Titel: Die Weltausstellung in Lüttich 1905.
Autor: M. Richter
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 49
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Die Weltausstellung in Lüttich 1905. Das Eisenbahnwesen, mit besonderer Berücksichtigung der Lokomotiven. Von Ingenieur M. Richter, Bingen. (Fortsetzung von S. 28 d. Bd.) Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Lüttich 1905. Die Hauptabmessungen sämtlicher Lokomotiven sind in der Tab. 2, S. 51, nach Spurweite und Bauart geordnet, und in zwei Abteilungen (Lokomotiven mit Schlepptender und Tenderlokomotiven) zusammengestellt. Die Tab. 3, S. 52, enthält Angaben über Geschwindigkeit, Zugkraft, Leistung und wichtige Wertziffern zur Beurteilung der Güte der Bauart. Sehr hohe Werte zeigen die Geschwindigkeitsspalten. Mit 364 Umläufen i. d. Minute und 7,75 m/Sek. Kolbengeschwindigkeit bei der ⅗ gek. Lokomotive der französischen Nordbahn ist wohl auch die praktische Grenze erreicht, während die in Deutschland durch T. V. § 108 gezogene zulässige Grenze, die übrigens nie erreicht wird, bereits überschritten ist. Zur Aufstellung der Dauerleistung ist die französische, auf der Ausstellungslokomotive der Paris-Orleans-Bahn vertretene Formel benutzt: N=a\,\sqrt{p\,R\,\left(H_r+\frac{1}{3}\,H_r\right)} wobei für zweizylindrigevierzylindrige Maschinen a = 20a = 25 gesetzt ist. Von dem Faktor a abgesehen, welcher in Frankreich stets mit 20 eingesetzt wird, sind hierin die einzelnen Baugrössen des Kessels nach Massgabe ihres verschieden grossen Einflusses berücksichtigt. Eine besondere Berücksichtigung der Geschwindigkeit ist nicht erforderlich, da die kritische Umlaufszahl der Triebräder (D. p. J. 1904, 319, 54) zugrunde gelegt ist. Diese Grösse beträgt (in der Minute gerechnet) für zweizyl. Nassdampf- Zwillingsmaschinen n = 200 -Verbundmaschinen = 217 Heissdampf- Zwillingsmaschinen = 234 vierzyl. Nassdampf- Verbundmaschinen = 250 Heissdampf- = 267 In der folgenden Spalte sind diese Zahlen auf die „kritische Geschwindigkeit“ in km/St. umgerechnet, welche wohl in den meisten Fällen mit der Beharrungsgeschwindigkeit im Betrieb übereinstimmt und deshalb von der höchst zulässigen mehr oder weniger abweicht. Eine Nötigung zur Annahme dieser als Masstäbe gedachten Zahlen für den einzelnen Fall liegt natürlich in solcher Schärfe nicht vor. Bei der Benutzung der Leistungsformel sind die Ueberhitzer in die Rohrheizfläche einbezogen, um überhaupt zu einem Masstab zu kommen, und die Heizflächen der Serve-Rohre mit 80 v. H. in Anschlag gebracht. – Bei Kleinbahnlokomotiven ist einfach mit 4 PS/qm gerechnet. – Die Zugkraft ist nach drei verschiedenen Gesichtspunkten berechnet: aus der Kesselleistung, aus den Maschinenabmessungen und aus der Triebachslast. Die Zugkraft „aus dem Kessel“ ist gemäss der Beziehung N=\frac{Z\,V}{270} gegeben durch Z=270\,\frac{N}{V}. Für N ist hierin die Dauerleistung bei der kritischen Geschwindigkeit V eingesetzt, so dass Z die Zugkraft bei vollbeanspruchtem Kessel und bei höchster Dauergeschwindigkeit für gewöhnlichen Betrieb darstellt; für den Schnellbetrieb auf der französischen Nordbahn und Paris-Orleans-Bahn stellt V die Reisegeschwindigkeit auf langen Strecken dar, so dass die wahre Dauergeschwindigkeit entsprechend höher (etwa 15 v. H.), die Zugkraft bei gleicher Kesselleistung niedriger liegt. Die