Titel: Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart.
Autor: M. Richter
Fundstelle: Band 317, Jahrgang 1902, S. 79
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Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart. Von Ingenieur M. Richter, Bingen. (Fortsetzung von S. 59 d. Bd.) Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart. Wenn es sich heute darum handelt, aus der Mengeneinheit des Brennstoffs auf der Einheit der Heizfläche in der Zeiteinheit möglichst Wärmeeinheiten zu erzeugen und von diesen möglichst viele praktisch auszunutzen, d.h. aus einer kleinen Anlage eine grosse Nutzleistung zu erhalten, so ist eine Reihe von Widersprüchen zu beseitigen oder durch Kompromisse zu versöhnen, wie sich das im vorliegenden Thema häufig gezeigt hat; die Dampflokomotive besteht nicht ohne diese Widersprüche. Wenn durch die Schilderung derselben und ihre eingehendere Untersuchung öfters eine Abschweifung vom Thema „Schnellbetrieb“ eingetreten ist, so war diese doch nur eine scheinbare. Die behandelten Beziehungen stehen in engstem Zusammenhang mit dem Schnellbetrieb, der etwa mit der Dampflokomotive einzuführen wäre; sie sprechen mit Gesetzen und Zahlen die Fähigkeiten der letzteren aus ebenso wie ihre Schwächen; sie zeigen die Aussicht, welche der Dampflokomotive in das Feld des Schnellbetriebs geöffnet ist, und durch welche wahren Wolken diese Aussicht verdunkelt ist. Ganz besonderer Wert wurde daher bei der Beleuchtung dieser Umstände auf die Untersuchung der Grössen gelegt, welche im Bau der heutigen Schnellzuglokomotive mitzureden pflegen und für die Brauchbarkeit derselben Ausschlag geben können. Es darf nicht vergessen werden, zwei Aussichten zu erwähnen, welche sich der Dampflokomotive in ein neues Stadium der hohen Entwickelung geöffnet haben, nämlich: die Anwendung flüssiger Brennstoffe und die Dampfüberhitzung. Diese beiden Verfeinerungen, deren die Dampflokomotive ohne weiteres fähig ist, sind unzweifelhaft im stande, sie auf eine bisher ungeahnte Stufe der Entwickelung und Leistungsfähigkeit zu heben, wo sie (bei nicht verdoppelter Heizmannschaft) mit Ausdauer und Leichtigkeit gegen 2500 PSi abgeben wird, um Züge mit der anderthalbfachen Geschwindigkeit von heute bei nur massig verkleinerter Zuglast zu befördern. Zunächst die „Oelfeuerung“. Neu ist dieselbe nicht; seit längerer Zeit ist sie in Südrussland, auf der Arlbergbahn, in England (Ostbahn) und stellenweise in den Vereinigten Staaten (Pennsylvaniabahn besonders) eingebürgert. Verwendet werden die Rückstände der Petroleumraffinerie (Masut, Naphtha), welche in dünnflüssigem Zustand in die Feuerbüchse über eine stets vorhandene niedere Kohlenschicht auf Schlacken geblasen werden. Dazu dienen zwei Dampfejektoren (Bauart Holden ist gewöhnlich), welche auf einer Höhe rechts und links vom Feuerloch gesetzt sind; eine Dampfschlange besorgt das Verflüssigen des Stoffes vor dem Eintritt in den Zerstäuber. Diese Art der Feuerung hat einen Nachteil: die hohen Kosten der Gewichtseinheit dieses Brennstoffs gegenüber anderen, welcher aber gegen die vielen unbestrittenen Vorteile verschwindet. Der absolute Heizeffekt \frakfamily{w} des Petroleums beträgt gegen 11300 Kal./kg (gegenüber 8100 der Steinkohle höchstens). Der Wirkungsgrad ηf der Feuerung ist sehr hoch, so gut wie 1, da die Rauchverbrennung fast vollständig ist. Der Wirkungsgrad der Heizfläche ηh ist ebenfalls höher als sonst, da die Rohre durch