Reiterei der französischen
Eisenbahnen.
Textabbildung Bd. 301, S. 13
Fig. 4.Locomotivtype „Buddicom“ 1854.
Textabbildung Bd. 301, S. 13
Fig. 5.Zweikuppler der französischen Nordbahn 1889.
Allein die Wagenzahl und das Gewicht der Expresszüge nahm
fortwährend zu und die Maschinen mit freiem Triebrad erwiesen sich bald nicht mehr
als kräftig genug, weil es ihnen vor allem an genügender Adhäsion gebrach. Alle
Bahnen fanden sich daher im Verlaufe der Zeit veranlasst, ihre alten einfachen
Locomotivtypen durch Zweikuppler zu ersetzen. An diesen Maschinen, welche in vier,
ihrem Aeusseren nach ziemlich unähnlichen Haupttypen (Fig.
5, 6, 7 und
8) ausgeführt wurden, war man zugleich bestrebt,
die Cylinderdurchmesser und den Kolben weg zu vergrössern, was an und für sich auch
wieder eine Erhöhung der Kesseldimensionen und des Gesammtgewichtes mit sich
brachte. Von den soeben genannten vier Typen zeichnete sich die unter dem Namen „Outrance“ bekannte, vierachsige Locomotive der
Nordbahn (Fig. 5) durch eine auffällig grosse
Feuerbox aus, welche auf dem letzten, mit den Triebrädern gekuppelten Räderpaar
ruhte; das vordere Achsenpaar bildete ein Drehgestelle, über welchem die
innenliegenden Cylinder ihren Platz fanden. Die Ostbahnlocomotivtype besass nur drei
Achsen, wovon die beiden rückwärtigen gekuppelt waren; die Feuerbox ist
verhältnissmässig klein und die Cylinder sind gleichfalls innenliegend. Ganz
ähnliche dreiachsige Maschinen (Fig. 6) benutzten
auch die Ostbahn und die Südbahn, doch lagen hier die Cylinder mehr im Mittel der
Längsträger des Rahmens, und weil sonach die Triebstange verkehrt angreifen musste,
so hatten diese Typen einige Aehnlichkeit mit der Crampton'schen. Die Type der Orleansbahn (Fig.
7) und der Paris-Lyon-Mittelmeerbahn (Fig.
8) hatten vier Achsen, von welchen die erste und letzte Tragachsen
sind; die Cylinder lagen aussen und fanden ihren Platz ganz vorn zunächst dem
Kopfende der Locomotive. Jedes der aufgezählten Muster besass seine theils
bekannten, theils unbekannten Vorzüge und Schattenseiten, und ebenso seine Anhänger
und seine Feinde, als im J. 1889 die Paris-Lyon-Mittelmeerbahn sämmtliche grossen
französischen Eisenbahnen einlud, die Frage der Constructionsbedingungen für schnell
fahrende Locomotiven durch eine vergleichsweise strenge Prüfung der verschiedenen
Systeme zu studiren.
Textabbildung Bd. 301, S. 13
Fig. 6.Zweikuppler der französischen Ostbahn und Südbahn 1889.
Textabbildung Bd. 301, S. 13
Fig. 7.Zweikuppler der Orleansbahn 1889.
Die betreffenden Versuche haben richtig am 30. März bis 2.
April 1889 auf der ungefähr 34 km langen Strecke Montereau-Sens stattgefunden.
