Titel: Stabilität der Flugsysteme.
Autor: Karl Steffen
Fundstelle: Band 315, Jahrgang 1900, S. 499
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Stabilität der Flugsysteme. Von Karl Steffen, Röhrsdorf bei Heinspach (Deutschböhmen). Stabilität der Flugsysteme. Die Stabilität der Flugsysteme ist im Vergleiche zur Stabilität der Systeme auf fester Unterlage eine wesentlich verschiedene; das Wesentliche in den veränderten Verhältnissen ist in dem Umstände begründet, dass bei ersteren die Wirkung der bewegenden Kraft von der beweglichen Unterlage (hier besser mit Bewegungsmittel bezeichnet) auf den passiven Schwerpunkt des Systems (Bewegungsobjekt) übergeht, wogegen bei letzteren diese Wirkung gerade umgekehrt von dem aktivierten Schwerpunkt auf die passive Unterlage übergeht. Der Kürze halber bezeichnen wir die Stabilität bei dieser eigentümlichen Kräftedisposition als die „Stabilität über der Erde“, weil sie allgemein jedem Systeme ohne fester Unterlage zukommen muss. Bei Flugsystemen haben wir also den Schwerpunkt als das Unveränderliche, den Stossmittelpunkt der gespannten Luftmasse als das Veränderliche zu betrachten, und somit das stabile Verhalten des ersteren stets auf das labile Verhalten des letzteren zu beziehen. Bei jeder Stabilisierung kommt es nun darauf an, eine ganz bestimmte Disposition dieser Kraftmittelpunkte dauernd festzuhalten; wir sagen z.B. die Kraftrichtung soll durch den Schwerpunkt gehen; zu diesem Zwecke muss das Lageverhältnis ein relativ unveränderliches sein. Wenn der Schwerpunkt oder auch Trägheitsmittelpunkt einer Bewegung, z.B. bei stossweiser Hin- und Herbewegung einer Masse infolge Rückwirkung der eigenen Trägheit Erschütterungenerleidet, so muss aus Gründen der Ruhe und Sicherheit der Bewegung ein Ausgleich der schädlichen Massenbewegung angestrebt und die Unverrückbarkeit des Mittelpunktes auf solche Weise sichergestellt werden (Massenausgleich bei Gasmotoren). Ein analoger Fall liegt bei der Stabilisierung eines Flugsystems vor, nur wird es sich hier nicht um Stabilisierung des ohnehin passiven Schwerpunktes und Angriffspunktes des Systems handeln, sondern vielmehr um möglichste Stabilisierung des veränderlichen Stossmittelpunktes, um auf diese mittelbare Weise eine möglichst ungestörte Einwirkung auf den Schwerpunkt zu besitzen. Fig. 1 zeigt ein Flugsystem, S ist der Massenschwerpunkt desselben, F und F1 sind die Profile einer im Ab- bezw. Aufschlage begriffenen Flügelfläche im Momente des Durchganges durch den Flughorizont. Die Flügelflächen sind ungefähr in der Nähe des Schwerpunktes angeheftet. Die Verlagerung des Stossmittelpunktes erfolgt bei jedem Schlage gegen den Hinterrand des Flügels, weil, wie bekannt, der Hinterrand dem jeweiligen Stoss nachgibt (siehe D. p. J. S. 304 dieses Bandes). Es kann aber auch der Fall vorkommen, dass der aufgedrehte Flügel von vorne aufstossenden Windstössen getroffen wird, in welchem Falle der Stosspunkt momentan gegen den Vorderrand zu staut. Kurz, der Stosspunkt kann im Umkreis um den Schwerpunkt und entlang des Flügelprofiles ganz verschiedene Lagen annehmen, und dementsprechend werden die Stossrichtungen auch in verschiedenen Richtungen um den Schwerpunkt herum liegen. In der Flugrichtung werden nur jene Stossrichtungen auf den Schwerpunkt günstig wirken, welche im oder hinter demselben liegen, da alle anderen Stossrichtungen bloss hemmend oder gar nicht auf den Schwerpunkt wirken. Erste Bedingung für die bewegungserhaltende Stosswirkung auf den Schwerpunkt ist, dass sie im oder hinter dem Schwerpunkt erhalten werde, welcher Bedingung der Flügelschlag selbst schon genügt. Textabbildung Bd. 315, S. 499 Fig. 1 Im erhöhten, man kann wieder sagen, zwangsmässigen Sinne wird der Flügelschlag dieser Bedingung gerecht, wenn er zwangsläufig nach rückwärts geführt wird (siehe Fig. 2, meiner Abhandlung „Mechanik des Vogelflügels“ entnommen). Bei den weiteren Betrachtungen ziehen wir also nur die letztgenannten Stossrichtungen, z.B. R beim Abschlag und R1 beim Aufschlag, in Betracht. Jede Stossrichtung hinter dem Schwerpunkt erzeugt ein abdrehendes Kippmoment bezw. aufdrehendes Bäumungsmoment der Längsachse A des ganzen Systems um den Schwerpunkt S, welche beide die Stabilität der Bewegung stören, indem sie das System aus der Flugbahn herauswerfen. Die Grösse desselben ist R . r, wobei r der Abstand des Stossmittelpunktes vom Schwerpunkt S ist. Textabbildung Bd. 315, S. 499 Fig. 2 Nachdem der Arm r dieses Momentes um so grösser werden kann, je grösser das Profil des Flügels im Vergleiche zur Länge desselben ist, so wird die Abdrehung oder die Labilität der Bewegung bei Schmalflüglern verhältnismässig kleiner sein als bei Breitflüglern, und es wird besonders bei letzteren ein Ausgleich dieses Drehbestrebens durch ein gleichzeitig auslösbares entgegengesetztes Drehbestreben der