keinen Russansatz in der Wärmeaufnahme beeinträchtigt werden. Im Zusammenhang damit ist die Verdampfungsziffer \frac{\frakfamily{D}}{\frakfamily{B}}=\frac{\eta_k\,\frakfamily{w}}{\lambda_0} eine ganz erstaunliche, sie beträgt theoretisch \frac{11300\,\cdot\,1\,\cdot\,0,8}{680}=13 im Mittel (gegen höchstens 9 bei Steinkohle). Der Heizer hat nur noch Armatur zu bedienen, von körperlicher Anstrengung ist gar keine Rede mehr, was besonders auf Gebirgsstrecken nicht hoch genug zu schätzen ist. Es wird nicht nur die Mannschaft viel langsamer ermüden und länger und besser ihren Dienst versehen können, sondern es sind auch höhere Werte von \frac{\frakfamily{B}}{R} erreichbar, soweit das Blasrohr die erforderliche Luftmenge herzuschaffen im stände ist. Die Regulierung von \frac{\frakfamily{B}}{R}, d.h. des Oelzutritts, wird sich nur noch nach der Beobachtung richten, ob Rauch das Kamin verlässt oder nicht, und bis zum Auftreten von Rauch kann \frac{\frakfamily{B}}{R} unter allen Umständen gesteigert werden. Es ist auf diese Art möglich, gewaltige Mengen von Kalorien zu erzeugen und nutzbringend auf die Schienen zu übertragen; an Beweisen fehlt es nicht: In England ist die Pünktlichkeit der ölverfeuernden Ostbahn geradezu sprichwörtlich. Die Lokomotiven derselben halten Dampf, möge es gehen wie es wolle, ob nun schlechtes Wetter, Mehrbelastung oder Verspätung störend in die Nutzleistung der Maschine eingreifen. Die französische Ostbahn hat sich diese Thatsachen zu nutze gemacht und ihre neuesten Verbundlokomotiven mit einer Hilfsteerfeuerung eingerichtet, welche neben der Kohlenfeuerung gleichzeitig bei schwierigen Umständen in Thätigkeit kommt. Dann die Dampfüberhitzung. Projekte für Heissdampflokomotiven sind jedenfalls schon wiederholt aufgetaucht; aber bei der Jugend der Heissdampfmaschine überhaupt ist es kein Wunder, wenn die Ueberhitzung des Dampfes erst jetzt zu einer praktischen Anwendung bei der Lokomotive gelangt ist. Das Versuchsobjekt ist eine 2/4 gek. Schnellzuglokomotive, welche im übrigen genau nach den Normalien der preussischen Staatsbahn gebaut ist. Von Borsig 1900 konstruiert und in Paris ausgestellt, hat sie mit Recht grosses Aufsehen erregt. Ohne weiter auf die Konstruktion des Ueberhitzers einzugehen, möge gesagt werden: Ans der Feuerbüchse führp ein 25 cm weites Rohr auf dem Boden des Kessels unmittelbar in eine konzentrisch um die Rauchkammer gelegte enge Kammer, so dass ein Teil der Feuergase vom Rost sofort in diese gelangt. Sie enthält 20 Windungen einer dreigängigen Dampfschlange, welche der Kesseldampf vor dem Eintritt in die Cylinder durchlaufen muss; er wird dabei vollständig getrocknet und auf etwa 350° C. überhitzt. Die Heizgase erleiden dabei ein Temperaturgefälle von etwa 800° C. und entweichen zuletzt mit den Siederohrgasen ins Kamin. Der Ueberhitzer ist seinem Konstrukteur W. Schmidt in Kassel patentiert. Die erwünschten Vorteile sind: Gewöhnliche Zwillingsmaschine, d.h. einfaches Triebwerk, Wegfall der mit dem Verbundsystem verknüpften Komplikationen; damit zusammenhängend geringere Reparaturen und geringere Anschaffungskosten; Rückkehr zu geringeren Kesseldrücken, d.h. geringere Gefahr und längere Lebensdauer des Kessels, ebenso geringerer Kohlenverbrauch; bedeutend erhöhte Leistungsfähigkeit der Lokomotive ohne Steigerung des Lokomotivgewichts und der Anstrengung der Mannschaft; kleinere Tender für die gleiche Leistung, somit Verminderung der