Titel: Das Grisson-Getriebe.
Autor: Wilh. Müller
Fundstelle: Band 315, Jahrgang 1900, S. 124
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Das Grisson-Getriebe. Von Wilh. Müller in Cannstatt. Das Grisson-Gretriebe. Dem ausführenden Maschinentechniker begegnet häufig genug die Schwierigkeit, grosse Uebersetzungen anordnen zu müssen, wenn Zahnräder, Riementriebe oder Schneckengetriebe wegen Mangel an Platz nicht unterzubringen sind. Textabbildung Bd. 315, S. 124 Fig. 1.Drehbohrmotor mit Grisson-Getriebe. Durch Ingenieur Robert Grisson in Hamburg wurde neuerdings ein in allen Kulturstaaten geschütztes Daumengetriebe in die Technik eingeführt, das zwar die benannten Uebertragungsmittel aus dem Maschinenbau nicht verdrängen will, vielmehr dem Konstrukteur in allen Fällen behilflich sein soll, wo jedes der bisher gebräuchlichen Maschinenelemente aus praktischen Rücksichten nicht einzubauen war. Das Grisson-Getriebe besteht aus einem Daumen- und einem Rollenrade. Das Daumenrad trägt auf seiner Nabe zwei um 180° zu einander versetzte in zwei verschiedenen Ebenen liegende sichelförmige Zähne. Das Rollenrad ist mit drei Rippen ausgebildet, welche in gleichen zu einander versetzten Abständen auf Bolzen gelagerte Rollen tragen. Der innere Teil wird in üblicher Weise wie ein Zahnrad ausgebildet, indem bei kleineren Getrieben die Rippen mit der Nabe durch eine Vollscheibe verbunden werden und bei grossen Getrieben Arme zur Verwendung kommen. Die grosse Uebersetzung wird dadurch erreicht, dass bei einer Umdrehung des Daumenrades das Rollenrad um eine Teilung gedreht wird. Die gedrungene Bauart des Grisson-Getriebes lässt eine wesentlich grössere Beanspruchung der Teile zu, weil die Zähne des Daumenrades ganz erheblich kräftiger werden, als die Zähne eines dem Durchmesser der Welle entsprechenden Zahnrades. Die Bolzen, auf welchen die Rollen des Rollenrades gelagert sind, werden nicht wie die Zähne des Zahnrades auf Biegung, sondern auf Abscherung beansprucht. Dieselben sind zweiseitig kurz gelagert und lassen daher eine ausserordentlich grosse Beanspruchung zu. Als Normalien werden vom Erfinder, durch welchen diese Getriebe alleinig zu beziehen sind, aufgestellt: Wellendurchmesser von 10, 20, 30, 40, 50, 60, 70, 80, 90, 100 mm, mit Uebersetzungen von 1:5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 15, 18, 20, 25, 30. Folgender praktische Fall soll die Möglichkeit, bei kleineren Achsenabständen grössere Uebersetzung zu erzielen, sofort darthun. Ein Getriebe mit einer Uebersetzung 1 : 10 im Zusammenbau mit einem Drehbohrmotor der Union-Elektrizitäts-Gesellschaft Berlin ist aus Fig. 1 zu ersehen. Die Motoren arbeiten mit 1800 Touren in der Minute und gestattete der Achsenabstand zwischen Motor und Bohrwelle nureine Zahnradübersetzung 1 : 5½. Infolgedessen hatte der Steinbohrer eine reichlich grosse Umfangsgeschwindigkeit und wurde in etwas hartem Gestein sehr schnell stumpf. Da es nicht möglich war, den Motor bei gleichen Dimensionen für dieselbe Kraftäusserung abzuändern, wurden die Zahnräder entfernt und an Stelle derselben eine Uebersetzung 1 : 10 mit Grisson-Getriebe gesetzt, wodurch die Tourenzahl der Bohrer um die Hälfte verringert und die Leistungsfähigkeit des Motors entsprechend erhöht wurde. Diese Maschine befindet sich in mehrfacher Ausführung nunmehr ¾ Jahre in dauerndem Betrieb. In Fig. 2 ist die theoretische Entwickelung des Getriebes graphisch dargestellt. Das Getriebe unterscheidet sich von den bisher gebräuchlichen Zahnrädern schon dadurch, dass die Teilkreise sich nicht wie bei gewöhnlichen Zahnrädern aufeinander abrollen, sondern sich um den Rollenhalbmesser voneinander entfernt bewegen. Die Daumenkurve wird durch drei Kreisbewegungen mit gleicher dem Uebersetzungsverhältnis entsprechender Winkelgeschwindigkeit gebildet, wobei diejenigen Strahlen, welche durch die Kreismitten des einen progressiv rotierenden Punktes bedingt werden, bei gleicher