Titel: Mechanik des Vogelflügels.
Autor: Karl Steffen
Fundstelle: Band 315, Jahrgang 1900, S. 385
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Mechanik des Vogelflügels. Von Karl Steffen in Röhrsdorf, Deutsch-Böhmen. Mechanik des Vogelflügels. Man hat bisher den Flügelschlag in seiner wesentlichsten Bedeutung schon darum verkannt, weil das Wesen der Luftreaktion nicht bekannt war. Dieselben Spannungs- und Spannungsausgleichswirkungen, die ich S. 304 bis 307 d. Bd. erläutert habe, müssen in erhöhtem Grade beim Flügelschlag um die äusseren Teile des Flügels, die ja den grössten Weg zurücklegen, in Wirksamkeit treten. Es muss also vorzüglich auch in der Richtung dieser Bewegung der Ausgleich gesperrt werden, denn sonst müsste der Haupteffekt des Flügelschlages verloren gehen durch Entspannung nach aussen (vgl. S. 307 d. Bd. Grundgesetz 3). Aus Fig. 1 sieht man auf den ersten Blick, dass der Flügel F auf seinem Wege von der Hochlage zur Tieflage den grössten Teil der Luftmassen nach aussen auswirft, also ungespannt entweichen lässt bezw. zum Ausgleich bringt. In dieser Weise wurde der Flügelschlag versucht. Fall 1. Die gebrochene Linie SEHA zeigt die natürliche Lage des Flügels in der Tief läge, wie sie von mir erreicht wird. Fall 2. Flügelspitze A eilt dem Angriffspunkte bei E voraus und sperrt in demselben Grade den Ausgleich um die äusseren Ränder. Das Druckzentrum Maximum rückt im ersten Fall gegen die Spitze, im zweiten Fall mehr gegen den Drehpunkt des Flügels. Umgekehrt rückt das Druckminimum im ersten Fall relativ mehr gegen den Drehpunkt, weil die inneren Flügelpartien einengrösseren Raum bestreichen; im zweiten Fall mehr nach aussen, weil die inneren Partien einen viel kleineren Raum bestreichen. Die Pfeile R zeigen den. Repulsionsdruck der gespannten Massen ganz verschieden an Stärke und Richtung. Im ersten Fall erhalten wir offenbar einen kleineren Spannungsdruck als im zweiten. Die Druckbasis erweitert sich im ersten Fall, im zweiten verengt sie sich unter dem Schwerpunkt des Systems; alle diese Erscheinungen gehen ohne weiteres aus der Skizze hervor. Vorerst wollen wir das wichtigste herausgreifen. Vergleichen wir die Arbeitswege des Angriffes der Kraft bei E in beiden Fällen mit den Druckwegen mm1 in beiden Fällen, so sehen wir, dass das Verhältnis im zweiten Fall ein bedeutend günstigeres ist, denn es entspricht im zweiten Fall ein viel kleinerer Arbeitsweg der Kraft, einem grösseren Druckwege der Spannung, als im ersten. Bedenken wir ferner, dass, wie aus der Skizze ersichtlich, die Kraftarme, die in beiden Fällen gleich sind, im zweiten Fall einem immer kleiner werdenden Druckarm Sm1, im ersten einem immer grösser werdenden Druckarm entsprechen, so wird klar, dass die zu leistende Arbeit trotz des stärkeren Normaldruckes der Spannung reichlich ausgeglichen wird; hingegen der relative Flieheffekt des Druckes ein ganz enormer werden muss und das mit zunehmender Schwingungszahl in beschleunigtem Masse. Die Behauptungen derjenigen Flugtechniker, welche sich auf Erfahrungen mit motorisch angetriebenen Flügelapparaten stützen, dass 3 bis 4 PS für den persönlichen Flug erforderlich wären, sind zweifellos richtig, nur schade, dass man nicht die richtigen Folgerungen zu ziehen sucht. Textabbildung Bd. 315, S. 386 Fig. 1 Hat man jemals von einer gebremsten Dampfmaschine freie Arbeitsenergie entbunden? Genau so scheint mir das Bestreben, aus etlichen Flügelschlägen mit im voraus überlasteten (mit mehr als 50 kg) Maschinen die Flugarbeit der Luft auszunutzen. Man ist eben ganz von der Widerstandstheorie beherrscht, und von gewissen Aengstlichkeiten; beide verbieten es, sich einmal die Verhältnisse bei freier Entfaltung der Bewegung anzusehen. Man ist damit auf eine ganz falsche Fährte gekommen; statt den Apparat auf höchstens 10 kg Eigengewicht zu entlasten, und die Fläche auf ein Minimum zu reduzieren, und dann einmal auf die ersten gewiss schweren, auch körperlich anstrengenden Schläge hinwegkommen zu suchen, schreitet man zu weiteren Belastungen, gewaltsamen Leistungen, und findet, dass selbst unser hochentwickeltes Motorwesen noch nicht genug entwickelt ist, um bequem, ohne Aufwand „von Mut und Geistesgegenwart“ (??) zum Ziel zu gelangen. Ich kann nicht umhin noch weiter auszuschweifen und hinzuweisen auf die ersten Radfahrversuche; welche Mühe und mitunter Angst bei gewissen Gemütern erweckt nicht ein solcher Versuch, und nicht der kleinste Teil aller Hindernisse kommt auf Rechnung ungeschickter und unverstandener Handhabung dieser flüchtigen Maschine? Und sind die Gefahren und Anstrengungen nicht viel geringer, als sie einmal schienen? Erhöhter Mut, fester Wille und Geistesgegenwart spielen bei der Lösung der Flugfrage in den Anfangsstadien nicht die kleinste Rolle, wer diese meidet, kommt nie zum Gefühle, das uns der Vogel tausendmal täglich erweckt, wenn wir denkend sehen: „frei von jeder Gefahr“! Man