Längsachse notwendig werden. Diesem Zwecke entspricht das in der Verlängerung der Längsachse A ersichtliche Horizontalsteuer H. Jeder Abdrehung der Längsachse vorn entspricht einer Aufdrehung derselben hinten. Die im Sinne entgegen der Flugbewegung streichende Strömung der Luftmassen trifft um so stärker auf die aufgedrehte Steuerfläche und dreht die Längsachse um so kräftiger in die Flugrichtung, je grösser die relative Flugbewegung wird; dieselbe Erscheinung muss sich beim Aufdrehen der Längsachse vorn und Abdrehen derselben rückwärts im entgegengesetzten Sinne zeigen; das Steuer wird daher imVerlaufe zweier Flügelschläge die Längsachse in ihrer Normalstellung im Flughorizont zu erhalten bestrebt sein bezw. das Auslösen der Drehmomente im Schwerpunkte S verhindern. Das System kann somit als vollkommen stabil betrachtet werden, sofern die Flügelschläge fortdauernd abtreibend wirken oder bei vorhandener annähernd gleichmässiger Luftströmung durch schwaches Drehen der Profile die Stossmittelpunkte hinter dem Schwerpunkte erhalten. Selbst aussergewöhnliche stossweise Windströmungen können mit Zuhilfenahme dieser ausserordentlich einfachen Regel und einiger Geschicklichkeit bemeistert werden, auf keinen Fall ist aber ein Todessturz zu fürchten, wenn Vorsicht mit richtiger Erkenntnis und praktischer Anwendung so einfacher Gesetze sich paart. Die Unglücksfälle stehen im strengsten Verhältnis zu schweren Sinnwidrigkeiten und mangelhafter Erkenntnis der Fluggesetze. Bei der Frage nach Stabilisierung der Flugsysteme müssen wir auch noch Unregelmässigkeiten berücksichtigen, welche auf einen oder den anderen Flügel allein oder auf beide zugleich ungleichmässig einwirken. Es können dies nur noch solche Fälle sein, bei welchen eine Drehung des Systems um die Vertikalachse oder um die LängsachseDrehungen um die Längsachse macht der Vogel unschädlich, indem er z.B. in dem angezogenen Falle (Fig. 2) entgegen dem von rechts einfallenden Luftstrome und mit gegen denselben gedrehter Längsachse nach links traversiert, also sich seitlich abtreiben lässt, was man mit dem Ausdrucke „lavieren“ zu bezeichnen pflegt. selbst stattfände. Einseitige oder schräg einfallende Luftströmungen, oder absichtliche ungleichmässige Wirkung des einen Flügels im Vergleiche zum anderen, z.B. beim Lenken, begründen die Auslösung einseitiger Drehmomente in ähnlicher Weise, wie solche im vertikalen Sinne bereits erörtert wurden. Sind in m m1 (Fig. 2) die Stossmittelpunkte und R R1 die Stossresultierenden von verschiedener Richtung, so ergibt eine einfache Kräftezerlegung der beiden, dass das auf Drehung des Systems um seine Vertikalachse arbeitende Moment p r relativ grösser wird, als das Gegenmoment p1 r; das System wird also im Sinne p r um S drehen, oder auch von der Flugrichtung im horizontalen Sinne abfallen. Um auch dieses Abfallen zu begrenzen, wird die Steuerfläche bezw. deren seitliche Randstäbe windschief verdreht, derart, dass sie bei ihrem Ausschlage entgegen der Drehung des Systems eine Fläche von der Grösse ihrer Projektion auf die Symmetrieebene des Systems bietet. Die Luftströmung trifft das Steuer in der Richtung des Pfeiles n und verzögert das Abdrehen des Steuers. Um diese Wirkungen des Steuers in allen diesen Fällen möglichst gross zu erhalten, ist eine geringe Masse und eine relativ grosse Flächenentwickelung desselben bei sehr grossem Abstande des Stossmittelpunktes vom Schwerpunkte S Bedingung. Alles in allem wird also die Massenverteilung bei einem Flugsysteme vorne eine relative Häufung, rückwärts eine Flächenverbreitung erfahren müssen, gleich einem Pfeile oder Schleuderkörper (Bumerang), damit der Schwerpunkt der ganzen Masse möglichst weit nach vorne, und die Angriffspunkte für die richtenden Luftströmungen weit nach hinten rücken. Die Stosspunkte am Flügel liegen auf einer Verbindungsgeraden, welche hinter dem Schwerpunkte die Längsachse schneidet. In der Schwebe oder Segelstellung fällt letztere Gerade mit der Schwerachse normal zur Längsachse zusammen. Dies sind die allgemeinen Bedingungen für die Stabilität der FlugsystemeLilienthal hat diese Bedingungen bekanntlich durch Verlagerung seines Körperschwerpunktes im Sinne der Stosspunktverlagerung, also absolute Stabilität wie bei Systemen auf fester Unterlage erstrebt, was zu ungeheuer empfindlichen Kraftdispositionen und daher ebenso gefährlichen Situationen führte, abgesehen davon, dass diese akrobatenhaften Kunststücke nicht von jedermann auszuführen wären.. Jetzt erst, nachdem die Beziehungen der einzelnen Teile eines Flugsystems anschaulich dargelegt sind, wird man auch die Proportionierung in ihrer Dimensionierung und raumgreifenden Wirkung leicht ermitteln; am besten durch den Versuch. Zahlen allein trügen; Erfahrung lügt nie und leitet die lebendige Anschauung stets auf den Weg zum unvermeidlichen Erfolg.