Titel: Elektrische Schienenbremse, System Westinghouse-Newell.
Fundstelle: Band 317, Jahrgang 1902, S. 338
Download: XML
Elektrische Schienenbremse, System Westinghouse-Newell. Elektrische Schienenbremse, System Westinghouse-Newell. Die Frage der Bremsung von Strassenbahnfahrzeugen beschäftigt in letzter Zeit die Fachkreise in sehr lebhafter Weise. Die Einführung der elektrischen Traktion, die damit verknüpfte Erhöhung der Geschwindigkeit und des Wagengewichtes, die notwendige Mehrleistung an Wagenkilometern im Betriebe, der anwachsende Strassenverkehr in den grossen Städten, und infolge aller dieser Umstände die Häufung der Unfälle, sind wohl in erster Linie als Ursache anzusehen, warum dieser Frage die allgemeine Aufmerksamkeit zugewandt werden dürfte. Das Interesse muss sich naturgemäss vermehren, wenn aus den zahlreichen Diskussionen und Erörterungen und nach den von verschiedenen Strassenbahnverwaltungen vorgenommenen Versuchen bis jetzt ein endgültiger Vorschlag oder auch nur ein für alle Parteien einwandfreies Bremssystem nicht gefunden wurde. Bei dieser Sachlage dürften die folgenden Mitteilungen, die sich auf eine neue, von der Westinghouse-Gesellschaft auf den Markt gebrachte Bremse beziehen, allgemein interessieren, zumal diese Bremse durchaus von den bisherigen Ausführungen abweicht und andererseits doch wieder die Vorzüge der verschiedenen Systeme in sich vereinigt. Bekanntlich kann bei sämtlichen Bremsen, welche direkt auf die Wagenachse oder die Räder wirken, die Bremskraft, d.h. der Widerstand, den der Wagen während der Bremsung erfährt, nicht grösser gemacht werden, als die Adhäsion des Wagens zulässt. Versucht der Wagenführer auf irgend eine Weise, die Bremskraft über diese Grenze zu erhöhen, so werden stets die Räder festgeklemmt und der Wagen gleitet auf den Schienen weiter und wird in horizontaler Strecke einen verhältnismässig grossen Bremsweg gebrauchen, während er im starken Gefälle unter Umständen überhaupt nicht mehr zum Stillstand zu bringen ist. Der Wagen gleitet dann mit zunehmender Beschleunigung das Gefälle hinab und wird dabei in der Regel entgleisen. Es lässt sich zeigen, dass ein Gefälle von 40 bis 50‰ bei schlüpfrigen Schienen vollständig genügt, um diese Gefahr heraufzubeschwören, welcher gegenüber der Wagenführer vollständig machtlos ist, so dass er sich, die Wageninsassen und Strassenpassanten gänzlich dem Zufall überlassen muss. Zahlreiche und schwere Unglücksfälle sind auf diesen Uebelstand der genannten Bremsung zurückzuführen. Aber auch ganz abgesehen von dem gefährlichen Gleiten kann der bei schlüpfrigen Schienen mit den bisherigen Bremsen erreichbare Bremsweg nicht als genügend bezeichnet werden, denn unter den günstigsten Verhältnissen, also bei Ausnutzung des gesamten Wagengewichtes für die Bremse und bei bestgeschultem Fahrpersonal, sowie bei völliger Vermeidung des Gleitens, kann bei schlüpfrigen Schienen bei 20 km Höchstgeschwindigkeit auch der leichteste Wagen nur auf Längen von 19 bis 20 m angehalten werden. Das sind prinzipielle Nachteile der bisher üblichen Bremsen und, um diese zu beheben, musste man ein neues System finden das es ermöglicht, mit der Bremswirkung über die Adhäsion hinauszugehen, um auf diese Weise die notwendige Kürzung des Bremsweges bei schlechtem Geleiszustand zu sichern. Als Mittel hierfür