Titel: Ueber die zweckmässigste Anbringung der Rettungsboote an Bord der Passagierdampfer.
Fundstelle: Band 315, Jahrgang 1900, S. 362
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Ueber die zweckmässigste Anbringung der Rettungsboote an Bord der Passagierdampfer. Ueber die zweckmässigste Anbringung der Rettungsboote an Bord der Passagierdampfer. Seit jeher und namentlich auch wieder bei den im Laufe der letzten Jahre infolge von Zusammenstössen stattgehabten entsetzlichen Schiffskatastrophen haben sich die auf den Passagierdampfern in Anwendung stehenden Sicherungsvorkehrungen in wirklich grauenhafter Weise unzulänglich erwiesen. Dieselben lassen nicht nur was die Verhütung und Abwendung der gefährlichsten Verkehrsunfälle anbelangt, noch immer alles zu wünschen übrig, wie an dieser Stelle (vgl. D. p. J. 1900 315 113) erst unlängst des näheren in Erwägung gezogen wurde, sondern sie sind auch, insoweit sie lediglich als Rettungsmittel nach eingetretenen Unfällen dienen sollen, von sehr fragwürdigem Werte, weil ihre rechtzeitige, erfolgreiche Benutzung innerhalb der oft so verhängnisvoll kurzen Trist vor dem Untergange des Schiffes zufolge der in solchen Augenblicken schwerster Gefahr stets platzgreifenden Ratlosigkeit und Bestürzung der Reisenden ausserordentlich erschwert, in der Regel aber überhaupt unmöglich gemacht wird. Textabbildung Bd. 315, S. 362 Anbringung der Rettungsboote nach Banaré. b Rettungsboote; c Rückwärtiger Teil des Verdecks; c1 Vorderteil des Verdecks; d Ankerspille; e Kommandobrücke; f Schranken des Promenadedecks. Fregattenkapitän A. Banaré hat diese Sachlage unlängst in den Annales hydrographiques einer sehr dankenswerten, eingehenden Prüfung unterzogen und sich bei dieser Gelegenheit insbesondere mit der Frage jener Durchführungen beschäftigt, welche in solchen Fällen, wo das Schiff unverzüglich verlassen werden muss, ein Gelingen des Rettungswerkes, wenn auch nicht verbürgen, so doch erhoffen lassen würden. In dieser Beziehung schlägt der Genannte vor, jeden Grössen Passagierdampfer mit zwei angemessen geräumigen, unversinkbaren Rettungsbooten zu versehen, welche aber abweichend von der bisherigen Gepflogenheit derart untergebracht sein sollen, dass sie stets sämtlichen am Schiffe befindlichen Personen zugängig sind; auch sollen diese Boote – und das ist eben die zweitwichtigste Bedingung – eine Verstauung erhalten, welche sich bei einem allfälligen Sinken des Schiffes selbstthätig löst. Um die von ihm erdachte Anordnung an einem konkreten Beispiele zu erläutern, benutzte Kapitän Banarédie Konstruktion und Ausmasse eines der bedeutendsten, modernen Passagierdampfer dafür als Unterlage, nämlich jene des in Bd. 315, S. 1 ff. ausführlich beschriebenen, auf der transatlantischen Linie des Norddeutschen Lloyds verkehrenden „Kaiser Wilhelm der Grosse“, dessen Gesamtlänge 197,70 m und dessen Breite 21 m beträgt. Gemäss dieser Voraussetzung sollte das am vorderen Ende des Passagierdampfers (Fig. 1 und 2) auf dem Oberdeck anzubringende Rettungsboot eine Länge von 25 m, eine äusserste äussere Breite von 7 m und eine äusserste lichte Weite von 6 m erhalten; das zweite würde am Hinterteile des Oberdeckes aufzustellen sein und etwa dieselben Breitenabmessungen haben wie das erste, aber um 5 m länger sein als dieses. Der Rumpf beider Rettungsboote wäre aus einem Stahlgerippe mit Stahlblechverkleidung so leicht als möglich herzustellen und sollte durch zwei Längswände a1 und a2 (Fig. 2), sowie zwei Querwände m1 und m2 in fünf wasserdichte Luftkammern geteilt und auf diese Weise unversinkbar