Zugkraft „aus der Maschine“ ist berechnet nach den Formeln \left\{{{Z_1=\alpha\,\frac{d_1^2\,ps}{D}\mbox{ für Zwillingsmaschinen,}}\atop{Z_1=\alpha\,\frac{d_2^2\,ps}{2\,D}\ \overset{\mbox{für Verbundmaschinen}}{\mbox{mit zwei Zylindern}}}}\right Abweichend von den Angaben auf den Musterblättern der belgischen Staatsbahnen, wo α = 0,65 gesetzt ist, sollen für α (nach der „Eisenbahntechnik der Gegenwart“ Bd. I) folgende Werte gelten: für Zwillingsmaschinen α = 0,5 Verbundmaschinen mit einem Kolbenflächenver-    hältnis von f2/f1 = 2,0= 2,25= 2,5= 2,9 α = 0,44= 0,42= 0,40= 0,38 Für die Zugkraft „aus dem Reibungsgewicht“ gilt: Z2= fQa mit f = 0,15. In den meisten Fällen ist ein erheblicher Ueberschuss der Reibung Z2 über die Maschinenkraft Z1 zu bemerken, welcher durch das Verhältnis Z1/Z2 gekennzeichnet wird. In einigen Beispielen jedoch, nämlich Vierzylinderlokomotiven, steigt dieses Verhältnis über die Zahl 1, d.h. die betreffenden Maschinen haben die gewöhnliche Schleudergrenze mit den angenommenen Füllungen (30–40 v. H. bei Zwilling, 50–60 v. H. bei Verbund) schon überschritten. Textabbildung Bd. 321, S. 50 Fig. 2. Schmidtscher Langkesselüberhitzer Langschnitt durch die Flammrohre; a Pyrometer, b Thermometer, c Zugklappe, d zum Leberhitzer. Bei den Verhaltniszahlen ist zunächst die Leistung auf die Gesamtheizfläche bezogen, was teilweise auffallend hohe Werte ergibt; als Vergleichsmasstäbe für die höchste Kesselanstrengung sind dieselben immerhin zu brauchen. – Das Mass „Leistung: Reibung“ (N/Z2) entstammt wieder der Gleichung N=\frac{Z\,V}{270} in der Form V=270\,\left(\frac{N}{Z}\right) und gibt deshalb mit dem 270 fachen Wert in km/St. diejenige Geschwindigkeit an, bei welcher die Kesselleistung durch die Reibung der Triebräder voll ausgenutzt werden könnte, vorausgesetzt, dass die Leistung unveränderlich wäre und deshalb bei so geringen Geschwindigkeiten, wie sie der vollen Zugkraft entsprechen, noch dieselbe Grösse besässe Tabelle 2. Textabbildung Bd. 321, S. 51 Ordnungszahl; Spurweite; Bauart der Lokomotive; Gattung; Maschine; Bahn; Erbauer; Kessel; Gewicht; Vorräte; Zylinderdurchmesser; Kolbenflächenverhältnis; Kolbenhub; Triebraddurchmesser; Kesselüberdruck; Rostfläche; Feuerbüchsfläche; Inere Rohrheizfläche; Gesamte Kesselheizfläch.; Aeussere Ueberhitzfläche; Dienstgewicht; Reibungsgew.; Kohlen; Wasser; Bemerkungen; A. Lokomotiven mit Schlepptender; B. Tender-Lokomotiven; Normal; Zwilling-Nassdampf; Heissdampf; Zyl. Verb.-Nassd.; Vierling-Heissdampf; Nassd.; Belg. Staatsbahn; Franz.; Nordbahn; Ostbahn; Westbahn; Paris–Orléans; Paris–Lyon Mittelm.; Franz. Südbahn; Indochina; Fabrikbahnen; Zeche Bois du Luc. Belg.; Belg. Strassenbahnen; Grubenbahnen; Kleinbahnen; Ardennenbahn; Nicolaieff, la Biesme, Bouffioulx; „St. Léonard“, Lüttich; „La Métallurgique“, Tubize; Cie. Centrale, Haine-St. Pierre; Schneider & Cie, Creusot; Soc. Alsacienne, Belfort; Cockerill, Seraing; Soc. Franco-Belge, la Croyère; „Energie“, Marcinelle; Bahnwerkstatt Epernay; Soc. de Batignolles, Paris; „La Meuse“, Lüttich; Soc. française, Denain; Soc. de Batignolles, Paris; Soc. d. Ateliers Boussu; Marcinelle et Couillet, Couillet; Soc. du Thiriau, La Croyère; Zimmermann-Hanrez, Monceau s/S.; Bahnwerkstatt Paris; Decauville, Petit Bourg; Corpet-Louvet, Paris; Schmidt-Heizrohrüberhitzer; Serve-Rohre; Cockerill-Ueberh.; Field-Wasserrohrkessel