Titel: Schienenstuhl Patent Urbanitzky für breitbasige und für Reformschienen.
Autor: F. Jaehn.
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 168
Download: XML
Schienenstuhl Patent Urbanitzky für breitbasige und für Reformschienen. Schienenstuhl Patent Urbanitzky für breitbasige und für Reformschienen. Der Pariser internationale Eisenbahnkongress vom Jahre 1900 brach der Erkenntnis Bahn, dass eine Lösung der Schienenstossfrage nicht mehr von der jetzt durchweg üblichen „schwebenden“ Stossanordnung, sondern von dem seit langem aufgegebenen „festen“ Stoss auf Holzschwellen oder auch von Anordnungen zu erwarten sei, die auf eine Vereinigung der Vorzüge des ruhenden Stosses mit jenen des schwebenden Stosses hinzielten. Voraussetzung für alle nach diesen Grundsätzen entworfenen Stossverbindungen musste es sein, dass selbstverständlich die Mängel, wie sie die früheren Anordnungen „fester“ Stossysteme mit sich gebracht hatten, nach Möglichkeit beseitigt oder ganz aufgehoben wurden. Bei der ausserordentlich wichtigen Bedeutung der Schienenstossfrage hat es daher in letzter Zeit nicht an Anregungen und Vorschlägen zur Verbesserung oder Neugestaltung der Schienenstossverbindungen gefehlt, insbesondere sind aus Fachkreisen, zum Teil von hervorragenden Fachleuten, manche neuen Lösungen angegeben worden, deren Bewährung erst der praktische Dauerversuch in starkem Betriebe erweisen soll. Unter diesen Versuchen ist der Schienenstuhl Patent Urbanitzky für breitbasige und für Reformschienen erwähnenswert (Fig. 1 und 2). Die genannte Anordnung sucht in konstruktiv einfachster Form die Vorteile des „schwebenden“ mit denen des „festen“ Stosses in der Weise zu vereinen, dass die nur am Kopfe unterstützten freihängenden Schienenenden beiderseits durch die auf Knicken beanspruchten, schief gegen die Schienenköpfe gerichteten Seitenstreben des Stuhles verbunden und auf ihre gemeinsame Unterlage durch Schwellenschrauben niedergepresst werden, welche die Schienenfüsse fassen. Textabbildung Bd. 321, S. 169 Fig. 1. Textabbildung Bd. 321, S. 169 Fig. 2. Textabbildung Bd. 321, S. 169 Fig. 3. Durch diese Aufhängung der Schienenenden in Verbindung mit den gleichsam als Verankerungen wirkenden Schwellenschrauben (Fig. 3) soll eine elastische Auflagerung der unteren Schienenfahrkopfflächen auf einer ausreichend grossen und darum nur gleichmässig abzunutzenden Unterlage erzielt werden; es soll ferner hierdurch erreicht werden, dass das Spiel der Schienenenden äusserst gering wird und sich nur innerhalb der Grenzen der elastischen Bewegungen der Seitenstreben, ohne jede Stufenbildung und ohne jede Hammerwirkung der darüberrollenden Eisenbahnräder vollzieht. Textabbildung Bd. 321, S. 169 Fig. 4. Entsprechend der neueren Anschauung, dass die Stossverbindung möglichst von der Aufgabe zu befreien sei, zugleich als Schutzmittel gegen das Wandern der Schienen zu dienen, hat der Konstrukteur dieses Schienenstuhls davon abgesehen, an der Stosstelle selbst irgendwelche Wanderschutzvorrichtungen anzubringen, hingegen wird einerseits die Stossschwelle mit den beiden nächstliegenden Schwellen durch Flach- oder Winkelleisen (Fig. 4) gekuppelt, anderseits sollen Stemmwinkel (Fig. 5), welche sich an der inneren Seite gegen diese nächstliegenden Schwellen bezw. gegen ihre Stühle lehnen, gleichzeitig das Kuppeln der im Stosse zusammentreffenden Schienen bewirken, so dass mit der gleichen Vorrichtung das Wandern der Schwellen und der Schienen aufgehoben und der Schienenstrang gekuppelt wird. Die Aufhängung der Schienen auf den Mittelschwellen erfolgt in derselben Weise wie am Stoss, nur sind die Schienenstühle etwas kürzer bemessen (Fig: 6). Die eigenartige Aufhängung der Schienen, bei der auf jeden Fall ein freier Zwischenraum zwischen der unteren Schienenfussfläche und der Grundplatte des Stuhles erzielt werden soll, hat dem Konstrukteur den Anlass gegeben, an Stelle der üblichen breitbasigen Schiene eine doppelköpfige Schiene mit zwei symmetrischen Fahrköpfen in Vorschlag zu bringen. Es ist ja eine bekannte Tatsache, dass am Schienenkopfe abgefahrene Schienen sich für