gemacht sein. Durch den Umstand, dass die Boote auf dem Oberdeck ihren Platz haben, sind sie leicht von sämtlichen Insassen des Schiffes erreichbar, zugleich ist hierdurch den Booten die Möglichkeit verbürgt, im Falle als der Dampfer zum Sinken käme, sich aus ihrer wiegenförmigen Schwebeaufhängung selbstthätig loszulösen, sobald sie das Wasser erreicht. Jedes dieser beiden Boote könnte im Minimum 600 Personen aufnehmen. Nachdem Kapitän Banaré in seinen oben angezogenen Darlegungen, aus denen hier in aller Kürze lediglich nur das Grundsätzliche entnommen wird, die Abänderungen und Neugestaltungen, welche die Einbeziehung der beiden Grössen Rettungsboote in die Verdeckeinrichtung der Passagierdampfer mit sich bringen würde, bis in die kleinsten Einzelheiten genau angibt, geht er die hauptsächlichsten, von Seiten hervorragender Fachleute gegen sein Projekt erhobenen Bedenken der Reihe nach gewissenhaft durch. So stellt er beispielsweise bei der Prüfung der Frage über die Zunahme der Belastung, welche die Einführung von zwei Rettungsbooten der in Rede stehenden Anordnung zu bedeuten hätte, rechnungsmässig fest, dass das Gewicht derselben sich nicht ganz auf 153 t belaufen würde. Zieht man hiervon das Gewicht derjenigen Teile und Einrichtungen des Dampfers ab, die durch die neue Einrichtung überflüssig würden, so vermindert sich die thatsächliche Gewichtszunahme auf nahezu die Hälfte, eine Mehrbelastung, deren Berücksichtigung für die mit dem Baue neuer Passagierdampfer betrauten Ingenieuren keine ernstlichen Schwierigkeiten mehr darbietet. Ebenso weist Kapitän Banaré andere Befürchtungen als ungerechtfertigt zurück, die sich auf die Beseitigung der allgemein am Vorderteil der Dampfer angebrachten schildförmigen Bedachung bezogen, gleichwie die Bedenken, welche von manchen Seiten gegen das Prinzip an sich erhoben wurden, dass die Auslösung der Rettungsboote erst im Augenblicke des Schiffsunterganges erfolge. Was ferner den Bau solcher neuer Passagierdampfer betrifft, welche gemäss staatlicher Bestimmungen für den Kriegsfall als Gefechtsschiffe sowohl für Angriff als für Verteidigung verwendbar und deshalb zur Aufnahme von Schnellfeuergeschützen geeignet sein müssen, so würden auch diesbezüglich durch die Anbringung der vorgeschlagenen Grössen Rettungsboote keine ernstlichen Schwierigkeiten erwachsen; im Gegenteil könnten diese Boote im Kriegsfalle für die Durchführung von Landungen ganz besonders vorteilhaft ausgenutzt werden Weiters gibt der Erfinder eingehend alle weiteren marinetechnischen und administrativen Verhältnisse an, welche für die Einrichtung massgebend sind und daher unbedingt Beachtung zu finden haben, sowohl bezüglich des Baues, als des einzuschiffenden Materials, der Lebensmittel, der sonstigen Rettungsvorkehrungen u.s.w. Das Gewicht dieses Materials zu dem von 600 Personen hinzugezählt, würde 46 bis 48 t nicht übersteigen; der Tiefgang der Boote würde gegen 0,70 bis 0,80 m betragen. Die Grösse Stabilität in der Form der Boote würde die minder Grösse Stabilität in der Belastung derselben ausgleichen. Kapitän Banaré liefert in den Annales hydrographiques endlich auch eine interessante Zusammenstellung aller jener Verhaltungsmassregeln, die im Ernstfalle einer Rettungsaktion beobachtet werden müssen, und deren Durchführung durch eigene, gedruckte Vorschriften zu unterstützen wäre, die in allen Räumen des Dampfers angeschlagen werden und jedem Manne der Besatzung sowie jedem Passagier genau den Punkt bezeichnen, wohin sie sich auf ein bestimmtes, aussergewöhnliches Signal des Schiffskommandeurs zu begeben