Totlast. Ein Teil dieser Vorzüge ist so stichhaltig, dass der weiteren Verbreitung und Ausbildung des Systems nichts im Wege stehen kann, wenn auch bei den vergleichenden Versuchsfahrten, welche mit der Borsig'schen Heissdampflokomotive und der v. Borries'schen Viercylinderverbundlokomotive (Kl. III b 1 der Tabelle S. 350 Bd. 316) seitens der preussischen Staatsbahn neuerdings angestellt worden sind, die letztere Lokomotive als etwas leistungsfähiger sich gezeigt hat. –––––––––– Die Berechnungsweise der Betriebstechnik hat mit derjenigen der Maschinentechnik nichts zu thun. Wurde bei letzterer der Kohlen verbrauch auf die Stundenpferdestärke oder auf den Stundenquadratmeter bezogen, so ist bei ersterer die Bezugseinheit der Kilometer, der Achskilometer oder Zugkilometer. Zur Aufstellung von Regeln, die beim Aufbau der heutigen Lokomotive zu beobachten wären, sind die darauf bezogenen Verbrauchsziffern nicht zu brauchen; dieselben haben rein finanzielles und statistisches Interesse und kommen daher nur bei Kosten- und Rentabilitätsberechnungen in Frage. Sieht man von einer Aufzählung und Untersuchung der zahllosen Einzelheiten ab, durch welche die moderne Lokomotive erst zu dem mustergültigen Renner und Zugtier wird, zu dem ihre Kräfte sie stempeln und dem man sich gefahrlos überliefern darf, und richtet man den Blick nur auf das grosse Ganze, so darf eine Erwähnung der Sicherheitsvorkehrungen nicht ganz unterbleiben, soweit dieselben vorläufig die Lokomotive selbst betreffen. Es kommt nicht nur darauf an, dass die Maschine die erforderlichen Kräfte besitzt und überhaupt zu entwickeln fähig ist, sondern auch dass sie dieselben entwickeln darf, ohne Gefahr anzurichten. Nur wenn dafür gesorgt wird, dass aus der vollen Kraftentfaltung für die Maschine und ihre Umgebung keine bösen Folgen erwachsen, ist die Lokomotive erst brauchbar; ohne entsprechende Vorsorge dagegen ist sie, auch wenn ihre Leistungsfähigkeit bedeutend eingeschränkt wird, immer noch eine Quelle von Gefahren. Als Sicherheitsbedingung ist zunächst der ruhige Gang der Lokomotive zu erwähnen, dessen Erfordernisse schon, behandelt worden sind (S. 365 Bd. 316). Ein ruhiger Gang wirkt als Sicherung auf drei Arten: Zunächst vermindert er ohne weiteres die Gefahr einer Entgleisung; dann schont er den Oberbau des Bahnkörpers und vergrössert die Lebensdauer desselben, während er gleichzeitig die Reparaturen und damit verknüpften Unterhaltungskosten vermindert; endlich bedeutet er eine Schonung für die Maschinenmannschaft, deren Aufmerksamkeit und Dienstfähigkeit durch schlechte, stossende Gangart der Maschine ungünstig beeinflusst wird. Diese Ruhe des Ganges hängt zusammen mit der fortschreitenden Geschwindigkeit der Lokomotive einerseits, mit der Tourenzahl der Maschine andererseits. Als Sicherheitsvorkehrungen sind daher die Vorschriften aufzufassen, welche die obere Grenze der zulässigen Zuggeschwindigkeit und Tourenzahl festlegen. In unserem oft etwas zu vorsichtigen, gar zu ängstlichen Europa wird mit Rücksicht auf die Sicherheit des Zuges auch heute noch bei den besten Maschinen, den vollendetsten Fahrzeugen und dem stärksten Oberbau dem Führer hinsichtlich der erreichbaren Fahrgeschwindigkeit auf freier Strecke keine freie Hand gelassen, sondern Dienstvorschriften, Kontrolle, registrierende Geschwindigkeitsmesser auf der Lokomotive, Streckentaster u.s.w. sorgen dafür, dass die zulässige Grenze nicht überschritten wird. Hierin