Vorher hatte man auf einem 10 km langen Theil der Versuchsstrecke die Bahn und
insbesondere den Oberbau aufs sorgfältigste in Stand gesetzt, während der Rest von
24 km in dem Zustande verblieb, in welchem er sich vermöge der gewöhnlichen
laufenden Unterhaltung befunden hatte. An den Concurrenzfahrten betheiligten sich
neben der Paris-Lyon-Mittelmeerbahn die Ostbahn, die Nordbahn und die Orleansbahn
mit den in Fig. 5 bis 8 dargestellten Locomotivtypen. Es war lediglich die Bedingung gestellt,
die Maschine, an welche ein Wagen I. Klasse für die controlirenden Ingenieure
angehängt war, so schnell laufen zu lassen, wie überhaupt möglich; die
Geschwindigkeit wurde durch das Abzählen der Kilometerpflöcke und mit Hilfe eines
vorzüglichen Chronometerwerkes aufs genaueste festgestellt. Die auf diese Art
erprobten Maschinen haben Geschwindigkeiten von 120 bis 129 km in der Stunde
erreicht. Auf dem besonders gut in Ordnung gestellten Streckentheile fuhren alle
vier Locomotivgattungen vortrefflich, auf dem im gewöhnlichen Zustande befindlichen
Theile war dies jedoch nicht der Fall, denn sowohl die Type der
Paris-Lyon-Mittelmeerbahn (Fig. 8) als jene der
Orleansbahn (Fig. 7) zeigten sich gegen jegliche
Mangelhaftigkeit der Fahrbahn empfindlich, während allerdings die Locomotiven der
Nordbahn (Fig. 5), sowie jene der Ostbahn (Fig. 6) auch hier ihre äusserste Geschwindigkeit
beibehalten konnten, ohne dass nur einen Augenblick lang eine Gefährdung zu fürchten
gewesen wäre. Auch fanden die controlirenden Ingenieure der
Paris-Lyon-Mittelmeerbahn nach den Fahrten der Nordbahn- und der Ostbahnlocomotiven
niemals Deformationen an den Gleisen vor, während solche nach den Fahrten der beiden
anderen Maschinentypen fast jedesmal festgestellt werden konnten. Wenn man daraufhin
die vier in Concurrenz getretenen Locomotiven (Fig.
5, 6, 7 und 8) einer näheren Prüfung unterzieht, so bemerkt man
bald, dass zwischen der Maschine der Orleansbahn (Fig.
7) und jener der Paris-Lyon-Mittelmeerbahn (Fig.
8) eine gewisse Aehnlichkeit besteht, und es ist nicht schwer, den Grund
der Minderwertigkeit dieser beiden Typen zu erklären. Beide besitzen an ihrem
Kopfende vor der ersten Radachse eine beträchtliche schwebende Masse, durch deren Schwanken bei sehr rascher Fahrt und bei
nicht ganz tadellosem Gleise die Lage der Cylinder und die Arbeit der Schieber
störend beeinflusst wird. Dementgegen zeigt die Ostbahnlocomotive (Fig. 6) am vorderen Kopfende nur eine geringe schwebende Masse und zudem unter wesentlich günstigeren
Verhältnissen, da die Cylinder hinter der ersten Achse liegen, so dass die üblen
Einflüsse der Schwankungen während der Fahrt – verglichen mit jenen, welche bei den
früher betrachteten zwei Typen auftreten – nur ganz geringfügig erscheinen. Die
Maschine der Nordbahn (Fig. 5) aber weist denselben
Vorzug auf, weil ihre innenliegenden Cylinder verhältnissmässig nahe an einander
liegen, und weil durch das vorhandene Drehgestell die ganze Bewegung des Fahrzeuges
eine ungemein geschmeidige wird; auch erhöht das letztere durch den Druck, welchen
es auf die Schienen ausübt, die Widerstandskraft des Gleises gegen die eventuellen
Angriffe der ersten steifen Radachse. Das Endergebniss der soeben geschilderten,
gewiss ausserordentlich interessanten Concurrenzfahrten bestand sonach in der
Verbannung jener Locomotiven, bei welchen die Cylinder vor der ersten Radachse angebracht sind.
Textabbildung Bd. 301, S. 14
Fig. 8.Zweikuppler der Paris-Lyon-Mittelmeerbahn 1889.
Textabbildung Bd. 301, S. 14
Fig. 9.Crampton-Maschine der französischen Ostbahn 1895.