Winkelgeschwindigkeit gleichbleibenden Arbeitsmomenten entsprechen. Die Strahlen, welche bei gleicher Winkelgeschwindigkeit sich gleichbleibende Arbeitsmomente bedingen, schneiden die Achsen zentrale in einem Punkte, welcher diese im umgekehrten Uebersetzungsverhältnis teilt. Die Kurve, welche sämtliche Berührungspunkte der gesuchten Daumenkurve darstellt, bildet durch Abwickelung die entsprechende Daumenkurve. Textabbildung Bd. 315, S. 124 Fig. 2.Graphische Darstellung der theoretischen Entwicklung des Getriebes. Durch die reziproke Abwickelung der vorerwähnten Kurve wird der Daumenzahn gebildet und dadurch, dass stets zwei um 180° zu einander versetzte Daumenzähne arbeiten, ist die zwangläufige Verzahnung gesichert. Die Arbeitsweise erfolgt, wie aus Fig. 3 zu ersehen, in der Weise, dass der zweite Zahn sich bereits in arbeitendem Eingriff befindet, wenn der erste Zahn die zugehörige Rolle verlässt. Aus dem Verlaufe der Kraftlinien ist ersichtlich, dass das Grisson-Getriebe eine Uebersetzung sowohl vom Schnellen ins Langsame, als auch vom Langsamen ins Schnelle zulässt. Textabbildung Bd. 315, S. 125 Fig. 3 Der normale Verlauf der Rollenbewegung findet allerdings statt bei der Bewegung vom Schnellen ins Langsame, indem die Rolle vom Moment des Eingriffs bis zum Verlassen der Daumenkurve ganz allmählich zunehmend beschleunigt wird. Da das Daumenrad nur zwei Zähne hat, sind die Zahneingriffe bei mittlerer Geschwindigkeit vernehmbar, weil dann die Rollen während einer Umdrehung des Rollenrades wieder zum Stillstand kommen. Bei entsprechend hoher Tourenzahl verschwindet dieses Eingriffsgeräusch, wenn die Rollen in der Bewegung wieder in Eingriff kommen und zwar ist die Gangart dann am ruhigsten, wenn die Winkelgeschwindigkeit der Rolle im Moment des Eingriffs und die Eingriffs-Winkelgeschwindigkeit der Daumenkurve gleich sind. Wird diese Grenze bei sehr hoher Tourenzahl überschritten, so findet im Moment des Eingriffs eine Bremsung der Rolle statt, was sich als zunehmendes Geräusch kenntlich macht. Diesem Uebelstande wird dadurch abgeholfen, ein dickeres Schmiermittel zur Verwendung gebracht wird, welches die Rolle zur Verlangsamung ihrer Bewegung veranlasst. Durch Gebrauch entsprechenden Schmiermittels sind die Getriebe auf den ruhigsten Gang zu bringen. Die Arbeitsweise des Grisson-Getriebes vom Langsamen ins Schnelle ist z.B. erforderlich bei Ausführung desselben für Hebezeuge, damit die Last ohne Kraftaufwand abläuft. Auch bei Maschinen für Handbetrieb mit grossen Uebersetzungen, wie auch bei Antrieb durch Transmission kommt das Grisson-Getriebe zu dieser Anwendung. Es mag hier noch auf einen Einzelfall: Antrieb einer Dynamomaschine durch ein Wasserrad, hingewiesen sein. Durch Verwendung zweier Grisson-Getriebe mit Uebersetzung 1 : 12 und 1 : 18 (12 × 18 = 216) kann, wenn das Wasserrad 5 bis 7 Umdrehungen in der Minute macht, die erforderliche Geschwindigkeit für eine Dynamomaschine erreicht werden. Gleichmässiges stossfreies Arbeiten beim Grisson-Getriebe ist dadurch erreicht, dass die Reibung eine rollende ist und die Getriebe mit gleicher Winkelgeschwindigkeit und sich gleichbleibenden Arbeitsmomenten arbeiten. Eine Winkelverzahnung auszuführen, hat keinen praktischen Wert, weil die Herstellung einer solchen zu kostspielig würde und im allgemeinen Winkelverzahnungen mit grossen Uebersetzungen nicht gemacht werden. Aus Fig. 2 ist zu ersehen, dass die aus den Kraftlinien und einer beliebig angenommenen Kraft gebildeten Momente untereinander inhaltsgleich sind; daraus folgt, dass sich die Daumenkurve in jeder Eingriffslage mit dem Rollenrade bei einer dem Uebersetzungsverhältnis entsprechenden Belastung im Gleichgewicht hält, die Arbeitsmomente bleiben sich also gleich. Der Wirkungsgrad wird durch die Grösse des Winkels bedingt, in welchem die Kraftlinien während der Eingriffsdauer von der Tangente an den Teilkreis abweichen. Aus Fig. 3 ist eine Uebersetzung 