Titel: Die Selbstfortbildung des Ingenieurs.
Autor: Hans A. Martens
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 493
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Die Selbstfortbildung des Ingenieurs. Von Regierungsbaumeister Hans A. Martens. Die Selbstfortbildung des Ingenieurs. Rast' ich, so rost' ich. Die Ingenieurerziehung, unter der allgemein das akademische Studium auf der Hochschule verstanden wird, bezweckt in erster Linie die Erwerbung eines möglichst vielseitigen technischen Wissens in dem nur kurz bemessenen Zeitraum. Der Umfang des Studienmaterials ist noch bedeutend vergrössert worden, als man zu der Ueberzeugung kam, dass der Ingenieur für die Praxis nur ungenügend vorgebildet ist, wenn er nicht die Grundlagen der rechtlichen, wirtschaftlichen Beurteilung verschiedener Fragen seines Berufs kennen gelernt hat. Es ist selbstverständlich, dass selbst bei fleissigster Arbeit die Kenntnisse auf den vielen Gebieten nur grundlegend sein können, die aber in den Stand setzen, sich in der Praxis in einem beliebigen Sondergebiet schnell und sicher zurechtzufinden, um hier durch weitere ernste Arbeit mehr als Durchschnittliches zu leisten. So berechtigt der Abschluss des akademischen Studiums – mit oder ohne Abschlussprüfung – die Praxis, von dem in den Beruf eintretenden Neuling durchschnittliche, grundlegende Vorkenntnisse vorauszusetzen, während dieser von der Praxis verlangen kann, in ihm den zwar nicht erfahrenen, aber doch wohl vorgebildeten jungen Ingenieur zu erblicken. Diese gegenseitige Wechselwirkung wird noch befestigt, wenn der Studierende nach Beendigung des Studiums sich einer Abschlussprüfung unterzogen hat. Ohne die Kenntnisse nach dem Ergebnis einer Prüfung messen zu wollen, muss doch zugestanden werden, dass es für den durchschnittlichen, noch nicht charaktergefestigten jungen Studierenden von besonderem Weit ist, nach einem bestimmten Ziel zu streben, wie es die Prüfung darstellt. So lässt sich weiter behaupten, dass die Kenntnisse aller Prüflinge eine gewisse Durchschnittslinie inne halten und obiger berechtigter Erwartung der Praxis genügen werden. Nach Uebertritt in die Praxis, mit dem die akademische Berufs-Vorbildung als abgeschlossen gilt, geht nun Wissen und Können zweierlei Bahnen. Bei den einen tritt jener geistige Stillstand ein, der sich so gern bei mittelmässigen Köpfen als Entschädigung für eine nicht übermässig arbeitsreiche Spanne Zeit einstellt. Bei den Anderen bleibt jene ruhige Weiterarbeit, die sie schon während ihrer Studienzeit ausgezeichnet hat; diese Weiterarbeit ist als Selbstfortbildung zu bezeichnen. Ihr Wert und ihr Wesen soll nachwtehend gekennzeichnet werden. Die Vorbildung auf den Ingenieurberuf dauert einschliesslich des sog. Eleven- oder Volontär-Jahres 5 Jahre. Die Beendigung des Studiums kann in das 25te Lebensjahr verlegt werden. Nimmt man von nun ab noch eine rund 35 jährige Betätigung im Beruf an, so ist das Verhältnis der Zeiten für Vorbildung zur eigentlichen beruflichen Tätigkeit 1 : 7. Daraus folgt, dass auch der Schwerpunkt der Aneignung von Wissen und Können auf diese letzte Zeit gelegt werden muss. Da die Hochschule das vollendete Wissen für ein einziges Spezialgebiet nicht geben kann, so muss die Vervollkommnung auf einem solchen dem jungen in die Praxis eintretenden Ingenieur selbst überlassen bleiben. Neigung und Zufälligkeiten in der Auswahl der übernommenen Stelle sind die Hauptfaktoren, die für die Tätigkeit in einem Sondergebiet bestimmend sind. Der erstere wird schon auf der Hochschule die Bevorzugung des Sondergebiets bei den Studien bewirken, jedoch immer noch viel zu tun übrig lassen für die spätere eigentliche Berufsarbeit. Der letztere lässt eine erhöhte Beschäftigung mit dem Sondergebiet bei Eintritt in dasselbe umsomehr geboten erscheinen. Die richtige Zeit für die lebensfähige Fortsetzung der Studien der Hochschule sind die ersten Jahre in der Praxis, welche so oft dem für sein Fach Begeisterten, dem rastlos und ernst Strebenden herbe Enttäuschung bringen durch die Kleinarbeit, welche geleistet werden muss und die in diesen Lehrjahren das Fundament für weiteres Aufrücken in leitende Stellungen bildet. Durch die verhältnismässig einfache Arbeit des Anfängers ist der Geist nach der Tagesarbeit noch