den Betrieb auf Hauptgleisen als völlig ungeeignet erwiesen haben und daher nur in Nebengleisen, wobei oft eine Kürzung der Schienen um die abgefahrenen Enden erforderlich wird, Verwendung finden können, während die Abnutzung der Kopffläche im mittleren Teile noch eine längere Verwendung auf Hauptgleisen zuliesse und somit eine wirtschaftlichere Ausnutzung der Schiene ermöglichte. Doppelköpfige Schienen mit zwei symmetrischen Fahrköpfen können die doppelte Fahrzeit aushalten, wenn der zweite Schienenkopf bis zum Umdrehen der an einer Seite abgenutzten Schiene unversehrt erhalten bleibt, also nirgends aufliegt, sondern schwebend erhalten wird. Dieses Ziel soll durch den genannten Schienenstuhl erreicht werden, da hier nur die unteren Flächen des befahrenen Schienenkopfes auf den Seitenstreben des Stuhles aufruhen, der übrige Teil der Schiene aber in schwebender Lage erhalten wird. Textabbildung Bd. 321, S. 169 Fig. 5. Textabbildung Bd. 321, S. 169 Fig. 6. Nach den Angaben des Konstrukteurs soll sich bei einem seit Juli 1904 – also 1½ Jahr – täglich mit mindestens 20 Zügen (darunter die Orient-Expresszüge) befahrenen Gleis nicht nur erwiesen haben, dass der Zwischenraum zwischen Schienenfuss und Grundplatte auch beim Befahren mit den schwersten Lokomotiven gewahrt bleibt, es sollen sich auch die Verbindungsmittel tadellos erhalten, keins derselben soll sich auch nur um das Geringste gelockert haben, die Schienenenden sollen sich in bestem Zustande befunden, auch soll kein Eindrücken der Unterlagsplatten in die Schwellen eingetreten sein. Ferner wird angeführt, dass Spurerweiterungen infolge der Anordnung der Schienenstühle ausgeschlossen seien und die wöchentlichen Probemessungen daher auch keine Abweichung gezeigt hätten. Als besonderer Vorteil der Anordnung wird noch vom Konstrukteur hervorgehoben, dass bei ihr an Stelle der verschiedenen Eisenbestandteile des gewöhnlichen Laschenstosses nur ein Teil, der Stosstuhl (es sind doch auch noch die Bügel, Schraubenbolzen, Stemmwinkel nebst Bolzen, Flacheisen nebst Befestigungsmittel in Betracht zu ziehen!) tritt; sämtliche Teile der Stossverbindung werden aus Gusstahl hergestellt, uni dem Verrosten möglichst hohen Widerstand zu bieten und eine billige Herstellung bei grosser Festigkeit zu ermöglichen. Der Grundgedanke des Schienenstuhls Patent Urbanitzky ist im wesentlichen nicht neu; ähnliche Stosstühle sind bereits 1837 bei der Bahn Leipzig–Dresden,Haarmann, Eisenbahngleis I, I. S. 287. 1852 bei der Liverpool–Crosby–and Southport-Bahn (System Connochie)ebendaselbst, S. 295. 1856 bei der französischen Ostbahn (Grenier und Goschler),Haarmann, Eisenbahngleis I, II. S. 474. schliesslich 1863 bei der London–and North-Western-BahnHaarmann, Eisenbahngleis I, I. S. 295. zur Anwendung gelangt. Bei allen diesen Anordnungen waren die Schienen in den Stossstühlen aufgehängt, der untere Teil der Schiene schwebte über der Grundplatte, um nach erfolgtem Verschleiss des Fahrkopfes ein Wenden der Schienen zu ermöglichen (System Connochie), während das Niederhalten der Schienen durch Keile (an Stelle der Schwellenschrauben) bewirkt wurde. Es ist nun eine unwiderlegbare Tatsache, die sich bisher bei allen Stossanordnungen erwiesen hat, dass es nicht möglich ist, beim Oberbau alle Teile so fest mit einander zu verbinden, dass jede Reibung und die daraus entspringende Abnutzung vermieden wird. Ausser der Zerstörung durch Rost ist der Oberbau auch einer verhältnismässig schnellen mechanischen Zerstörung unterworfen. Es tritt nicht nur ein Verschleiss der Schienenlaufflächen, sondern auch eine Abnutzung der Befestigungsmittel, einschliesslich der Laschen und der entsprechenden Anlageflächen der Schienen ein. Ferner geht gleichzeitig eine allmähliche Zerstörung der Holzschwellen durch Fäulnis und der Bettung durch Witterungseinflüsse, sowie beider durch Druck und Stoss vor sich. Diese Vorgänge nehmen ihren Anfang mit dem ersten Befahren des Gleises und mindern die Leistungsfähigkeit des Gestänges bis zur schliesslichen Erschöpfung herab. Es kann also bei allen Stossanordnungen nur darauf ankommen, den