kann auch des Guten zuviel gethan werden, so dass z.B. Deutschland mit seiner seit 25 Jahren unveränderten Grenze von 90 km/Std. hinter einer Anzahl anderer Länder bedeutend zurückbleibt. England bleibt, obwohl es den Führern freie Hand lässt, doch hinter Frankreich, wo als obere Grenze 120 km/Std. zulässig sind (seit 1854!), neuerdings zurück, weil seine Lokomotiven an der Leistungsgrenze angelangt sind. In Frankreich zeigt sich somit eine genügend bewährte Vereinigung von Schnellbetrieb und Sicherheit. Als Sicherheitsorgan ist in diesem Sinn somit der Geschwindigkeitsmesser (Tachograph) zu bezeichnen, welcher auf gewissen Bahnen zur vorschriftsmässigen Lokomotivausrüstung gehört, wie z.B. auf den Schweizerbahnen, der Pfalzbahn, Main-Neckarbahn und anderen. Bei richtigem Zustand der Maschine, Fahrzeug, und des Bahnkörpers, und bei gut geschultem Personal erweisen sich aber solche Beschränkungen der Kraftentfaltung der Lokomotive ebensohäufig als blosse Hemmschuhe eines geordneten Betriebes, als Verspätungsquellen, wie sie sich als Sicherungen zu bethätigen Gelegenheit haben. Wenn auch nicht zu bestreiten ist, dass für jede Lokomotive ihrer Bauart gemäss eine obere Grenze der zweckmässigen Geschwindigkeit thatsächlich besteht, so kann andererseits behauptet werden, dass der Sicherheitsgrad, welcher bei der Festsetzung der praktischen Grenze eingehalten wird, sehr oft überflüssig ist, dass die erlaubten Werte viel zu niedrig gegriffen werden, und dass eine mehr oder weniger geringfügige Ueberschreitung der Grenze, obwohl sie dem Buchstaben zuliebe oft bestraft wird, objektiv geurteilt, vollständig unbedenklich ist. Es ist überhaupt nicht bekannt, dass jemals ein Zug infolge zu schnellen Fahrens verunglückt ist; das Doppelte der jetzt üblichen Geschwindigkeiten würde für die Dampflokomotive erst vielleicht wirkliche Gefahr bedeuten. Lange Zeit schrieben bekanntlich die T. V. folgende Höchstwerte vor, wobei die zunehmende Anzahl der Kuppelachsen infolge der Vermehrung der Steifheit des Systems und der Trägheit ungünstigen Einfluss geltend machte: Zahl der Kuppelachsen 1 und 2 3 4 Höchste Tourenzahl in der Minute 260 200 160 Höchste Kolbengeschwindigkeit m/Sek. 5,4 4,2 3,3 Natürlich kommt man mit diesen Zahlen heute nicht mehr aus; sie waren so wie so nur bestimmt für Maschinen, bei denen durch ihre Bauart die „störenden Bewegungen“ nicht besonders vermindert waren, also mit kurzen Radständen und überhängenden Massen. Die Lokomotiven sind ohne Unterschied des Betriebszwecks so vervollkommnet worden, dass auch die Rücksicht auf die Zahl der Kuppelachsen hat verschwinden müssen, und dass durchwegs eine Erhöhung der Werte, teilweise auch eine Ausgleichung stattgefunden hat. So ist, um mit den Forderungen des Verkehrs Schritt zu halten, die Tourenzahl von 300 auch für dreifach gekuppelte Maschinen freigegeben worden; diese und noch höhere Zahlen, ebenso Kolbengeschwindigkeiten bis zu 7 m/Sek. sind gang und gäbe. Man kann schon damit zufrieden sein, vergleiche aber, dass die Amerikaner bereits bis 480 Touren und 9 m Kolbengeschwindigkeit sich verstiegen haben. Das Hauptorgan der Sicherheit aber, soweit sich diese überhaupt durch Apparate vergrössern lässt, ist die Bremse, und zwar im Schnellbetrieb nur die moderne durchgehende Bremse. Es handelt sich in diesem nicht darum, die lebendige Kraft des Zuges überhaupt aufzuzehren, indem man den Reibungs- und Luftwiderstand, der etwa noch durch eine Steigung vermehrt ist, durch künstlich hervorgebrachte Reibung mit Hilfe von Bremsklötzen sehr stark vergrössert, sondern dass die Aufzehrung der lebendigen Kraft plötzlich beginnt und sehr rasch beendet ist. Es wird dies nur durch eine „durchgehende“ Bremse ermöglicht, welche von einer einzigen Hand, der Hand des Führers allein bedient wird. Nicht „divide et impera!