Titel: Die Weltausstellung in Lüttich 1905.
Autor: M. Richter
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 26
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Die Weltausstellung in Lüttich 1905. Das Eisenbahnwesen, mit besonderer Berücksichtigung der Lokomotiven. Von Ingenieur M. Richter, Bingen. (Fortsetzung von S. 9 d. Bd.) Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Lüttich 1905. Auf französischer Seite wiesen die Lokomotiven keine grundsätzlichen Neuerungen auf; bei der Mehrzahl waren Luftschneideflächen vorhanden, bestehend teilweise aus vollständigen Umhüllungen der Vorderflächen, oder aus zugeschärften Führerhäusern und stark gewölbten Rauchkammertüren, oder endlich auch nur aus dem letzteren Mittel allein. Im übrigen meist bekannte und bewährte Bauarten: ⅖, ⅗, ⅘ gek. Vierzylinder-Verbundlokomotiven mit gutem Massenausgleich. Grosse Sorgfalt zeigten die französischen Lokomotiven auch in Bezug auf die Ausbildung der Ausrüstung, mit deren Einzelheiten gewisse Lokomotiven einigermassen überladen schienen; besonders die Sorge für reichliche, gut verteilte Schmierung liess nichts zu wünschen übrig; ebenso allgemein war die Einrichtung von registrierenden Geschwindigkeitsmessern. Gegenüber Belgien muss noch hervorgehoben werden, dass die französischen Lokomotiven ausschliesslich Belpaire-Feuerbüchse aufwiesen (Manteldecke und Kistendecke flach, zu einander parallel, und deshalb durch ein Bündel paralleler Bolzen mit einander versteift). – Auf belgischer Seite war dagegen eine wichtige allgemeine Neuerung von vornherein auffallend, nämlich der vollständige Verzicht auf die lange Jahre in Belgien üblich gewesene eigentümliche Bauart der Lokomotiven: Kessel mit langen, sich gegen den Rost verbreiternden Belpaire-Feuerbüchsen für Staubkohlenfeuerung, mit Rostflächen bis 6 qm, langem Feuergewölbe und Kipprost; vierseitiges, nach oben verjüngtes Kamin zur Verflachung der Druckschwankungen in der Rauchkammer, welche bedeutende Länge besitzt und meist weit über das Kamin hinausgeht. Aussenrahmen zur Aufnahme des breiten Rostes, innere Zylinder, Zwillingsmaschine. Vordere und hintere Laufachsen mit radial einstellbaren Büchsen an Stelle des Drehgestells, um die Triebräder möglichst in die Kesselmitte zu bringen und dem Rost Platz zu verschaffen. Steuerung ausschliesslich nach Walschaert (Heusinger). Dieses ganze, nur mit Rücksicht auf die Verwendung minderwertigen Brennstoffs, der nur schwachen Luftzug verträgt, entstandene sonderbare und, nebenbei gesagt, sehr unschöne Gepräge (D. p. J. 1902, 317, S. 649, und 1904, 319, S. 122) rührte von dem ehemaligen Generaldirektor Belpaire her. Allmählich gelang es nämlich doch nicht mehr, den gesteigerten Ansprüchen an Zuglast und Geschwindigkeit mit Verwendung der bisherigen Mittel gerecht zu werden, und man musste sich nach anderen Mitteln umsehen, umsomehr, als zur Beschickung der grossen Rostflächen in den schwersten Zügen bereits zwei Heizer erforderlich geworden waren. Der nächste Schritt in dieser Beziehung war ausschlaggebend für eine Reihe von Jahren: man beschaffte zunächst aus England eine Anzahl von 2/4 gek. Zwillings-Schnellzuglokomotiven genau nach dem Muster der Caledonischen Bahn, welche mit diesen Maschinen im englischen Schnellverkehr an die Spitze getreten war (D. p. J. 1903, 318, S. 197). Der Erfolg war ein derartiger, dass die neue Maschinengattung auch von den belgischen Fabriken in