Tabelle 3. Textabbildung Bd. 321, S. 52 Ordnungszahl; Bauart der Lokomotive; Gattung; Maschine; Betriebszweck; Bahn; Höchste Geschwind.; Kritische Zahlen; Zugkräfte; Leistungsmaſse; Kraftmaſse; Ausnutzung; des Zuges; des Kolbens; Höchste Umlaufszahl; Dauerleistung; Geschwindigkeit; Aus dem Kessel; Aus der Maschine; Aus der Reibung; Leistung; Heizfläche; Reibung; Dienstgewicht; Zugkraft; Reibungsgewicht; Rostfläche; Zylinderinhalt; Nummer im Hallenplan; A. Lokomotiven mit Schlepptender; B. Tender-Lokomotiven; Zwilling-Nassdampf; Heissdampf; Zyl. Verbund-Nassdampf; Vierling-Heissdampf; Güterzüge; Schnellzüge; Personenzüge; Schiebdienst; Vorortdienst; Belg. Staatsbahn; Franz.; Nordbahn; Ostbahn; Westbahn; Paris–Orléans; Paris–Lyon–Mittelmeer; Franz. Südbahn; Indochina; Zeche Bois du Luc, Belgien; Belg. Strassenbahnen; Ardennenbahn wie bei der zugrunde gelegten „kritischen“ Geschwindigkeit. Dies kann natürlich nicht zutreffen, ergibt aber doch einen Vergleich. Einen „Gütefaktor des Entwurfs“ stellt das Mass N/Q dar, d.h. die Leistung für 1 t Dienstgewicht. Falls das Tendergewicht (welches teils unbekannt geblieben ist, teils hier keine Bedeutung besitzt, weil der seinen Abmessungen nach bekannte Tender nicht mit ausgestellt war) nicht im Dienstgewicht enthalten ist, sind naturgemäss die Tenderlokomotiven in bezug auf die Grösse von N/Q gegenüber denjenigen mit Schlepptender im Nachteil, da sie die Vorräte, meist auf Kosten der Kesselgrösse, auf dem Maschinengestell mitführen. Aehnlich steht es mit dem Mass Z/Q, d.h. der Zugkraft für 1 t Dienstgewicht. Bei dem Wert Z1/H, der Zugkraft für 1 qm Heizfläche, sind umgekehrt bei den Tenderlokomotiven die höheren Anstrengungsgrade zu bemerken, weil nur die Kessel, aber nicht die Maschinen geringere Abmessungen erhalten müssen als bei Lokomotiven mit Schlepptendern. Das Mass C/H stellt den Zylinderinhalt für 1 qm Heizfläche, also ebenfalls einen Anstrengungsgrad, dar, welcher bekanntermassen bei Heissdampflokomotiven über 1 zu liegen pflegt. „Gütefaktoren“ sind ferner noch die Verhältnisse H/Qa und H/Q, d.h. die Heizfläche für 1 t Reibungs- und 1 t Dienstgewicht, welche bei Tenderlokomotiven ebenfalls geringer ausfallen müssen. Endlich ist das Verhältnis H/R aufgenommen, welches einen Gegensatz zu den gewohnten Anschauungen aufweiwt, indem bisher allgemein in dieser Hinsicht zwischen Schnell- und Güterzuglokomotiven sich eine scharfe Grenze ziehen liess; denn von dem günstigen Wert H/R = 80pflegte man um so mehr herunter zu gehen (bis auf 50, und sogar 30), je mehr an toter Last gespart werden muss und je feiner der Brennstoff ist, so dass die hohen Werte für Güterzug-, die niederen für Schnellzuglokomotiven üblich waren. Die Ausstellungslokomotiven dagegen zeigen auffallender Weise eine unterschiedslose Uebereinstimmung bezüglich des Wertes von H/R, der zwischen 60 und 65 zu liegen pflegt, aber bei Güterzuglokomotiven (No. 1, belg. Staatsbahn) bis auf 45 herunter und bei Schnellzuglokomotiven bis auf 72 hinaufgeht (No. 17, 16, belg. Staatsbahn). Sehr bunt ist diese Spalte auch bei den Tenderlokomotiven, wenn auch hier die Einhaltung der alten Regel leicht zu beobachten ist; schaltet man die Kleinbahnlokomotiven aus, so beträgt H/R höchstens 66 bei einer Güterzuglokomotive (No. 28, franz. Nordbahn), mindestens 38 bei einer