“ heisst es da, sondern die Konzentrierung der Funktionen sämtlicher Bremsen des ganzen Zuges auf einen einzigen Willen führt zum Ziel. Die Sicherheit des Zuges liegt ausschliesslich in der Hand des Führers; von der dadurch bedingten Schnelligkeit der Bremsbedienung, wie sie die im Betrieb wünschenswerte Zeitersparnis verlangt, von der Ersparnis an Mannschaft abgesehen, steigt auch für den Fall einer Gefahr die Sicherheit, bezw. Wahrscheinlichkeit, der Gefahr zu entrinnen, in dem Masse, als die Zersplitterung der Aufmerksamkeit geringer ist, d.h. als die Bremsmannschaft an Zahl abnimmt. Das System der Bremse bleibt dabei ausser Betracht; die aus Amerika (1877) stammende Westinghouse-Bremse hat wohl diesseits wie jenseits des Ozeans die meiste Verbreitung gefunden; sie beruht auf dem Prinzip, dass die Bremsen des Zuges duvch Luftüberdruck gelöst werden, wobei entgegengesetzte Drücke von Federn und Gewichtshebeln zu überwinden sind; eine Verminderung des Drucks in der Leitung (3 at) bringt die letzteren zur Thätigkeit und die Bremsen fallen zu, wobei noch zur Unterstützung des Bremsdruckes ein Ueberströmen von Frischluft aus der Leitung auf die Federseite des Bremskolbens stattfindet. Da eine Druckverminderung an irgend einer Stelle der Leitung im Zug ein Schliessen der Bremsen bedingt, so muss der Zug auch durch ein Zerreissen der Leitung, wie sie bei Zugstrennungen eintritt, gebremst werden, womit die Westinghouse-Bremse eine automatische Sicherung für solche Fälle bedeutet, die vom Willen und der Aufmerksamkeit eines Menschen völlig unabhängig arbeitet. Dieser miterkaufte Vorteil kann nicht hoch genug angeschlagen werden. Nicht nur bei einer wirklich vorhandenen Gefahr hat diese Bremse oft als Retter sich erwiesen und ungekanntes Unglück vollständig abgewehrt, sondern, wo das Unglück bereits eingetreten war, wenigstens weitere Ausbreitung desselben abgeschnitten und zur rechten Zeit noch grössere Folgen verhindert, manchmal mit Hilfe des Führers, manchmal automatisch (man denke nur an den Brückeneinsturz bei Mönchenstein am 14. Juni 1891, wo die zweite Hälfte des Zuges jedenfalls nur deshalb gerettet wurde, weil hinter dem über das Widerlager der Brücke gekippten siebenten Wagen die Bremsleitung zerriss, so dass plötzlich der Zug gebremst wurde und sofort stehen musste). Die weitere Vollkommenheit, welche der Bahnbetrieb, im besonderen der Schnellbetrieb damit gewinnt, ist das allgemeine Sicherheitsgefühl, die Hebung des Zutrauens, das dem Betrieb zu schenken ist, wenn derselbe die Möglichkeit bietet, einer etwa vorhandenen Gefahr zu entrinnen, ihr zu trotzen und die Zahl der dem Eintreffen einer Gefahr oder ihrer Folgen günstigen Umstände um einige vermindern zu können. Der Massstab dieses Sicherheitsgefühls ist die Geschwindigkeit, mit der auf der in Frage kommenden Bahn gefahren wird. In dem Mass, in dem die Schnelligkeit wächst, vermehrt man auch die Sicherheitsvorkehrungen; und zwar erstreckt sich dieser Massstab sowohl auf die höchste Fahrgeschwindigkeit auf freier Strecke, welche der Beschaffenheit