stellte sich zunächst die Schienenbremse dar, welche hier und da schon als mechanische Bremse ausgeführt wurde, natürlich ohne Erfolg, denn es ist ohne weiteres klar, dass eine mechanische Schienenbremse niemals einen besseren Bremseffekt haben kann, als eine Radklotzbremse. Dagegen ist die Schienenbremse ausserordentlich verwendbar, sobald es möglich ist, sie so auszuführen, dass der Druck, mit dem sie gegen die Schiene gepresst wird, nicht gleichzeitig das Wagengewicht um denselben Betrag vermindert. Dies ist auf elektromagnetischem Wege möglich und bei der Westinghouse-Newell-Bremse zur Ausführung gebracht. Diese Bremse besteht, wie aus Fig. 1 ersichtlich, aus einem hufeisenförmigen Magnet, der eine für das beabsichtigte Gleiten auf den Schienen geeignete Form besitzt und aus weichem Stahl gefertigt ist, um auf diese Weise die notwendig auftretende Abnutzung auf den auswechselbaren unteren Teil des Magnetbremsschuhes statt auf die Schiene zu verlegen. Der Hufeisenmagnet wird in seinem unteren Teil von einer Spule umschlossen, durch welche bei der Bremsung der Strom der als Generatoren arbeitenden Wagenmotoren geschickt wird. Dieser Bremsschuh ist mittels Federn am Untergestell derart befestigt, dass er im unerregten Zustande über den Schienen schwebt. Durch eine besondere Hebelübersetzung ist ferner dieser Schienenschuh mit zwei Radbremsklötzen in Verbindung. Textabbildung Bd. 317, S. 338 Fig. 1. Die Hebelanordnung ist gleichfalls aus der Figur genau zu erkennen und beachte man bei Beurteilung der Wirkungsweise insbesondere, dass das Zwischenstück zwischen Schienenschuh und dem Hebelparallelogramm ausziehbar ist, derart, dass eine Zugspannung durch diesen Teil nicht übertragbar ist. Zwei solche Schienenschuhe bilden die normale Ausrüstung für einen zweiachsigen Wagen. Dagegen entspricht die Ausrüstung für einen vierachsigen Wagen der doppelten eines zweiachsigen. Die Wirkungsweise der ganzen Vorrichtung ist die folgende: Vorausgeschickt sei, dass die Kontroller wie üblich mit Bremskontakten versehen sein müssen. Bringt nun der Wagenführer die Fahrschalterkurbel auf die Bremsstellung, so wird der Motor von der Oberleitung abgeschaltet und seine Klemmen liegen nun an einem Stromkreise, der von der Schienenmagnetspule und den Vorschaltwiderständen geschlossen ist. Die lebendige Kraft des Wagens treibt dann die Motoren als Generatoren, diese senden somit Strom durch die Magnetspule, so dass ein kräftiges Magnetfeld entsteht. Die nächste Folge ist, dass durch die magnetische Anziehung der Schienenschuh unter Spannung der Federn sich auf die Schienen legt. Nun wird eine gleitende Reibung zwischen dem Schienenschuh und den Schienen eintreten, die infolge des starken Druckes, welcher bis zu 2000 kg per Schienenschuh beträgt, sehr erheblich sein wird. Infolge dieser Reibung erfährt der Schienenschuh einen horizontalen Druck entgegengesetzt der Fahrtrichtung und dieser Druck wir durch das Hebelsystem auf die Radklötze übertragen, welche sich ihrerseits fest an die Radbandagen legen und einen weiteren Bremseffekt an den Rädern bewirken. Die erreichte Bremswirkung ist, wie hieraus hervorgeht, dreifacher Art: Zunächst ein Bremseffekt wie bei der Kurzschlussbremse, darin bestehend, dass die Bahnmotore als Generatoren laufen. Zweitens eine Bremswirkung, entsprechend der