Personenzuglokomotive (No. 26, belg. Staatsbahn). Die letzte Spalte von Tab. 3 endlich gibt die Stellung der Lokomotiven in der Ausstellungshalle gemäss den in den Hallenplan (Fig. 1, Seite 7 d. Bd.) eingetragenen Zahlen an, wobei die erste Ziffer das Geleise, die zweite das Fahrzeug bezeichnet. – Die Beschreibung der Lokomotiven möge in der Reihenfolge geschehen, in der dieselben in den Tab. 2 und 3 aufgezählt sind. Da aber eine Reihe der belgischen Lokomotiven durch die gemeinsame Neuheit des Ueberhitzers von W. Schmidt sich auszeichnet, so möge dieser vorweg besprochen werden. Wie bereits erwähnt, ist an Stelle des älteren, in Preussen eingeführten Rauchkammer-Ueberhitzers, welcher die konstruktiven Verwicklungen auf einem sehr beschränkten Raum zusammendrängt und infolge der Heizgaszufuhr durch ein weites Flammrohr seinen Zweck noch nicht in idealer Weise erfüllt (D. p. J. 1903, 318, 166, 440; 1904, 319, 613), in Belgien der Langkessel-Ueberhitzer eingeführt, dessen einfache Anordnung aus Längs- und Querschnitt ersichtlich ist (Fig. 2, entnommen aus „Engineering“, 1905, S. 802). In der oberen Hälfte des Heizrohrraumes befinden sich an Stelle der gewöhnlichen, engen Rohre von 40/45 mm Durchmesser bedeutend weitere von 118/127 mm Durchmesser in drei über einander liegenden Reihen zu je 5 bis 9; dazwischen und an der Seite ist der verfügbare Raum noch durch gewöhnliche Rohre ausgenutzt. Diese Flammrohre münden in einen an die Rauchkammer-Rohrwand angesetzten Kasten, dessen Vorderwand als Zugklappe ausgebildet ist, während die Decke einen zweikammerigen Dampfkasten darstellt. Dieser besteht aus zwei getrennten Kammern, welche in je zwei einander übergreifende Abteilungen sich gliedern. In den ersten und dritten Raum mündet das vom Dom kommende Einströmrohr, während der zweite und vierte Raum an die zwei zu den Zylindern führenden, getrennten Einströmrohre sich anschliesst. Die beiden Dampfkammern sind mit einander verbunden durch ∪-förmig zurückkehrende, eiserne Rohre von 25/32 mm Durchmesser, die je zu zweit nebeneinander jene Flammrohre durchziehen, ohne aber die Feuerbüchs-Rohrwand zu erreichen. Der Nassdampf fliesst zufolge dieser (leicht zugänglichen) Einrichtung zuerst im Gegenstrom, dann im Gleichstrom mit. den Heizgasen. Die Gewichtsverteilung ist viel besser als beim Rauchkammer-Ueberhitzer. Was die Maschine betrifft, so sind zur Ausnutzung wirtschaftlicher, kleinster Füllungsgrade die Zylinderdurchmesser gegenüber der Nassdampfmaschine vergrössert. An Stelle der in Preussen üblichen Schmidt'schen Kolbenschieber, welche aus zwei Trommeln ohne Spannringe bestehen, sind bei den belgischen Lokomotiven eigentliche Kolbenschieber mit selbstspannenden Dichtungsringen und mit stufenweiser Entlastung (D. R. P. No. 107884) angewendet, welche aber ebenfalls in besonders eingesetzten Büchsen laufen und innere Einströmung haben, so dass die Dichtung der Schieberstopfbüchsen sehr einfach ausfällt. – Bis jetzt laufen auf den belgischen Staatsbahnen 30 Schmidtsche Lokomotiven, sämtlich mit Heizröhrenüberhitzer, und eine bedeutende Nachbestellung ist beabsichtigt. Ueber die Dauerhaftigkeit der hierbei verwendeten Schieber möge nur erwähnt sein, dass sich auf der Kanadischen Pacificbahn nach einem Lauf der Lokomotive 548 von 120000 km noch keine Erneuerung der Ringe nötig erwies. – (Fortsetzung folgt.)