Titel: | Appunn's Victoria-Glocken. |
Fundstelle: | Band 308, Jahrgang 1898, S. 10 |
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Appunn's Victoria-Glocken.
Mit Abbildung.
Appunn's Victoria-Glocken.
Der Stadtbauinspector Dr. C. Wolff in Frankfurt a. M.
machte in der Nummer vom 11. December vorigen Jahrganges des Centralblattes der Bauverwaltung über die Glocken des Akustikers Appunn in Hanau bemerkenswerthe Mittheilungen. Nach
denselben weicht Appunn von der bisher üblichen Form
des Glockenquerschnittes ab, indem er von der bekannten Erfahrung ausgeht, dass der
Glockenton nicht einfach, sondern aus einer Reihe von Tönen zusammengesetzt ist, die
in Gemeinschaft mit dem Haupttone bei guten Glocken einen harmonischen, bei
schlechten dagegen einen unharmonischen Klang bilden. Wie schwer es ist, gute, den
musikalischen Anforderungen entsprechende Glocken zu giessen, ist allgemein bekannt.
Erst in neuerer Zeit ist man in den Stand gesetzt, alle einer Glocke innewohnenden
Töne genau festzustellen. Man bedient sich dazu eigens hergestellter Stimmgabeln mit
verschiebbaren Gewichten an den Gabelarmen.
Bei den Untersuchungen, welche mittels dieser Instrumente gemacht worden sind, ist
man stellenweise zu merkwürdigen Ergebnissen gekommen. Beispielsweise gibt eine
Glocke über dem Hauptton die grosse Secunde, kleine Terz, verminderte Quinte, grosse
Septime als Oberoctave und die grosse None als Unteroctave. Derartig verzerrte
Tonbilder gehören durchaus nicht zu den Seltenheiten, während Glocken mit
harmonischem Klange, welche ausser dem Hauptton noch die reinen Octaven (Unter- und
Oberoctave), Terz, Quinte, Decime, Duodecime u.s.w. enthalten, selten sind.
Den Grund für diese Unsicherheit des Tones findet Appunn
hauptsächlich in der Unberechenbarkeit der Form des Glockenkörpers. Um einen
bestimmten Grundton zu erreichen, muss der Tonkörper eine berechenbare Form haben
und, als allein den Ton angebend, das wesentliche Stück des Glockenquerschnittes
bilden. Appunn hat ihn als einen in Ringform gebrachten
Metallkörper von rechteckigem Querschnitt, in Kreisform, hergestellt, der den
Grundton bestimmt und ohne Untertöne angibt. Dabei hat die als Halbkugel gebildete
Haube auf die Tonbildung selbst keinen Einfluss, sie wirkt lediglich als
Schallkörper, in welchem selbständige Töne ausgeschlossen sind. Der Schlagring ist
da angeordnet, wo die Glocke ihre Schwingungen frei abgeben kann, am Glockenrande,
während er bei der alten Glocke nach oben und unten an Metallringe verschiedener
Stärke anschliesst. Die Untertöne sind ausgeschlossen und die Glocke erklingt im
Grundton. Dabei erscheint der Grundton um eine Octave tiefer als der nach dem alten
System geforderte Hauptton des Schlagrings, d.h. ein nach Appunn gebautes Geläute klingt eine Octave tiefer als ein solches alten
Systems, welches mit ihm gleiche Grösse und gleiches Gewicht hat. Hierdurch ist der
Vortheil gegeben, dass man mit wenig Metall tiefe Tonlagen erzielen kann, ohne den
volltönenden Klang zu beeinträchtigen. Für die Bestimmung der einzelnen Theile
bildet die Dicke des Tonkörpers die Einheit; das Verhältniss der verschiedenen
Stärken ergibt sich aus den Querschnittszahlen der Figur.