elektromagnetischen Bremse, indem der Schienenmagnet sich an den Schienen reibt. Drittens eine Bremswirkung, entsprechend der Luftdruckbremse, indem die Radklötze mit einem grossen und mit abnehmender Geschwindigkeit zunehmenden Druck an die Radbandagen gepresst werden. Die Westinghouse-Newell-Bremse stellt also gleichsam eine Vereinigung der Kurzschlussbremse, der elektromagnetischen Bremse und der Luftdruckbremse vor; aber während bei der Kurzschlussbremse eine übermässige Beanspruchung der Motore äusserst leicht eintritt und eine Bremsung an anderen Achsen als der motorisch angetriebenen unmöglich ist, fällt dieses Bedenken bei der Newell-Bremse vollständig fort, da der für die Erregung des Bremsmagnetes notwendige Strom beliebig klein gehalten Werden kann und die erforderlichen Widerstände beliebig gross, um eine übermässige Beanspruchung der Motore vollständig unmöglich zu machen. Die Newell-Bremse besitzt ferner die Vorzüge der elektromagnetischen Bremse, namentlich den hohen Reibungswiderstand zwischen den sich reibenden Flächen. Während aber die magnetische Bremse ausschliesslich auf die rotierenden Teile wirkt, so dass die von diesen ausgehende Bremskraft durch die Grösse der Adhäsion begrenzt ist, kann die Wirkung des Schienenschuhes bei der Newell-Bremse beliebig hoch gehalten werden, ganz unabhängig von der Adhäsion. Gegen die Luftdruckbremse endlich besitzt die oben erwähnte Bremse den Vorteil, dass bei der ersteren ein Festbremsen der Räder sehr leicht eintreten kann, während diese Gefahr, wie bei einiger Ueberlegung einzusehen ist, bei der Newell-Bremse so gut wie ausgeschlossen ist. Denn der auf die Radklötze ausgeübte Druck steht in einem bestimmten, durch das Hebelsystem festgelegten Verhältnis zu dem horizontalen Druck, den der Schienenschuh erfährt und welcher der gleitenden Reibung entspricht. Die Bremse kann also leicht so eingestellt werden, dass der Druck auf den Radklötzen unter keinen Umständen höher wird als zulässig. Uebrigens ist bekanntlich die Unterhaltung der Luftdruckbremse, die einen recht komplzierten Apparat darstellt, ziemlich kostspielig, weil häufig Reparaturen erforderlich sind und sorgfältige Ueberwachung und Unterhaltung; ferner verbraucht die Bremse Strom für die Komprimierung der Luft und schliesslich ist ein Versagen infolge Einfrierens der Ventile bei grösserer Kälte nicht ausgeschlossen. Alle diese Mängel kommen bei der Newell-Bremse nicht in Betracht. Diejenigen wertvollen Eigenschaften, die sie am meisten charakterisieren, sind offenbar die Möglichkeit, eine Bremskraft auszuüben, welche höher ist als die infolge der Adhäsion maximal erreichbare, und die ausserordentliche Sicherheit gegen das Festbremsen der Räder und das Gleiten. Die Wirkung der Newell-Bremse ist übrigens nicht nur äusserst kräftig, sondern auch nahezu stossfrei, denn die maximale Wirkung setzt nicht im ersten Augenblick ein, sondern die Bremskraft nimmt während des Brems-Vorganges zunächst erheblich zu, um erst bei ganz geringen Geschwindigkeiten (2 bis 2,5 km) wieder abzunehmen. Dass die ursprünglich auftretende Bremswirkung nicht gleich die maximale ist, ist in erster Linie dem Umstand zu danken, dass der Reibungskoeffizient der gleitenden Reibung, von welcher die Bremswirkung zum grössten Teil abhängig ist, bei hohen Geschwindigkeiten bedeutend