sehr grossem Umfang nachgebaut wurde. Gerade wie das Nachbarland Holland war dadurch auch Belgien in das englische Fahrwasser geraten, und allmählich ging man auch für die anderen Lokomotivgattungen zum englischen Muster über, welches zunächst folgende Eigentümlichkeiten besitzt: Tiefe, schmale Feuerkiste mit langem Gewölbe (für Brikettfeuerung in Belgien brauchbar); flache Kistendecke, aber halbrunde Manteldecke. Innere Rahmen, innere Zylinder, Steuerung nach Stephenson. Anwendung von Drehgestellen am Vorderende, wenn irgendwie möglich, daher Lage der Triebachsen am Hinterende. Das englische Drehgestell ist unverändert beibehalten: Druckauflage und Führung mit Seitenverschiebung stets in der Mitte, und Belastung der beiden Achsbüchsen jeder Seite durch einen gemeinsamen Längsbalken mit einer Längsfeder. Für die Verfeuerung von Briketts mit Kohlengrus gemischt wird dagegen eine Feuerkiste (bei im übrigen gleichen Umständen) von massiger Tiefe für halbhohe Schicht mit kurzem Gewölbe vorgesehen, was besonders bei starken Lokomotiven für gemischten Dienst der Fall ist, und nur für langsam fahrende Güterzuglokomotiven wird die Belpaire-Büchse zum Zweck der ausschliesslichen Verfeuerung von Kohlengrus beibehalten. – Die Begründer dieser neuen belgischen Bauarten sind Direktor Bertrand und Generalinspektor Flamme. Im allgemeinen werden nach echt englischer Mode auch bei den entsprechenden belgischen Gattungen die Schieber in den engen Raum zwischen den beiden Zylindern, die ja selbst zwischen den innenliegenden Rahmen mit knapper Not untergebracht werden können, hineingezwängt, was gegen Wärmeverluste immer noch Vorteile haben mag, im übrigen aber seine konstruktiven Bedenken hat und wohl stets das Vorhandensein kleiner Zylinder und die Anwendung des einfachen Muschelschiebers ohne Trickschen Kanal voraussetzt, somit eine recht untheoretische Behandlung dieses Teils der Dampfmaschine zulässt. Bei Heissdampflokomotiven jedoch müssen zur Ausnutzung günstiger Füllungsgrade die Zylinder vergrössert werden und die Anwendung von Kolbenschiebern ist wegen der Wärmeverteilung unerlässlich. Diese erhalten ihren Platz über den Zylindern im Rauchkammersattel und werden angetrieben mit Hilfe eines zweiarmigen Zwischenhebels nach amerikanischer Art. Der bei diesen englischen Mustern eingeführte Ueberhitzer ist der Schmidtsche, aber nicht der ältere Rauchkammer-, sondern der neuere Heizröhren-Ueberhitzer (D. R.-P. No. 126620). Ausserdem ist mit demselben auch die grosse vierzylindrige ⅗ gek. Heissdampf-Schnellzuglokomotive (mit Zwillingswirkung) der Soc. „La Meuse“-Lüttich ausgestattet. Die Typen englischer Bauart sind folgende: 1.2/4gek. Schnellzaglokomotive nach dem Muster der „Dunalastair“- bezw. „Breadalbane“-Klasse der Caledonischen Bahn. 2.gek. Personenzuglokomotive, ebenfalls nach dem Muster der Caledonischen Bahn. 3.gek. Eilgüterzuglokomotive, desgl. Diese beiden Typen unterscheiden sich von denjenigen der Caledonischen Bahn hauptsächlich nur durch die kleineren Triebräder im ersten Fall (1,7 m statt 1,98 m) und durch die grösseren im zweiten Fall (1,6 m statt 1,53 m). 