Verschleiss aller Teile möglichst zu vermindern, es wird aber nicht möglich sein, ihn gänzlich zu verhindern. Auch die vorgenannte Schienenstuhlanordnung wird sich den allmählichen Abnützungen nicht entziehen können. Mit Sicherheit ist anzunehmen, dass die in den Stühlen durch die Schraubennägel verankerten Schienenenden beim Befahren durch die Räder der Züge ungleichzeitig und ungleichmässig niedergepresst werden. Infolge der elastischen Eindrückung des Schienenstuhls, ferner der Grundplatte in die Stosschwelle und letzterer in die Bettung wird das noch belastete Ablaufende während des Befahrens zunächst tiefer zu liegen kommen, als das in der Zugrichtung darauf folgende unbelastete Auflaufende. Dadurch bildet sich eine treppenstufenförmige Erhöhung, auf die das Rad bei der Weiterfahrt springen muss. Sofort tritt dann die Entlastung des Ablaufendes und die entsprechende Mehrbelastung des Auflaufendes unter gleichzeitiger elastischer Niederdrückung der Stützungsteile ein. Durch diese plötzlich aufeinander folgenden Einwirkungen wird sich ein Verschleiss der unteren auflagernden Schienenkopfflächen an den unterstützten Stellen auf die Dauer nicht vermeiden lassen, zumal die Auflagerflächen recht kurz und schmal bemessen sind, also ohnehin schon starke Flächendrücke erfahren, ebenso werden Lockerungen der Schraubennägel und ungünstige schaukelartige Bewegungen der Stossschwellen und hierdurch ein zerstörender Einfluss auf die Bettung unter der Stosschwelle nicht zu verhindern sein. Wegen der elastischen Ausbildung des Stosstuhles erscheint ein seitliches Ausweichen der äusseren Seitenstreben bei starken Seitendrücken (z.B. infolge einer schweren Güterzuglokomotive mit kurzem Radstand) nicht ausgeschlossen, die daraus entstehenden vorübergehenden Spurerweiterungen sind nicht ganz unbedenklich. Die Klemmbügel wirken mit einem verhältnismässig grossen Hebelarm auf den Schienenfuss, gegenüber dem Hebelarm der niederpressenden Schraubennägel, so dass der von letzteren ausgeübte Zug nur auf etwa ¼ verringert wird, während eine recht hohe Zugwirkung im Interesse der Stabilität des ganzen Gefüges erwünscht erscheinen muss. Der Wanderschutz scheint nicht ausreichend, denn abgesehen davon, dass nur ein Bolzen für jede Schiene und jede Richtung zur Uebertragung der Wanderkräfte auf den Schienenstuhl und die drei gekuppelten Schwellen vorgesehen ist (gegenüber 6 bis 10 Bolzen bei dem Oberbau der Preuss. Staatsbahnen), der also ausserordentlich hohe Scherbeanspruchungen erfährt, wird der Schienenstuhl auf Kippen beansprucht und den Schraubennägeln eine weitere Zusatzbeanspruchung durch Zug zugemutet, die fraglos eine baldige Lockerung aller Schienenstuhlteile hervorrufen muss; im übrigen ist die Angriffsfläche zwischen Stemmwinkel und Stosstuhl sehr gering, so dass hier infolge des hohen Flächendruckes baldige Einarbeitungen zu erwarten sind. Wenn die Versuchsstrecke die vorgenannten Mängel nur in unerheblichem Masse gezeigt hat, so ist dies auf die kurze Versuchszeit, die geringe Belastung der Strecke – 20 Züge täglich können nicht als starker Verkehr gelten – und die jedenfalls äusserst sorgfältige Unterhaltung zurückzuführen. Für die Unterhaltungsarbeiten weist die Anordnung im Falle etwa erforderlich werdender Auswechselungen den Nachteil auf, dass auf eine Schienenlänge alle Stühle gelöst werden und die vor dem schadhaften Stuhl befindlichen Stühle ähnlich wie Ringe auf der Schiene verschoben werden müssen, um den Ersatzschienenstuhl einzubringen; eine zweiteilige Ausbildung des Stosstuhles würde daher als zweckmässig angezeigt erscheinen. Immerhin gibt die Schienenstuhlanordnung System Urbanitzky einen interessanten Beitrag zur Lösung der Schienenstossfrage; bei Beachtung der vorstehend erörterten Beanspruchungen, entsprechender Durchbildung und Weiterentwicklung der einzelnen Teile und ihrer dauernden Erprobung bezw. Bewährung auf starkbelasteten Strecken, scheint es nicht ausgeschlossen, dass diese neue Anordnung gegenüber den bestehenden Systemen sich als wirtschaftlicher erweisen kann. Königsberg i. Pr. Regierungsbaumeister       F. Jaehn.