nicht so ermüdet, dass er nicht noch in den bureaufreien Stunden sich mit Studium aller Art befassen könnte. Hierhin gehört zunächst das Studium der einschlägigen Spezialfachzeitschriften, um neue Anregungen zu empfangen und um sich über die neuesten Fortschritte und Errungenschaften fortlaufend gut unterrichtet zu halten. Auszugsweise Notizen, ein Literatur-Nachweis, Skizzenblätter werden mit den Jahren immer schätzbarer in der Hand dessen, der sie selbst gefertigt. Die grösseren Fabriken haben eigene Büchereien und Lesezirkel von Zeitschriften für die Ingenieure, wodurch mannigfache Gelegenheit zur Belehrung geboten ist. Ob die Fabriken nun auch die Zeit innerhalb des Dienstes geben müssen zum Lesen der Zeitschriften, ist eine Streitfrage, die wohl ablehnend beantwortet werden muss. Aber mittelbar können sie dazu beitragen, indem der Ingenieur nicht so voll ausgenützt wird, dass er bei Dienstschluss erschöpft ist, sondern dass ihm noch geistige Spannkraft genügend verbleibt, um sich ohne Uebermüdung den Studien widmen zu können. Diese geringere Beanspruchung kommt den Fabriken dann zu gute, wenngleich nicht behauptet werden soll, dass alle in der angedeuteten Weise fortarbeiten werden. Vielen ist es nicht gegeben, selbständig für sich arbeiten zu können. Sie bedürfen der Anregung und des Ansporns gleichstrebender Kollegen. Dies führt dazu, dass sich die Ingenieure unter der Leitung der Oberingenieure zu einem geschlossenen Ganzen zusammenfinden, um an bestimmten Abenden, die nicht zu reichlich anzusetzen sind, in gemeinsamer Besprechung von Neuerungen ihr Wissen und ihr Geschäftsinteresse zu fördern. Dies wäre eine Erweiterung der Direktoren-, Oberingenieur- und Meisterkonferenzen, die für beide Teile, Geschäft und angestellte Ingenieure in gleicher Weise nutzbringend und förderlich wäre. Mir sind trotz mehrfacher Nachforschungen Veranstaltungen in dem eben ausgesprochenen Sinne nicht bekannt geworden, für die Industrie wäre es aber von entschiedenem Vorteil, wenn über bestehende und ihre Wirksamkeit eingehend berichtet würde, um zur Nachahmung anzuregen. In diesen Besprechungsabenden wird auch mancher, der sonst sich um seine Fortbildung nicht kümmert, Kenntnisse sammeln, die er für sich selbst und zum Nutzen der Firma verwenden kann. Mancher auch wird hier den ersten Antrieb empfangen, geschilderte Maschinen, Einrichtungen, Arbeitsverfahren fremder Werke mit eigenen Augen kennen zu lernen, so dass die Urlaubszait zu keiner Vergnügungsreise in dem üblichen Sinne, sondern zu einer belehrenden Studienreise sich umwandelt, zu der die Stätten deutscher Industrie reichlich Gelegenheit bieten. Dass auch diese unter den wechselnden Eindrücken mannigfacher Art Erholung und Freude zu bieten vermag, bedarf keiner Worte mehr. Ja, es wird durch Erweiterung des Gesichtskreises jene grosszügige Freude an heimatlicher Industrie und Ingenieurkunst geweckt, die das eigene Schaffen im vielleicht kleinen Kreise zur Erfolg und Befriedigung bringenden Tätigkeit werden lässt. Aber die ständige Fortbildung im Spezialfach ist es nicht allein, welche den Ingenieur zur eigenen Arbeit an sich selbst treibt. Hinzu kommt das Gebiet, welches in neuerer Zeit so sehr in den Vordergrund gedrängt und berufen ist, die soziale Stellung des Ingenieurs zu heben, ihm Positionen zu erschliessen, die allgemein als leitende bezeichnet werden und ihn somit in technischen Betrieben an die Stelle zu stellen, an die er nach seiner Vorbildung und seiner Betätigung im Beruf gehört. Es ist die Beschäftigung mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen. Da man vom Techniker zu allererst verlangt, dass er ein guter Techniker ist, so muss naturgemäss seiner technischen Vorbildung der breiteste Raum gewährt werden. Bei der klaren Erkennung der Notwendigkeit, dass die Kenntnis wirtschaftlicher und sozialer Fragen für den Ingenieur Lebensbedingung ist, wenn er nicht durch kaufmännisch oder juristisch vorgebildete Mitarbeiter in den Hintergrund gedrängt werden will, mussten diese Gebiete mit in den Lehrplan der Hochschulen aufgenommen werden, ohne ihnen jedoch auch nur im Entferntesten den Raum wie der technischen Vorbildung geben zu können, sollte das schon lang bemessene Studium nicht noch verlängert werden. Da also die Vorbildung nur