4.3/3gek. Güterzuglokomotive, ebenfalls nach dem Muster der Caledonischen Bahn. 5.gek. Vorort-Tenderlokomotive nach dem Muster der Grossen Nordbahn (auch in Holland eingeführt). In Paris 1900 waren No. 4 und 5 bereits ausgestellt, aber auch dort fehlte ein Vertreter der sehr verbreiteten, zahlreichen Belpaireschen Lokomotiven, die dem Reisenden in Belgien überall begegnen und von denen ein Stück, wie z.B. die 2/4 gek. Schnellzuglokomotive mit vorderer und hinterer Laufachse, wenigstens zum Vergleich mit den heutigen Bestrebungen und Erfolgen in Lüttich hätte ausgestellt werden können. Sämtliche erwähnten fünf Bauarten laufen teilweise mit, teils (die älteren Lieferungen) ohne Ueberhitzer. Ausgestellt waren sie sowohl mit Ueberhitzer, als auch No. 1, 4, 5 ohne solchen; diese Gattungen waren daher doppelt vertreten; dasselbe gilt auch von der 4/4 gek. Tenderlokomotive, welche jedoch ohne geringsten Unterschied (ausser in der Lackierung) doppelt vorhanden war. Als auffallend ist ausser der vielfachen Anwendung des Ueberhitzers und der damit zusammenhängenden Kolbenschieber noch zu erwähnen: die allgemeine Anwendung der Dampfumsteuerung (neben Schraube und Hebel, die meist vereinigt sind) und der Drehgestellbremse; letztere war jedoch auch auf französischer Seite zu finden, und scheint sich allmählich mehr und mehr Eingang zu verschaffen. Von Luftschneideflächen war auf belgischer Seite nichts zu sehen, im Gegenteil waren auch die Rauchkammertüren ungewohnt flach. Erwähnung verdient der sehr grosse Fassungsraum der meist dreiachsigen Tender: nicht weniger als 21 cbm Wasser, so dass wie bei den Lokomotiven, deren Achsdrücke bis beinahe 19 t gehen, auch die Achsdrücke der Tender hoch getrieben sind. Dies entspricht den „Goliath“-Schienen der belgischen Staatsbahn, welche ein Gewicht von nicht weniger als 52,7 kg/l.m. besitzen. Sonderbar ist die Anwendung der Schiffspfeife bei sämtlichen neueren Lokomotiven, im Gegensatz zu der schrillen Lokomotivpfeife der älteren Belpaireschen Typen. Diese Schiffspfeife ist ebenfalls kaledonischer Abstammung und es wird von ihr auf der Fahrt durch Bahnhöfe, bei der Ein- und Ausfahrt, bei jeder Annäherung und Warnung der weitgehendste Gebrauch gemacht, im Gegensatz zu Deutschland, wo seit 1. September 1905 bei Personenzügen überhaupt nicht mehr gepfiffen werden soll. Fürchterlich ist das zweistimmig klingende Geheul dieser Pfeife trotz ihrer unscheinbaren Kleinheit. Den belgischen und französischen Lokomotiven gemeinsam ist das regelmässige Vorhandensein einer Windkappe auf dem Kamin, welche ein gewisses Absaugen der Gase aus dem letzteren bewirken und das Eindringen des Windes in dasselbe verhindern soll. Dieser Kleinigkeit wird eine solche Bedeutung beigemessen, dass die Windkappe bei Lokomotiven, die in beiden Richtungen gleich häufig fahren sollen, sogar umklappbar eingerichtet sind. Auf belgischer Seite bekommt man übrigens nach englichem Muster das Kamin selbst nicht zu sehen, sondern nur eine Umkleidung, welche den Zweck der Formverbesserung hat und die Kaminkrone trägt – eine Einrichtung, die in vielen Fällen auch in Deutschland nichts schaden würde, wo man auf gutes Aussehen der Lokomotiven wenig gibt. Auf französischer Seite gehört zu solchen Aeusserlichkeiten, welche mit der Wirkungsweise freilich nichts zu tun haben, wohl aber einen Teil des „Gesichts“ der Maschine darstellen, noch der Gebrauch des (auch in der Schweiz üblichen) Kamindeckels zum Dämpfen des Feuers. Sämtliche Lokomotiven befänden sich in einem formvollendeten Ausstellungszustand, wie es auch nicht anders zu erwarten ist von Seiten europäischer Aussteller. Auf tadelloses Aeussere war grosser Wert gelegt, aber ohne dass solche Kindereien zu bemerken waren, wie