wird mir diese Ausschweifung in einer technischen Studie gewiss nicht verargen, wenn man überlegt, dass das energische Wollen stets der Vater der grössten That ist und bleiben wird. Nachdem ich die Grössen Nachteile unserer bisherigen Flügelschlagsysteme genügend erörtert zu haben glaube, habe ich noch die konstruktive Lösung der natürlichen Flügelschlagbewegung durch die zwangsläufige „Flügelführung“ anzuschliessen. Textabbildung Bd. 315, S. 386 Fig. 2 Textabbildung Bd. 315, S. 386 Fig. 3 Es handelt sich hierbei um die konstruktive Lösung der Frage, wie dem Flügel die aus Skizze 1 SEHA ersichtliche Bewegung zwangsläufig gegeben werden soll (vgl. Fig. 2 und 3). Der ganze Flügelarm, welcher die vordere starre Kante des Flügels bildet, ist, statt wie früher aus einem Ganzen, in drei Teile gegliedert, die untereinander bezw. bei S mit dem Gestelle, welches den Flieger aufnimmt, gelenkig verbunden sind. Um die Arme untereinander in einer bestimmten zwangsläufigen Führung zu erhalten, sind die Arme AH und HE über die Gelenke hinaus verlängert und die Enden dieser Teile mit dem gegenüberliegenden Arm bezw. mit dem Holm des Gestelles durch eine Führungsstange verbunden. Diese Führung kann mit einer Art Paralellogrammführung verglichen werden. Verdreht man die Gelenksachsen bei SE und H windschief und wählt man das Mass der Uebersetzung durch die Paralellogrammführung entsprechend, so kann man dem Flügelarm jede gegen die Flügelspitze zu progressiv wachsende Schlagbewegung erteilen (Fig. 2 zeigt den Flügel in seinen drei Hauptstellungen) durch einfaches Oeffnen und Schliessen der Armwinkel, oder Anziehen und Ausstrecken des Flügelarmes, wie dies ja auch der Vogel thut, wenn er die Flügel flugbereit oder flugruhend macht. Die eigentliche Flugbewegung der Organe liegt auf dem Wege zwischen diesen zwei äussersten Grenzstellungen, ist also nur ein beschränktes Oeffnen und Schliessen der Flugorgane. Um dieses System in eine federnde Spannlage zu bringen mit dem Antriebsmechanismus, sind die Angriffspunkte bei E durch je einen Federzug vom Holm des Gestelles und einem doppelt starken Federzug am Tritthebel aus balanziert und zwar in der Weise, dass die Flügel in der Ruhelage sich stets in die mittlere Schwebelage einstellen; ein nicht unwesentlicher Punkt. Der Flügel fühlt gewissermassen alle äusseren Windrepulsionen ab und entlastet die Hand bezw. die Füsse von diesem störenden Geschäft. Sämtliche Nachbildner des Flügelschlages, ich nenne nur die wichtigsten, das sind Lilienthal, Stenzel, Pilcher, haben also in wenig vollkommener Weise dies gethan; es liegt der Grund darin, dass man die äusserst sinnreiche Flügelmechanik nicht gründlich genug erforscht und praktisch gewürdigt hat. Ich glaube dies schon einigermassen an der Wirkung der eigentümlichen Klappenflächen oder Spannungsgeneratorflächen, deren typische Form an jedem Flügel, ob Vogel- oder Insektenflügel, zu finden ist, dargethan zu haben (S. 304 d. Bd.). Nun ist es klar, dass die willkürliche, nicht nur selbstthätige Wirkung, wie bei der einfachen Klappe oder Feder, eine um so vollkommenere sein wird, je inniger die Gleichzeitigkeit (Synchronismus) zwischen den zwei Hauptthätigkeiten des Flügels: „Schlagbewegung“ und „Drehung“ durch den organischen Verband der letzteren hergestellt wird. Denn in diesem letzteren Fall werden äussere unregelmässigeWindstösse das Zusammenwirken weniger stören können, als bei einseitiger Selbstthätigkeit der einen oder der anderen Bewegung. Ich fand, dass die Drehung des Flügels bei Nichtbeachtung dieses Umstandes oft ganz entgegengesetzt erfolgt, als der eigentliche Flügelschlag es erfordert; dass infolgedessen der Flügelschlag momentan ganz versagt oder wenigstens nicht bewegungserhaltend, sondern geradezu störend wirkt. Manchmal gerät der selbstthätig drehende Flügel, durch rasch und unregelmässig, einmal von oben, dann von unten aufstossende, von aussen einfallende Windrepulsionen in so heftiges Flattern, dass an eine willkürliche Beeinflussung der Drehung beim Schlage gar nicht zu denken ist, man ist gezwungen, sich hilflos dem ungebärdigen Treiben zu überlassen. Beachtet man, dass bei der windschiefen Verdrehung der Gelenksachsen untereinander in demselben Masse wie die progressiv wachsende Voreilung der Flügelspitze auch der Neigungswinkel der Arme zum Flughorizont progressiv wächst von der Hochlage zur Tief läge und umgekehrt wieder abnimmt, so ist auch der innige Kontakt zwischen Schlagbewegung und Drehung des Flügels um seine Längsachse klar. Der Flügel ist eine windschiefe Fläche mit gegen die Spitze zu progressiv wachsender Ganghöhe. Dies sind die Hauptmerkmale, und ich glaube auch Vorzüge meines als Schulapparat gedachten Flügelschlagsystems. Die Verfolgung dieser Richtung der Flugbestrebungen halte ich für unumgänglich notwendig, nach dem Grundsatze: „Fliegen kann man nur in der Luft und mit den einfachsten Mitteln lernen.“