kleiner ist als bei geringen. Im ersten Moment wird die Wirkung erheblich auch dadurch gemildert, dass die Magnetspule eine gewisse Selbstinduktion besitzt und dass zunächst ein Luftzwischenraum zwischen Schienenschuh und Schiene vorhanden ist. Es möge noch erwähnt werden, dass auch die mechanische Durchbildung des ganzen Systems mit grosser Sorgfalt und durchaus zweckentsprechend erfolgte, was bei den reichen, durch die Fabrikation der Vollbahnbremsen gewonnenen Erfahrungen der Westinghouse-Gesellschaft gerade auf diesem Gebiete allerdings nicht befremden kann. Als ein besonders glücklicher Gedanke muss es bezeichnet werden, dass mit dieser Bremsvorrichtung eine elektrische Heizung des Motorwagens verbunden werden kann, welche nahezu kostenlos erfolgt, da die dazu notwendige Energie von den Anfahrt- und Bremsströmen geliefert wird, die sonst in den Vorschaltwiderständen nutzlos vernichtet würde. Die Heizung der Motorwagen im Winter bedeutet für das Publikum bekanntlich eine ebenso grosse Bequemlichkeit, wie andererseits eine Sorge für die Betriebsleitung, denn eine andere Heizung als die elektrische scheint nicht recht durchführbar und die letztere selbst verursacht, wenn sie von der Fahrdrahtleitung aus bestritten wird, so bedeutende Mehrkosten, dass bei den niedrigen derzeit herrschenden Fahrtarifen diese Ausgabe von den Betriebsverwaltungen billigerweise nicht mehr verlangt werden kann. Textabbildung Bd. 317, S. 339 Fig. 2. Die Energie, die ein gewöhnlicher Motorwagen für die Heizung verbraucht, stellt sich im Mittel auf 250 bis 300 Watt-Stunden pro Motorwagenkilometer und die Kosten hierfür betragen also ungefähr die Hälfte der Stromkosten bei ungeheizten Wagen. Bei der Westinghouse-Heizvorrichtung, welche mit der Westinghouse-Newell-Bremse kombiniert ist, würde die Beheizung des Wagens von den Anfahrt- und Bremsströmen bestritten und demgemäss, abgesehen von der geringen Unterhaltung, nahezu kostenlos sein. Die Vorrichtung besitzt ein grosses Wärmeaufspeicherungsvermögen und ist nach kurzer Betriebszeit derartig warm, dass sie den Wagen stundenlang auf einer erträglichen Temperatur erhält, auch wenn eine weitere Wärmezufuhr durch „Anfahrt“ und „Bremsen“ nicht stattfinden würde. Ausserdem ist diese Heizvorrichtung durch einen einfachen Umschalter abstellbar, so dass bei wärmerer Witterung die Insassen nicht durch Hitze belästigt werden. Textabbildung Bd. 317, S. 339 Fig. 3. Derselbe Umschalter dient übrigens auch dazu, um eine Regulierung der Beheizung durchzuführen, was in der Weise durchgeführt wird, dass nur ein Teil des Anfahrt- und Bremsstromes durch die Heizkörper geht, während der andere Teil die Wagenwiderstände passiert, welche unterhalb des Wagens angebracht sind. Wie aber auch die Regulierung eingestellt sein mag, ist die Schaltung stets derartig getroffen, dass eine durchaus gleichmässige Verteilung der Wärme Platz greift. Bremse wie Heizvorrichtung verdienen als eine neue Erscheinung im Strassenbahnbetriebe die volle Aufmerksamkeit aller Fachleute und es ist, wenn die demnächst in grösserem Massstabe anzustellenden Versuche die in Amerika bereits gefundenen Erfahrungen bestätigen sollten, nicht ausgeschlossen, dass dieser einfache Apparat sich in ähnlicher Weise allgemein einführt, wie seiner Zeit die Westinghouse-Luftdruckbremse für die Vollbahnen.