das Notwendigste geben kann, das aber bei weitem nicht ausreicht, bleibt nur übrig, die Vervollkommnung in diesen Gebieten auf die Fortbildung zu verweisen. Diese wird sich aber in anderer Weise, zum wenigsten in den Anfangsstadien, vollziehen müssen wie die auf technischem Gebiet. Hier liegt nicht wie dort ein gut durchgebildetes, im Hochschulstudium erworbenes Verständnis vor, sondern eine im allgemeinen nur flüchtige und oberflächliche Bekanntschaft, die nicht vertieft werden konnte. Deswegen kann der geordnete Studiengang und der Vortrag durch sachkundige Fachlehrer nicht entbehrt werden, wie ihn die Handelshochschulen und ähnliche Anstalten mit denselben Zielen geben. Auch Wanderlehrkurse in den Industriebezirken, in denen die genannten Lehranstalten nicht bestehen, sind schon in Anregung und zur Ausführung gebracht worden. Hier darf der Ingenieur vor der ihm ungewohnten Aufgabe nicht zurückschrecken, um sich auf einem für ihn persönlich, wie für die ganze Ingenieurwelt so wichtigen Gebiet zu betätigen. Da auch die Ingenieurs-Literatur mehr wie bisher dieses in ihren Kreis der Betrachtung gezogen hat und noch ziehen wird – ich erinnere an das Flugblatt des Bayerischen Bezirks-Vereins des Vereins Deutscher Ingenieure vom Okt. 05, betr. Behandlung wirtschaftlicher Fragen im Verein Deutscher Ingenieure – so wird auch der Ingenieur in seinen ihm gewohnten Fachzeitschriften diese behandelt finden, ohne auf Fachzeitschriften anderer Berufe angewiesen zu sein. Besuch von Lehrkursen und das Studium einschlägiger Veröffentlichungen wird hier dem Ingenieur die Lösung der Aufgabe bringen. Ein drittes Gebiet, das der Ingenieur noch immer nicht genügend würdigt, ist die Kenntnis fremder Sprachen, von denen die englische, französische und spanische hauptsächlich in Betracht kommen. Industrielle Werke mit weit ausgedehnten ausländischen Handelsbeziehungen können an leitender Stelle nur sprachgewandte Ingenieure brauchen, welche den kaufmännisch-technischen Briefverkehr selbst zu führen im Stande sind. Die hier geforderte Aufgabe ist keineswegs eine zu schwierige, da die Schule ausreichende Vorkenntnisse lehrt, auf denen nur weiterzubauen ist. Wenigstens sollte jeder vorwärts strebende Ingenieur die englische und französische Sprache soweit beherrschen, dass er Abhandlungen mit Hilfe eines Wörterbuches mit Sicherheit zn lesen versteht und den Briefverkehr, der sich ja meist in den üblichen, sich immer wiederholenden Formen abspielt, erledigen kann. Die Sprache zu sprechen kommt erst in zweiter Linie zur Geltung, wenn es sich um eine Stelle im Auslande selbst handelt. Dass diese Fähigkeit so wenig ausgebildet ist, hat seinen Grund nur in dem Mangel an Anregung und Energie des Einzelnen, etwas zu betreiben, was für den Augenblick nicht notwendig gebraucht wird. Auch hier wird die gemeinsame Arbeit mehrerer Gleichgesinnter ihnen förderlich werden und ein Ziel erreichen helfen, das in so greifbarer Nähe liegt. Kurz zusammengefasst, was dem Ingenieur für seine Fortbildung zu tun übrig bleibt, lässt sich sagen: Ausbildung zum Spezialisten in technischer Hinsicht, Beschäftigung mit kaufmännischen, juristischen und sozialen Fragen und Fertigkeit in den 3 wichtigen fremdländischen Kultursprachen. Es soll zugestanden werden, dass diese Aufgaben arbeitsreiche Jahre nach sich ziehen und den Ingenieur für alles andere, was Menschenwürde angeht, fast unaufnahmefähig machen wird. Mag es für ein paar Jahre sein, aber es wird in dieser Weise ein berufliches Geisteskapital angelegt, das seine Zinsen tragen wird für den Einzelnen und für den Ingenieurstand in seiner Gesamtheit. Für den Ingenieur, dessen Beruf so eng mit zahlreichen Faktoren des Kultur- und Wirtschaftslebens verbunden ist, gibt es keinen anderen Weg, um aus dem „technischen Banausen“ einen Mann mit fachlichen Kenntnissen, praktischem Können und weitem Blick der Beurteilung zu machen. Der Ingenieur darf am wenigsten mit Beendigung der Vorbildung seine Berufsausbildung als abgeschlossen betrachten. Er darf nicht der vis inertiae unterliegen, der alle mechanischen Massen gehorchen; deswegen sind ständig neue Kraftimpulse notwendig, um jene aufzuheben. Als ein solcher mag diese Betrachtung gelten mit dem Endzweck, recht viele Kraftimpulse im Einzelnendauszulösen.