haben. Ueber zwei andere, denselben Erwägungen entsprungene, aber auf wesentlich kleinere, einfachere Verhältnisse sich beziehende, einschlägige Erfindungen, wovon die eine von Mallory, die andere von Bradford Leslie herrührt, machte in der letzten Sitzung der American Society of naval Architects and Engineers eines der Mitglieder dieses Vereines, Herr John Hyslop, nachstehende Mitteilungen: In diesen beiden Fällen handelte es sich lediglich um eine besonders zweckmässige, scharnierartige Anordnung jener Bogenträger, an denen die Rettungsboote für gewöhnlich auf Flaschenzügen oder sonstigem Rollenwerke aufgehängt und festgetaut sind. Textabbildung Bd. 315, S. 363 Fig. 3.Anordnung nach Mallory. Nach dem Vorschlag Mallory's sollen die Boote in hergebrachter Weise am Oberdeck d1 (Fig. 3), und zwar innerhalb des Schiffes, jedoch stets auf der Meeresseite desselben auf mindestens zwei Bogenträgern t aufgehängt sein, wie es die Zeichnung ersehen lässt; dabei wäre das Boot b auf der dem Schiffe zugekehrten Hälfte durch einen Unterlagskeil w zu stützen, derart, dass es einerseits durch die Vertauung r, andererseits durch w und einen nach aufwärts gestellten Riegel r festgehalten wird, welch letzterer hinter dem Kielbaum des Bootes oder einem eigens für diesen Zweck am Kiel angebrachten Backen n vorgelegt ist, und diesen an dem entsprechend abgesetzten Unterlagskeil w anpresst. Auf diese Weise würde die feste Verstauung der Rettungsboote selbst bei stürmischem Seegang genügendgesichert sein. Die Träger t sind nicht an den Schiffswanten direkt festgemacht, sondern im Niveau des Mitteldeckpassage d2 bei x in Gelenken angebracht. Tritt nun die Notwendigkeit ein, das Rettungsboot auszusetzen, so wird einfach nach Wegnahme des Splintes, welcher normal die senkrechte Lage der Riegelhandhabe i sichert, letztere um 90° nach rechts gedreht und dadurch der Riegel r beseitigt bezw. der Verstauungsverschluss am Bootekiel geöffnet. Das bei n freigewordene Boot strebt nunmehr vermöge seines Eigengewichtes der See entgegen, so dass bei gleichzeitiger Lüftung der Vertauung die Bogenträger im Gelenk mitbewegt werden und, wie es mit gestrichelten Linien in Fig. 3 angedeutet erscheint, sich gleich der Speiche eines Rades nach aussen drehen, bis das Boot im Wasser eintrifft oder auch bis die Träger t im Niveau der Mitteldecks d2 eingelangt sind. Bei dieser Drehung laufen die Träger t in Führungen f, welche aus je zwei parallelen, 5 cm weit voneinander abstehenden, in senkrechter Ebene liegenden Winkelblechen gebildet werden. Letztere, zwischen welchen also der Träger t seinen Weg nimmt, sind um 90° abgebogen und mit ihren Enden am Oberdeck sowie am Mitteldeck stark befestigt. Ueber die weiteren Einzelnheiten der Konstruktion sowohl als namentlich über die Ausführungsweise der Einschiffung ist in unserer bezüglichen Quelle, Revue universelle S. 305 ff., keine weitere Angabe gemacht, wohl aber über einen Verbesserungsvorschlag, welcher seitens des Vortragenden Hyslop seinen Erläuterungen der soeben geschilderten Anordnung beigefügt worden ist. Der Genannte meint nämlich, damit die Vorrichtung ihrem Zwecke vollkommen entsprechen könne, sei die Vertauung jedes Rettungsbootes am Schiffe nicht durch die Vermittelung von Rollen oder Flaschenzügen zu bewerkstelligen, sondern die Tauenden seien an einem parallel zur Schiffswand angeordneten Wellbaum p zu befestigen und aufzuwickeln, dessen Hemmung sich durch die auf- oder abwärts gerichtete Bewegung einer Bremskurbel k vornehmen bezw. aufheben lässt. Das Aussetzen der Boote ginge dann um so rascher