1 : 5 ersichtlich. Die erste Stellung des Daumens ist diejenige, in welcher derselbe die Rolle verlässt und bildet die zugehörige Kraftlinie eine Tangente an den Teilkreis. Die zweite Stellung zeigt den zugehörigen Daumen und bildet die Kraftlinie mit der Tangente einen Winkel von 15°. Die dritte Stellung zeigt die Mittellage des Daumens auf seinem Arbeitsweg und bildet die Kraftlinie in dieser Lage mit der Tangente einen Winkel von nur 3°. Fig. 4 zeigt ein Grisson-Getriebe mit einer Uebersetzung 1 : 10 mit gleichem Daumenradwellendurchmesser. Die Kraftlinie der ersten Stellung bildet wieder eine Tangente an den Teilkreis. Die Kraftlinie der zugehörigen zweiten Stellung des Daumens bildet mit der Tangente einen Winkel von nur 10°, die Kraftlinie der Mittelstellung bildet mit der Tangente einen Winkel von nur 2°. Es geht hieraus hervor, dass der Wirkungsgrad der Grisson-Getriebe mit zunehmender Uebersetzung steigt! Der Wirkungsgrad der Getriebe ist abhängig von geeigneter Wahl der die Konstruktion des Getriebes bedingenden Verhältnisse und steigt mit zunehmender Belastung bis über 95 %. Auf Grund dieser Verhältnisse sind die Normalgetriebe aufgebaut und empfiehlt es sich, von diesen durch den Erfinder festgelegten Massen nicht abzuweichen. Der Bedingung, dass das Getriebe eine geringere innere Reibung besitzt und der Verschleiss auf ein Minimum reduziert wird, ist dadurch genügt, dass die Reibung eine rollende ist. Dieselbe wird durch günstige Verlegung der Kraftlinien auf das technisch erreichbare Minimum herabgezogen. Was den Verschleiss betrifft, so findet zwischen Rollen- und Daumenrad derselbe Vorgang statt, wie z.B. zwischen einem Eisenbahnrade und der Schiene. Das Getriebe ist durch seine Konstruktion gezwungen, sich in die dem Achsenabstande und Uebersetzungsverhältnis entsprechende Kurve einzuarbeiten. Die Arbeitsfläche des Daumenrades erhält durch das kontinuierliche Walzen eine harte Lauffläche, so dass die Abnutzung nach erfolgtem Einlaufen in üblichen Grenzen bleibt. Textabbildung Bd. 315, S. 125 Fig. 4.Verlauf der Kraftlinien während der Arbeitsweise des Daumenzahnes und zugehörige Momente. Ein Seitendruck in dem Getriebe ist nicht vorhanden, was sich aus gemachten Ausführungen ergibt und ist als nicht erforderlich zu betrachten, diesen Punkt noch weiter zu behandeln. In allen Ausführungen erhält der Daumenzahn so grosse Dimensionen, dass ein Bruch desselben vollkommen ausgeschlossen ist. Die Bolzen sind zweiseitig kurz gelagert, auf Abscherung in Anspruch genommen und gestatten daher ungleich grössere Belastung als die auf Biegung beanspruchten Zähne eines Zahnrades unter den gleichen Bedingungen. Die Bolzen sind aus bestem Stahl gefertigt und so gehärtet, dass die Arbeitsflächen hart sind, der Kern der Bolzen jedoch zähe bleibt. Textabbildung Bd. 315, S. 126 Fig. 5.Grisson-Getriebe. Bei Durchrechnung der einzelnen Getriebeteile ergibt sich, dass die Daumenrad welle derjenige Teil ist, welcher bei Ueberlastung infolge Torsion Bruch erleiden würde. Wird daher der Durchmesser der Daumenradwelle genügend stark gewählt, so ist eine Betriebsstörung durch Bruch als ausgeschlossen zu betrachten. Durch Abnutzung der arbeitenden Teile soll eine anormale Veränderung am Getriebe nicht eintreten. Dieser Anforderung wird dadurch genügt, dass das Getriebe mit gleichen dem Uebersetzungsverhältnis entsprechenden Winkelgeschwindigkeiten, sowie mit gleichbleibenden Arbeitsmomenten arbeitet. Sollte z.B. der Fall eintreten, dass ein Getriebe bei der Montage nicht genau auf den gleichen Achsenabstand eingesetzt werden kann, für welchen dasselbe geschnitten ist, so läuft sich solches allmählich in die richtige Arbeitskurve ein, weil sämtliche Teile infolge der Zentrifugalkraft das Bestreben haben, gleiche Winkelgeschwindigkeit zu erhalten. Textabbildung Bd. 315, S. 126 Fig. 6.Uebersetzung 1 : 10. Ist der Zeitpunkt eingetreten, dass die Rollen und Bolzen infolge