des Bahnkörpers, der Fahrzeuge und der Maschinen entsprechend zugelassen wird, als auch auf die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen zwei Haltepunkten. Erstere ist um so höher zu nehmen (die Leistungsfähigkeit der Maschine vorausgesetzt), je mehr Vorkehrungen vorhanden sind, um einer vorhandenen Gefahr auszuweichen, wobei Bremse und Signalwesen sich gegenseitig unterstützen müssen, und je weniger Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen einer Gefahr vorliegt, wobei die Bauart und Beschaffenheit des Betriebsmaterials bestimmend eingreifen: gegen das unvorhergesehene Dazwischentreten „höherer“ Gewalten ist man natürlich trotzdem nach wie vor machtlos. Letztere dagegen, die „Durchschnittsgeschwindigkeit“ zwischen zwei Haltepunkten, hängt ab von der Anfahrbeschleunigung, welche ausschliesslich mit der Stärke der Maschine zusammenhängt, von der soeben besprochenen höchsten Fahrgeschwindigkeit der freien Strecke und von der „Bremsgeschwindigkeit“, d.h. dem Bremsweg geteilt durch die Bremszeit, welche gemeinsam durch die Güte der Bremse bestimmt werden. Durch die Anwendung der durchgehenden Bremse ist auch hierin dem Schnellbetrieb mächtig aufgeholfen worden; der Zeitverlust durch Bremsen ist heutzutage auf ein Mindestmass zusammengeschrumpft und manchmal kaum in Anrechnung zu bringen. Beim Betreten der Bahnhofsgrenze wird der Dampf abgestellt und dadurch ein Teil der lebendigen Kraft des Zuges den Zugwiderständen zur langsamen Aufzehrung überlassen; naturgemäss ist der dadurch entstehende Zeitverlust bei kleinen Stationen, also gewöhnlich für Personenzüge, geringer als beim Einfahren in grosse verzweigte Bahnhofsanlagen; am Bahnsteig selbst wird daher eingefahren mit einer von der Geschwindigkeit der freien Strecke zwar etwas verschiedenen, aber besonders bei kleinen Bahnhöfen noch ganz enormen Schnelligkeit, welche dann durch die Thätigkeit der Bremsen auf Zugeslänge (und doch verhältnismässig sanft genug) vernichtet wird. Besonders in Amerika und England wird gerade zu toll in die Bahnhöfe gerast und bewundernswert rasch und sanft der Zug trotzdem auf Bahnsteiglänge zum Stehen gebracht. Die Wirkung der Bremse ist hier demnach ohne weiteres ein Teil der Lebensfrage des Schnellbetriebes und ist durch äusserste Verfeinerungen des Bremssystems erst allmählich zu diesem Ideal geworden; etwas Genialeres und scharfsinniger Erdachtes als die moderne Schnellbremse ist kaum im Gebiet der Technik aufzuspüren. Man vergleiche den Unterschied von einst und jetzt. Vor der Einführung der durchgehenden Bremse (etwa 1885) liefen die Personenzüge in die Stationen ein, wie es (in Deutschland wenigstens) die Güterzüge infolge des Mangels dieser Bremse jetzt noch thun: stark verminderte Geschwindigkeit schon lange vor Ankunft am Bahnsteig, im Notfall sogar noch einmal Dampf, um das Ziel sicher zu erreichen, in gegebener Entfernung vor demselben das Haltsignal mit der Dampfpfeife (zwei kurze und ein langer Pfiff mit Zwischenpausen: ⌣ . . . ⌣ . . . –), und nun alle Bremser in Thätigkeit! Wie stossweise, ungleichmässig, nervenerschütternd und im Falle einer Gefahr zur Verzweiflung zeitraubend diese Art der Bremswirkung ist, hat man bei den Güterzügen von aussen und, wenn man das Glück hat in einem gemischten Güterzug fahren zu müssen, von innen häufig zu beobachten Gelegenheit. Mit einem Schlag schaffte die durchgehende Bremse da Abhilfe, wenn sie auch noch gewisse Mängel