Schon im nächsten Jahre veranlasste die Paris-Lyon-Mittelmeerbahn einen neuerlichen
Wettversuch, jedoch sollte diesmal nicht nur der Gang der Locomotiven bei
grösster Geschwindigkeit geprüft, sondern auch ihr Verhalten festgestellt werden,
wenn sie Züge von 250 bis 300 t fortzubewegen haben. Dieselben vier Maschinentypen,
welche sich 1889 betheiligt hatten, traten auch diesmal wieder mit in Wettbewerb,
ausserdem auch noch je eine Locomotive der französischen Staatsbahnen, der Südbahn
und der Westbahn, sowie je eine zweite Locomotive der Ostbahn und der Orleansbahn,
wovon die erstere als Crampton-Maschine mit Flammenkessel durchgeführt war und die
letztere innenliegende Cylinder besass.
Textabbildung Bd. 301, S. 14
Fig. 10.Compoundmaschine der französischen Nordbahn 1895.
Textabbildung Bd. 301, S. 14
Fig. 11.Compoundmaschine der Pairs-Lyon-Mittelmeerbahn 1895.
Bei diesem neuerlichen Versuch erreichte die
Crampton-Locomotive der Ostbahn (Fig. 9) die grösste
Fahrgeschwindigkeit; sie legte mit Leichtigkeit und in einer ganz eigenartigen
ruhigen Gangart 144 km in der Stunde zurück. Ebenso zeichnete sich die Locomotive
der Westbahn, welche mit Drehgestell versehen ist, durch einen namentlich beim
Eintritte in Bogen günstig zu Tage tretenden, äusserst sanften Gang aus. Die
zweitgrösste Geschwindigkeit erreichte die Südbahnlocomotive mit 138 km in der
Stunde. Was die Erprobungen bei voller Zugbelastung anbelangt, so wurden dieselben
derart ausgeführt, dass jede Locomotive einen Zug von beiläufig 250 t mit einer
Durchschnittsgeschwindigkeit von 70 Std./km auf der Linie Paris-Laroche hin und zurück befördern musste. Dieser Aufgabe haben mit
einem Zuge von genau 250 t die Locomotive der Nordbahn in 11 Minuten für die Hin-
und in 10 Minuten für die Rückfahrt, sowie die Westbahnlocomotive in 9 Minuten für
die Hinfahrt und in 11 Minuten für die Rückfahrt entsprochen. Mit derselben
Geschwindigkeit beförderten die Locomotive der Paris-Lyon-Mittelmeerbahn und jene
der Ostbahn sogar einen Zug von 294 t trotz eines heftigen Sturmes, wobei das
Dynamometer eine Zugkraft von 1900 bis 2500 k nachwies, gleichbedeutend mit einer
effectiven Leistung von 600 bis 700 . Alle übrigen in Concurrenz getretenen
Typen hielten wohl auch die vorgeschriebene Durchschnittsgeschwindigkeit von 70 Std./km ein,
jedoch nur mit einer Zugsbelastung von 240 t, was übrigens für alle Fälle mehr ausmacht, als sie
bei ihrer gewöhnlichen Verwendung im Betriebe zu leisten haben. Seither sind nun bei
den französischen Bahnen wieder mehrfache verbesserte Locomotivtypen geschaffen
worden, so z.B. seitens der Nordbahn und der Paris-Lyon-Mittelmeerbahn
Compoundmaschinen (Fig. 10 und 11) mit Drehgestellen und Serve'schen Röhrenkesseln; diese ausserordentlich kräftigen Locomotiven
dürfen, was die Geschwindigkeit und Stabilität anbelangt, als geradezu vollkommen
gelten, und aus der Tabelle (Fig. 1) lässt sich
deutlich ersehen, welche Zunahme der Fahrgeschwindigkeit selbst bei sehr schweren
Expresszügen durch die Einführung der neuen Typen ermöglicht worden ist. Auch die
Südbahn und die Westbahn haben ähnliche Compoundmaschinen in Verwendung genommen und
damit glänzende Resultate erzielt. Einen ganz anderen Weg hatte hingegen die Ostbahn
eingeschlagen, um dieselben Zwecke zu erreichen; sie machte die Cylinder ihrer
jüngsten Expresszuglocomotiven nicht grösser als dieselben früher waren, brachte
aber Flaman'sche Kessel mit grossen Wasservolumen in
Anwendung. Die gesammte Heizfläche beträgt 180 qm, wovon auf die Feuerbüchse 13,6 qm
entfallen; die Cylinderweite ist 0,5 m, der Kolbenweg 0,66 m. Diese Maschinen
erzeugen enorme Dampfmengen und äussern an den Kurbelzapfen der Triebräder eine
Zugkraft von 6160 k; damit sie trotz ihres bedeutenden Gewichtes die Gleise nicht zu
sehr abnutzen, sind sie vorn mit einem Drehgestell versehen, und ihr Gang ist auch
in der That äusserst ruhig und gleichmässig. Nur die Orleansbahn blieb bei ihrer
vierachsigen Locomotivtype vom Jahre 1889 (Fig. 7)
und hat weder eine Veränderung an den Cylindern noch Drehgestelle angenommen.