Abnutzung einer Erneuerung bedürfen, so wird die eigens für die Getriebe konstruierte und patentamtlich geschützte Splintsicherung entfernt, die Bolzen mit einem Durchschlag seitlich herausgetrieben und neue Rollen und Bolzen eingesetzt. Diese Reparatur wäre in kurzer Zeit auszuführen. Der Rollenradkörper bleibt stets unversehrt erhalten und ist es nicht wie bei Erneuerung von Zahnrädern erforderlich, grössere Teile der Maschine demontieren zu müssen. Selbst für den Fall, dass Fremdkörper in das Getriebe geraten sein sollten, wodurch ein Ausbrechen von Rollen und Bolzen erfolgen könnte, ist eine längere Betriebsstörung ausgeschlossen, da nicht wie bei Zahnrädern vollständig neue Räder gegossen, gedreht und geschnitten werden müssen. Das Getriebe erfordert nach beendigter Montierung keine besondere Wartung. Man umgibt dasselbe am einfachstenmit einem Schutzgehäuse, wie solches auch bei Zahnrädern geschieht und giesst in dasselbe nur so viel Oel hinein, dass der unterste Teil der Räder eintaucht. Selbstverständlich stellen sich die Getriebe wegen erforderlicher Präzisionsarbeit und umfangreicher Spezialeinrichtungen, welche zu deren Herstellung unentbehrlich sind, teurer als gewöhnliche Zahnräder, doch wird der Mehrpreis durch die gebotenen Vorteile aufgewogen. Textabbildung Bd. 315, S. 126 Fig. 7.Grisson-Getriebe an Elektromotor, komb. mit Riemenscheibe. Die Achsenabstände der Grisson-Getriebe lassen noch eine weitere Reduktion zu, wenn die Daumenzähne mit der Welle aus einem Stück geschnitten werden. Es empfiehlt sich, diese Anordnung bei Uebersetzungen grösser als 1 : 30 zu wählen. Bei Automobilgetrieben ist diese Konstruktion zur Ausführung gekommen, indem bei gleichen Achsenabständen auf der einen Seite des Motors eine Uebersetzung 1 : 8 mit Zahnrädern, auf der anderen Seite eine Uebersetzung 1 : 18 mittels Grisson-Getriebe gemacht wurde. Bei einer Uebersetzung 1 : 50 und einer Daumenwelle von 40 mm Durchmesser betragt der Achsenabstand in dieser Ausführung nur 1073 mm. Es fehlte bisher thatsächlich an einem Maschinenelement, um die durch Fortschritte des Maschinenbaues und durch erhöhte Anforderungen der Industrie hervorgerufenen Gegensätze in Einklang zu bringen. Die Absicht des Erfinders war deshalb, ein für den allgemeinen Maschinenbau geeignetes Getriebe zu schaffen und dass es diesen Zweck erfüllt, geht aus nachstehend zusammengefassten Eigenschaften desselben hervor. Das Getriebe erzielt bei kleinem Achsenabstand grosse Uebersetzungen und zwar entspricht die kleinste Uebersetzung mindestens der höchsten Grenze günstig arbeitender Zahnräder. Es besitzt zwangläufige Verzahnung, gestattet ferner eine Uebersetzung sowohl vom Schnellen ins Langsame als vom Langsamen ins Schnelle, arbeitet gleichmässig stossfrei und ergibt einen hohen Wirkungsgrad bei grossen Uebersetzungen. Verschleiss und innere Reibungen sind gering, auch hat das Triebwerk keinen Seitendruck, gewährleistet grösstmöglichste Betriebssicherheit gegen Bruch, arbeitet insofern sachgemäss, als durch Abnutzung der arbeitenden Teile keine anormale Veränderung eintritt. Da es einen leichten Ersatz abgenutzter Teile zulässt, keiner besonderen Wartung bedarf und preiswürdige Herstellung ermöglicht, so dürfte das neue Maschinenelement die Beachtung der Fachwelt auf sich ziehen. Als Nachteil des Getriebes wäre zu bezeichnen, dass es nicht gestattet, Uebersetzungen mit Bruchteilen und kleinen Uebersetzungszahlen zu machen; jedoch soll es diesen Bedingungen nach Absicht des Erfinders auch gar nicht Genüge leisten, weil für solcheZwecke vollkommen ausreichende Maschinenelemente vorhanden sind. Das Grisson-Getriebe ist vornehmlich dazu berufen, grosse Uebersetzungen zu bewirken und es unterliegt den gemachten Erfahrungen nach wohl kaum einem Zweifel, dass das Getriebe den in dieser Hinsicht gestellten Anforderungen in jeder Beziehung entspricht. Textabbildung Bd. 315, S. 127 Fig. 8.Uebersetzung 1 : 20.