aufwies, wie sich besonders bei langen Zügen zeigte, wo die Fortpflanzung der Bremswirkung von der Lokomotive aus durch alle Fahrzeuge des Zuges zu viel Zeit brauchte und gegen das Ende des Zuges fühlbar erlahmte. Durch zahlreiche Verfeinerungen ist auch dieser Missstand heute beseitigt und die Bremse ein Zeitgewinner im weiten Sinne geworden. Zur Aufzehrung der lebendigen Kraft des Zuges in einer kurzen Zeit gehört ein gewisser Bremsdruck, welcher nur durch die Annahme einer grösseren Zahl von gebremsten Achsen im Zuge zu erreichen ist, welche ausserdem nach gewissen Regeln im Zuge zu verteilen sind, um die gewünschte Wirkung voll zu erhalten. Es ist dies nötig, um die Gefahr zu vermeiden, dass eine Anzahl von ungebremsten Wagen, deren lebendige Kraft nicht beeinflusst werden könnte, auf einen voranlaufenden gesperrten Wagen aufrennen, womit die Folgen eines Zusammenstosses in grösserem oder kleineren Massstabe verknüpft wären. Das Verhältnis der Bremsachsen hinter dem Tender zur Gesamtzahl der Achsen, die sogen. „Bremsprozente“, werden für die deutschen Hauptbahnen durch die T. V. in Beziehung zur Fahrgeschwindigkeit einerseits, zum Gefälle der Strecke andererseits gesetzt und folgendermassen vorgeschrieben: Gefäll Geschwindigkeit (km/Std.) 30 40 50 60 70 80 90 1 : ∞1 : 4001 : 2001 : 1001 : 801 : 501 : 401 : 25 Bremsprozente   6  6  71315232945   6  9121821313756 10141825293947 172125333856 2530354448 36414656 485459 Die hier verlangte höchste Anzahl der Bremsachsen beträgt 59 % der gesamten Achszahl bei einer Geschwindigkeit von 90 km/Std. und einem Gefäll von 5‰. Ein Schnellzug von 34 Achsen hinter dem Tender muss somit 20 Bremsachsen haben. Bei der Lokomotive selbst werden gewöhnlich die Tenderachsen (einseitig) und die Triebachsen (zweiseitig) durch die durchgehende Bremse bedient, wobei allerdings die Anordnungen ebenso mannigfach sind, als es Lokomotivtypen und Lokomotivfabriken gibt. Eine Bremsung sämtlicher Achsen der Lokomotive wurde bis vor einiger Zeit als nicht zweckmässig erachtet, indem die Gefahr nahe liege, dass der Tender vom Zuge „überritten“ werde; jedoch ist dies bei den heutigen Schnellzügen ebenfalls ausgeschlossen, welche fast oder ganz ausschliesslich aus Bremswagen sich zusammensetzen. Verschiedene Bahnen haben daher begonnen, auch das Drehgestell der Maschine mit doppelter Bremse auszurüsten. Die beiden Laufachsen werden einseitig von der Mitte aus gebremst. Diese Neuheit findet sich z.B. auf der Gotthardbahn, wo auf den langen Gefällsstrecken vom grossen Tunnel abwärts eine Dauergeschwindigkeit von 60 km/Std. eingehalten werden soll; durch vorzügliche Bremswirkung ist dies ohne grössere Schwankung als etwa 2 km/Std. ermöglicht. Neben der für jede Lokomotive vorgeschriebenen vom Heizer zu bedienenden Handbremse, welche bei Schlepptender nur auf diesen wirkt und zwar auf ein und dasselbe Hebelsystem, welches die Luftbremse bethätigt, sind oft noch an Bremsen vorhanden: eine Dampf bremse, auf die Triebräder wirkend, und eine Luftrückdruckbremse (Repressionsbremse), deren Prinzip folgendes ist: der Dampf wird von den Cylindern abgesperrt, dafür eine Verbindung der letzteren mit Umgehung des Blasrohrs unmittelbar mit der atmosphärischen Luft geöffnet und die Steuerung in die der betreffenden Fahrtrichtung entgegengesetzte Lage gestellt. Der Arbeitsprozess der Dampfcylinder ist dadurch umgekehrt, es wird Luft angezogen und komprimiert, die Erhitzung durch