sie in Paris 1900 von englischer Seite für das Auge der urteilslosen Masse geboten wurden, wie vernickelte Puffer, Hebelwerke usw. An Zierbändern war nicht gespart; in Frankreich-Belgien (auch Schweiz, Italien) liebt man immer noch die messingenen, blanken Verkleidungsringe am Kessel, an den Raddecken, Zylinderdeckeln usw., wogegen nur das Bedenken der Putzarbeit in geringem Mass geltend gemacht werden kann, während der Eindruck dieser geringfügigen Verzierungen gut ist – denn in das einförmige dunkle Bild kommt dadurch eine (nicht architektonisch wirkende) Abwechslung mit geringen Kosten, was von den früher hier zu Land und jetzt noch in England üblichen blanken messingenen Dom- und Zylinderhüllen: infolge der grossen Flächen nicht behauptet werden kann. Die schwarz, braun, braunrot, oder auch purpurn gestrichenen Verkleidungsbleche waren teilweise brillant geschliffen und poliert, was im Verein mit einer in allen Einzelheiten vollendeten Ausführung, einer schönen Formgebung und einem wuchtigen Aufbau des Ganzen einen guten Gesamteindruck hervorrufen musste, wie ihn z.B. die grossen Cockerillschen Lokomotiven darboten; bei solchen Baufirmen, bei denen die Erzeugnisse in konstruktiver und theoretischer Beziehung als vollkommen vorausgesetzt werden dürfen, ist auch die Bewertung der Aeusserlichkeiten, die einer guten Auswahl zu unterliegen pflegen, weniger fragwürdig, als in solchen Fällen, wo der grösste Wert auf das Aussehen gelegt ist. Sehr unangenehm in diesem Sinne berührte den Fachmann der Aufputz der beiden 4/4 gek. Tenderlokomotiven der belgischen Staatsbahn, deren eine der Soc. de Boussu und deren andere der Soc. de Marcinelle & Couillet entstammte. Ausser vielen Messingverkleidungen wies das Kleid dieser Maschinen fast sämtliche denkbaren Farben in bunter Reihenfolge auf, so dass ein nur für die Ausstellung berechnetes, im Dienst völlig unbrauchbares papageienhaftes Aeussere sich dem Beschauer aufdrängte. Zwecklos waren auch auf der ⅗ gek. Personenzuglokomotive der Soc. „Energie“ de Marcinelle die bunten, durch Schablone hergestellten Blumenschnörkel auf den Raddecken, da sie durchaus nicht zu einer Maschine passen und im Betrieb keine Woche haltbar sind. – Die Puffer, Triebstangen usw. waren sämtlich blank bearbeitet mit Ausnahme der 2 × ¾ gek. vierzylindrigen Güterzug-Tenderlokomotive der französischen Nordbahn, wo die Triebstangen bloss geschrubbt und dann ausser-halb der Köpfe matt schwarz gestrichen waren, ein nicht zu verwerfendes, Zeit sparendes Verfahren, das die Ausstellungsfähigkeit nicht im geringsten beeinträchtigt. – Ueber einen Punkt muss hier noch allgemeine Erwähnung getan werden, über den in Frankreich und Belgien ein auffallender Mangel an Einheit herrscht: die Stellung des Führers auf der Maschine. In Frankreich pflegt derselbe seinen Platz links zu haben, nur bei der Staatsbahn und Paris-Lyon-Mittelmeerbahn steht er rechts. Da diese Bahnen getrennte Netze darstellen, so ist dieser Unterschied nicht von Bedeutung. In Belgien dagegen steht der Führer bei sämtlichen Maschinen älterer Bauart rechts, bei den neueren ⅗ gek. dagegen links (es wird gegenwärtig links gefahren); wie auf einem und demselben Bahnnetz diese beiden Methoden sich gefahrlos vereinigen lassen, ist nicht recht einzusehen. – Nach diesen einleitenden Vorbemerkungen möge zur Aufzählung und Beschreibung der einzelnen Lokomotiven übergegangen werden. (Fortsetzung folgt.)