Als vor einiger Zeit Vorschläge für ein neues Geläute der Nikolaikirche in Frankfurt
a. M. zu machen waren, wurde von Sachverständigen bestimmt, dass das neue
Geläute aus vier Glocken zusammenzusetzen sei, deren Töne fis, a, h, eis ein
harmonisches Mollviergeläute bilden und ausserdem in der Tonreihe des in nächster
Nähe befindlichen Domgeläutes liegen sollen. Die Ausführung wurde Appunn nach seinem neuen Systeme übertragen. Das
Geläute wiegt 1775 k, wurde von F. W. Rincker in Sinn
(Nassau) gegossen und unter Benutzung des alten Glockenstuhls gebrauchsfertig
aufgehängt. In der Abbildung ist die fis-Glocke des neuen Geläutes dargestellt. Die
Gesammtkosten einschliesslich einer geringen Aenderung des Glockenstuhls betragen
rund 3400 M. Der Domcapellmeister Hartmann spricht sich
über; das fertige Geläute dahin aus, dass die verlangten Haupttöne vollständig
getroffen sind und in mathematisch reinem Verhältniss zu einander stehen. Als einzig
wahrnehmbaren Oberton stellte er die etwas übertriebene grosse Decime des Haupttones
fest und bezeichnet die Glocken im Uebrigen als frei von Unter-, Ober- oder
Beitönen. Die Wirkung ist eine dem Querschnitt und der Metallmasse entsprechend
starke, aber eigene. Der Gutachter spricht seine Bewunderung über die Sicherheit
aus, mit welcher die vertraglich gestellten Aufgaben gelöst worden sind. Ein
abschliessendes Gutachten verdankte man dem Pfarrer Sahlmen in Madfeld (Westfalen), der bezüglich der Reinheit der Töne sich
der Hartmann'schen Prüfung anschloss. Die Klangfarbe
nennt der Sachverständige eine von dem gewohnten Glockentone verschiedene und findet
den Grund dafür ebenfalls in der neuen Querschnittsform.
Textabbildung Bd. 308, S. 10
fis-Glocke.
Der Ton der Appunn'schen Victoria-Glocke unterscheidet
sich wesentlich von dem der alten Glocken. Dies zeigte sich recht beim
Zusammenläuten der Domglocken und der neuen Nikolaiglocken – ein dem Ohre
wohlthuendes Concert. Dazu hebt Sahlmen den massigen
Preis hervor und rühmt, dass es Appunn gelungen ist,
mit so geringem Gewicht einen so ausserordentlich tiefen Glockenton zu erzielen. Die
baulichen und räumlichen Verhältnisse des Thurmes liessen übrigens ein Geläute nach
alter Rippe mit gleichen Grundtönen, welches bei einem Gewichte von rund 12000 k
einen bedeutend höheren Kostenaufwand verursacht haben würde, überhaupt nicht zu. Zu
bemerken ist noch, dass die Klöppel eine besondere Ausbildung erfahren haben: der
Anschlag erfolgt durch zwei eingelassene cylinderförmige Stücke, die aus
verschiedenen Stoffen hergestellt werden können und so eine Regelung in der Härte
des Anschlages zulassen. Die Versuche ergaben, dass der Anschlag mit Pockholz den
Ton weich und angenehm erklingen lässt.
Wenn der neuen Glocke entgegengehalten werden kann, dass ihre Gestalt der
altehrwürdigen, schönen Glockenform gegenüber wenig anspricht, so darf man nicht
vergessen, dass die Glocken selten gesehen werden und dass bei ihnen die
musikalischen Vorzüge in erster Linie stehen. In musikalischer Hinsicht sind gewisse
Mängel bei der Victoria-Glocke noch vorhanden. Es ist ein Oberton festgestellt, der
allerdings für die Klangwirkung kaum von Bedeutung wird, und die Stärke des Tones
bleibt hinter den Riesen des alten Systems zurück. Aber immerhin muss man zugeben, dass Appunn's System einen grossen Fortschritt im Glockenbau
bedeutet. Die Sicherheit in der Tonbestimmung, die tiefe Tonlage und die geringen
Gewichte und Kosten sind Errungenschaften, für die dem unermüdlichen Erfinder
Anerkennung gebührt.