eingespritztes Wasser herabgedrückt, und das Gemisch von Luft und verdampftem Wasser zuletzt vom Einströmrohr aus durch einen Schalldämpfer in besonderem Ableitungsrohr ausgepufft. – Beim Befahren starker Gefälle wird unveränderliche Geschwindigkeit dadurch gewährleistet, ohne irgend welche andere Bremsmethode; die Einrichtung findet sich daher ausnahmslos auf allen Zahnradbahnen, wo die Regulierung der Geschwindigkeit mit Hilfe von Reibungsbremsen geradezu unmöglich ist, schon weil bei der Thalfahrt (so wenig wie bei der Bergfahrt) zwischen Maschine und Wagen keine Kuppelung besteht. Auf der badischen Staatsbahn sind ebenfalls eine Reihe von Hauptbahnlokomotiven mit der Repressionsbremse versehen zum Befahren von Gefällen, ohne dass bekannt wäre, dass jemals davon Gebrauch gemacht würde; die Führer ziehen die durchgehende Reibungsbremse vor; auf anderen Hauptbahnen sind die Verhältnisse ähnlich. Das letzte, immer gewagte, Hilfsmittel bei der äussersten Gefahr ist der Gegendampf, wobei die Steuerung, entgegen dem Beharrungsvermögen des Zuges, plötzlich auf die entgegengesetzte Fahrtrichtung umgelegt wird; es ist selbstverständlich, dass dabei sowohl das Triebwerk der Maschine zertrümmert, als auch der Tender überritten werden kann. Besonders kräftig fallen die Bremswirkungen an der Maschine selbst aus, wenn gleichzeitig der Sandstreuer zur Vermehrung der Adhäsion angewendet wird. –––––––––– In vorstehendem konnte ein allgemeiner Ueberblick gegeben werden über die Entwicklung der Lokomotive, besonders der Schnellzuglokomotive, über ihren modernen Aufbau und die ferneren Aussichten ihrer Ausbildung für die Zukunft, über ihre Tugenden und Schwächen hinsichtlich der technischen 5nd kommerziellen Brauchbarkeit, über ihre Rentabilität hinsichtlich Wasser- und Brennstoffverbrauch, über die Ansprüche, die ihre Bedienung an die Mannschaft zu stellen pflegt, und endlich über ihre Beziehungen zur Betriebssicherheit. Es hat sich zum mindesten ergeben, dass der komplizierte Apparat, den diese fahrende Kessel- und Maschinenanlage darstellt, noch nicht am Ende seiner Tage jetzt nach 75 Jahren des Bestehens angelangt ist, sondern im Gegenteil einer sehr grossen weiteren Entfaltung seiner Leistungsfähigkeit bei Beobachtung gewisser Erfahrungen fähig ist. Die Dampflokomotive wird, nachdem gewisse hemmende Schranken, die ihrer Macht bisher gegenübergestanden, gefallen sind, eine solche Vereinigung von Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Sicherheit und Sparsamkeit zu ihrem Wesen machen, dass fürs erste jede Konkurrenz geschlagen werden kann, um so mehr als die Dampflokomotive auf schon bestehendem Arbeitsfeld ihre Thätigkeit aufnimmt, ohne eine „Umwertung aller Werte“ im Betrieb und Bau der Eisenbahnen herbeizuführen. Wer angesichts der drohenden Konkurrenz der elektrischen Schnellbahn der Dampflokomotive den Untergang prophezeit und ihr die weitere Existenzfähigkeit abspricht, beweist damit nur seine völlige Unkenntnis mit dem, was die Dampflokomotive ist, wessen sie und der Lokomotivbau fähig sind und was sie schon geleistet haben. Es sei hier auf die Ausführungen Fränkel's in Glaser's Annalen vom 15. April 1901 hingewiesen: Es ist Zeit, dass die Lokomotivfabriken ebenfalls auf dem Rennplatz erscheinen; denn nur aus vorurteilsloser Vergleichung der beiden Systeme, nur durch eine Betriebsprobe ist der Nachweis zu führen, welchem von beiden der Vorzug gebührt! (Fortsetzung folgt.)