und sicherer vor sich, weil das ganze Niederkippen der Bogenträger nebst dem Boote, sobald der Verstauungsriegel r umgelegt worden ist, mit einer einzigen Hand durch Anwendung der Bremskurbel k ganz nach Bedarf geregelt werden kann. Durch ein etwa am zweiten Wellbaumende angebrachtes Speichenrad liesse sich natürlich bei der gedachten Ausführung ebenso leicht auch das Einholen oder Halbhissen des Bootes bewerkstelligen. Textabbildung Bd. 315, S. 363 Fig. 4.Anordnung nach Bradford Leslie. Während die Mallory-Hyslop'sche Konstruktion eine zwar gewöhnliche, aber doch ganz bestimmte Deckform des Schiffes voraussetzt, nämlich jene, bei welcher ein gegen das Mitteldeck zurückspringendes Oberdeck vorhanden ist, steht die Anordnung von Bradford Leslie (Fig. 4) lediglich von der Schiffswand in Abhängigkeit. Die erste Besonderheit der Vorrichtung besteht in der völligen Abwesenheit einer Vertauung zum Festhalten des Bootes, indem nämlich letzteres auf eine Art von Schlittenwiegen getragen und festgehalten wird, welche auf dem entsprechend gekrümmten Kopfenden der Bootsträger t mittels übergreifender Bügel gleiten können. Jeder Träger t besteht aus einem Fachwerk von Winkelblechen, dessen Hauptgurt mit seitlich vorstehenden Backen in einer an der Schiffswand s befestigten, gleichfalls aus zwei Winkelblechen bestehenden Führung läuft. In dieser Führung werden die Träger jedes Bootes mittels Ketten, die auf ein Spill p aufgewunden sind, entsprechend hoch gehoben, so dass das Boot b seine angemessene Normallage über Deckhöhe erhält. Soll das Boot ausgesetzt werden, so wird die Sperre der Winde p gelöst und letztere langsam zurückgedreht, demzufolge die Träger t, angetrieben durch das Eigengewicht und die Last des Bootes zuvörderst in ihren Führungen an der Schiffswand s entlang, nach abwärts gleiten, bis das untere stählerne Trägerende in den Zahnausschnitt eines an der Schiffswand angebrachten, kleinen aber starken Triebrädchens r eintritt und den bisherigen Weg nicht mehr weiter fortsetzen kann. Da aber bei Erreichung der eben erwähnten, tiefsten Lage von t gleichzeitig die Gurtbacken des Trägers aus den Führungen schlüpfen, so wird nunmehr bei weiterem Abwinden die Kette k ein successives Kippen des Trägers erfolgen, so lange, bis das Boot ins Wasser gelangt und sich selbstthätig von den Wiegen loslöst. Die verschiedenen Phasen dieses Vorganges sind in Fig. 4 sehr anschaulich dargestellt; leider gibt aber Hyslop auch hinsichtlich der engeren Einzelnheiten der Bradford-Leslie'schenAnordnung nichts Näheres an, sondern beschränkt sich darauf hinzuweisen, dass dieselbe, ein pünktliches gehöriges Zusammenwirken aller Teile vorausgesetzt, allerdings vorzügliche Dienste leisten könnte; sie besitze jedoch ausschliesslich nur für jene verzweifelnden Fälle eine günstige Verwendung, in welchen auf ein späteres Einholen der Boote nicht mehr gerechnet wird. Wie sich nämlich mit der in Rede stehenden Einrichtung das Einholen eines Bootes bewerkstelligen liesse, ist nicht zu erkennen, wenn auch die Rückstellung der Träger t in ihre Normallage durch das Aufwinden der Kette k zweifellos möglich ist. Zu den vorstehenden Vorführungen wäre schliesslich noch zu erwähnen, dass derzeit von einer der bedeutendsten englischen Schiffahrtsgesellschaften eine grössere Anzahl Fahrzeuge mit Rettungsbooten ausgestattet wird, welche sich durch eine besondere, von einem Schiffskapitän in Dover angegebenen Vorrichtung zum leichten und sicheren Aussetzen wie Einholen auszeichnen soll, und dass wir hoffen, demnächst auch darüber Näheres berichten zu können.