Um nun schliesslich nochmals zur betriebstechnischen Seite der Frage grosser
Fahrgeschwindigkeiten zurückzukehren, so ist die Thatsache ins Auge zu fassen, dass
die grössten Geschwindigkeiten, mit welchen die Expresszüge auf den einzelnen Bahnen
in den Gefällsstrecken fahren, die in der Tabelle (Fig.
1) ausgewiesenen Durchschnittsgeschwindigkeiten der vollen Fahrt
selbstverständlich weit übertreffen. So wird beispielsweise auf der Nordbahn eine
Maximalgeschwindigkeit von 120 Std./km, auf der Ostbahn und auf der Südbahn eine solche
von 112,5 Std./km
erreicht: Maximalgeschwindigkeiten, welche behördlich genehmigt sind. Ja, die
äusserste Geschwindigkeit von 120 Std./km ist sogar bereits mit einem Ministerialdecrete
vom 30. Juli 1853 genehmigt worden und schon damals von der Crampton-Locomotive mit
leichten Zügen auf Gefällsstrecken, sowie seither mit anderen Maschinen erreicht
worden. Man fährt also in Frankreich bereits seit 43 Jahren mit einzelnen Zügen und
auf gewissen Bahnstrecken mit 120 km in der Stunde, ohne dass sich je ein Unfall
ereignet hätte, der auf diese Geschwindigkeit zurückgeführt werden könnte; die
Erfahrungen welche hierüber vorliegen, sind also alt genug, um ein Urtheil zu
gestatten. Wenn nichtsdestoweniger die französischen Eisenbahnen nicht durchwegs 120
Std./km
fahren, so ist dies keineswegs eine Frage der Sicherheit, sondern lediglich eine
Frage der Kraft, denn die Locomotiven sind nicht stark genug, die verhältnissmässig
grossen Lasten, welche man ihnen zu ziehen gibt, auch auf den Steigungen mit der
genannten grössten Geschwindigkeit fortzubewegen. Von dem Tage an, wo man
Locomotiven herstellt, welche die erforderliche Stärke besitzen, oder wo man sich
entschliessen würde, das Gewicht der Expresszüge angemessen zu beschränken,
gäbe es kein Hinderniss mehr, die 120 Std./km als normale Geschwindigkeit anzunehmen; Bedenken
wegen der Sicherheit könnten unmöglich erhoben werden, denn es hätte keinen Sinn,
dasjenige, was für die Thalfahrten seit 40 Jahren erlaubt ist und geübt wird, für
die Fahrt auf wagerechter Bahn oder für die Bergfahrten als gefährlich zu erachten.
Gewiss höchst ermuthigend ist der Umstand, dass 1853 und in den darauffolgenden
Jahren die Geschwindigkeit von 120 Std./km auf Bahnstrecken erreicht wurde, deren Gleise aus
Eisenschienen hergestellt waren, welche nur 6 m lang und pro laufendes Meter bloss
30 k wogen; zudem lagen diese Schienen auf schlecht behauenen, mangelhaft
eingebetteten Schwellen. Heutigen Tages sind hingegen die Schienen aus Stahl, 12 m
lang und 45 km pro laufendes Meter schwer, die Schienen Verbindungen sind äusserst
solid, die Schwellen liegen näher aneinander, haben grössere Auflagflächen und
liegen in einem guten Kiesbette. Vor 40 Jahren existirten auf den in Frage kommenden
Bahnen weder Blocksignaleinrichtungen, noch Weichen Verriegelungen oder
centralisirte Weichen- und Signalstellwerke, noch endlich continuirliche Bremsen.
Die Locomotiven besassen damals ungleich weniger Adhäsion und weniger Stabilität und
das gesammte rollende Material war weniger kräftig und solid hergestellt, als es
heutigen Tages der Fall ist. Wenn man also die einstigen Verhältnisse, unter welchen
120 Std./km
gefahren worden sind, mit den jetzigen in Vergleich zieht, so kann nicht geleugnet
werden, dass sich seither die Sachlage hinsichtlich der Sicherung der
schnellfahrenden Züge riesig gebessert hat; dem entgegen erscheint es geradezu
entfremdend, dass die erlaubte Maximalgeschwindigkeit auf derselben Ziffer stehen
geblieben ist, wie vor 43 Jahren. Dieser Umstand beweist, wie kühn man in früheren
Zeiten gewesen und wie bedächtig man seither geworden ist.
Wenn übrigens hier oben auch von den Gleisanlagen, von den verschiedenen
Sicherungseinrichtungen und von Blocksignalen gesprochen wurde, so musste dies wohl
geschehen, weil ja bekanntlich die Durchführung eines regelmässigen Fahrbetriebes
mit schnell fahrenden Zügen keineswegs von der Leistungsfähigkeit der Locomotive und
der Tüchtigkeit des Maschinenpersonals allein abhängt. Es ist vielmehr unbedingt
geboten, dass auch die Bahn durchaus in bester Ordnung und insbesondere der Oberbau
vorzüglich in Stand gehalten sei, ferner dass den Zügen mit grosser Geschwindigkeit
eine angemessene Fahrfreiheit geboten werde, was nur durch das System der
Raumdeckung, also durch Blocksignaleinrichtungen ermöglicht werden kann; es ist
weiters nöthig, dass alle spitzbefahrenen Weichen verriegelt und mit den zugehörigen
optischen Signalen in Abhängigkeit gebracht seien, damit an Abzweigungen oder in
Zwischenstationen eine verlustbringende Herabminderung der Fahrgeschwindigkeit oder
gar das in Frankreich noch sehr beliebte Anhalten aus Sicherheits rücksichten
entfallen kann. In EnglandUnd Deutschland
(Anmerkung d. Red.). steht dieses System der Zugssicherung,
welches davon absieht, dem Laufe des Zuges überflüssigen Zwang aufzuerlegen, längst
in voller Blüthe, und es ist nicht einzusehen, warum das, was sich jenseits des
Kanals so vorzüglich bewährt, nicht auch diesseits desselben allgemein eingeführt
wird, nachdem ohnehin einige französische Eisenbahnen bereits den Anfang damit gemacht
haben. Eine Hauptsache bliebe es auch, wenn die gebräuchlichen grossen Belastungen
der schnellfahrenden Züge – allenfalls durch die Vermehrung der Anzahl der Züge –
wesentlich vermindert werden könnten. Unter allen Umständen lässt sich ein
gedeihlicher Fortschritt in den Geschwindigkeiten der Expresszüge nur von einem
überlegten Zusammenwirken der Maschinen- und Fahrdiensttechniker mit den Bahndienst-
und Betriebstechnikern gewärtigen.