Titel: Die Weltausstellung in Lüttich 1905.
Autor: M. Richter
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 611
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Die Weltausstellung in Lüttich 1905. Das Eisenbahnwesen, mit besonderer Berücksichtigung der Lokomotiven. Von Ingenieur M. Richter, Bingen. (Fortsetzung von S. 586 d. Bd.) Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Lüttich 1905. 16. ⅗ gek. Schnellzuglokomotive, Gattung 19 der belgischen Staatsbahnen, mit vierzylindriger Verbund-Heissdampfmaschine, gebaut von der Société Anonyme John Cockerill, Seraing (Belgien) 1905, Fabriknummer 2482, Betriebsnummer 3304. (Fig. 31a, b). In der Zylinder- und Kurbelanordnung stimmt diese mächtige Lokomotive mit der vorigen überein und bildet das zu vergleichenden Versuchen bestimmte Gegenstück derselben. Textabbildung Bd. 321, S. 611 Fig. 31a. Vierzylindrige Verbund-Scbnellzuglokomotive der belgischen Staatsbahnen. Die Zylinder treiben auch hier die Vorderachse zu viert an, und zwar liegen die Hochdruckzylinder innen, die Niederdruckzylinder aussen. Bei dem Zylinderraumverhältnis von 2,9 ist durch die Anlage der Steuerung dafür gesorgt, dass die Zylinder so gut wie gleiche Füllungen erhalten, und es könnte daher für jede Seite auch ein einziger Schieber an Stelle der beiden getrennten ausreichen. So aber ist zur Uebertragung des Antriebs von aussen nach innen wieder eine besondere Vorkehrung erforderlich. Für alle Zylinder ist dasselbe Muster von Doppelkolbenschieber verwendet, und zwar ein dem Schmidtschen ganz ähnliches, mit innerer Ein- und äusserer Ausströmung. Der Antrieb geschieht unmittelbar für die Aussen-(Niederdruck-)Schieber durch Heusinger-Steuerung, welche, bei sehr günstigen Stangenlängen, zunächst an einem verwickelten Kreuzkopf wirkt. Dieser ist eingesetzt in den Drehpunkt des Voreilhebels, an dessen oberem Ende die Kulissenstange eingehängt ist, was durch die Stellung der Gegenkurbel nach rückwärts geboten ist, und hat so zu sagen eine zweistöckige Gleitbahn. Vom oberen Teil zweigt die äussere Schieberstange ab, während nach rückwärts von oben und unten ein kurzes, ebenfalls symmetrisches Gelenkstück in einem Bolzen jedes „Stockwerks“ sitzend die Verbindung mit einem wagerechten zweiarmigen Schwinghebel herstellt; mit der Hilfe des letzteren erst geschieht die Uebertragung auf den inneren, somit gegenläufigen Schieber (Fig. 32). Die sinnreiche, aber etwas umständliche Konstruktion ist sehr kräftig ausgeführt, da sie in verschiedenen Teilen stark kippend beansprucht wird, verursacht jedenfalls entsprechend starke Reibungsverluste, und erfordert reichliche Schmierung. Das Anfahren wird sehr erleichtert durch die bis zu 90 v. H. gehende Füllung der Hochdruckzylinder. Ausserdem ist ein Anfahrventil in die Rauchkammer eingebaut, welches mit Hilfe von Differentialkolben selbsttätig beim Anfahren sich einstellt und Frischdampf bis zu 6 at in die Niederdruckzylinder einlässt, durch den Führer aber dann willkürlich mittels Hebels zurückgestellt werden kann. Eine Umschaltung des Verbinders auf unmittelbaren Auspuff der Hochdruckzylinder findet dabei nicht statt, und ist auch bei dem sicheren Anfahren nicht nötig geworden, so dass die ganze Ausrüstung in dieser Hinsicht höchst einfach ausgefallen ist. Zur Vermeidung unangenehmer Kompressionen sind die schädlichen Räume der Hochdruckzylinder sehr vergrössert. Zylinderdeckel und Verbinder sind mit Sicherheitsventilen, die Einströmrohre mit Luftsaugventilen versehen. Rahmen, Drehgestell, Federung, Bremse, Umsteuerung sind dieselben wie bei der vorigen Lokomotive. Der gewaltige, in der Mitte 2,805 m über S. O. liegende Kessel gleicht in den Grundzügen ebenfalls dem vorigen. Der Langkessel ist jedoch aus drei Schüssen von abwechselndem Durchmesser, deren hinterster den Dom trägt, zusammengesetzt und der Druck ist 15½ at. Alles übrige, Feuerbüchse, Rost, Regler, Kamin usw. ist gleich. Textabbildung Bd. 321, S. 612 Fig. 31b. Vierzylindrige Verbund Schnellzuglokomotive der belgischen Staatsbahnen. Neuartig jedoch ist der Ueberhitzer, Bauart Cockerill, der für die Rauchkammer mit seinem Rohrnetz den eigentümlichen kegelstumpfförmigen Vorbau bedingt und nur den Niederdruckdampf zu überhitzen hat, demnach als Zwischenüberhitzer zu bezeichnen ist; wohl zum ersten Mal an einer Lokomotive angewendet (Fig. 33). Textabbildung Bd. 321, S. 612 Fig. 32. Anordnung der Zylinder und des Triebwerks der ⅗ gek. Verbundlokomotive. Im oberen Teile des Langkessels befinden sich in zwei Bündeln zu je 15 Stück, diese in fünf versetzten Reihen zu je drei übereinander, angeordnet, 30 Flammrohre von 107 mm äusserem Durchmesser, die in zwei Sammelkästen enden, welche durch je sechs kräftige, kurze Stutzen (in zwei Reihen übereinander zu je drei Stück) an die Feuerbüchsrohrwand angeschlossen sind. Diese Flammrohre enthalten je drei Dampfröhren, die aus zwei im Vorderteil der Rauchkammer aufgehängten Dampfkästen ausgehen und in den erwähnten Rohrkästen in Dampfkammern enden, die den Heizgasraum durchsetzen. Unterhalb des Domes sind die Dampfräume der beiden Heizrohrkästen durch eine gekrümmte Rohrleitung mit einander verbunden. Textabbildung Bd. 321, S. 612 Fig. 33. Zwischenüberhitzer von Cockerill. Der Dampf geht aus dem Dom durch das Dampfrohr A wie gewöhnlich zunächst in die Rauchkammer, teilt sich dort in die beiden Einströmrohre B1B2 nach links und rechts zu den Hochdruckzylindern, verlässt diese und geht nun in einer gemeinsamen Leitung C nach dem linken Dampfkasten D1, von dort durch die 15 Dampfrohre im Gegenstrom zu den Heizgasen in den linken Sammelkasten E1, hierauf hinüber in den rechten Sammelkasten E; von diesem zurück, im Gleichstrom mit den Heizgasen zum rechten Dampfkasten D2 und dann endlich durch die beiden Rohre F1F2 aus einem Gabelrohr zu den Niederdruckzylindern. Versuchs- oder Betriebsergebnisse sind bis jetzt nicht bekannt geworden. So verwickelt das Rohrnetz ist, so wirksam ist jedenfalls die Ueberhitzung des niedrig gespannten Abdampfes der Hochdruckzylinder; auf die wirtschaftliche Leistung darf man daher gespannt sein, um so mehr, als genau dieselbe Lokomotive auch ohne Ueberhitzer, nach dem gewöhnlichen Verbundsystem, im Betrieb steht. In der Ausstattung gleicht diese prächtige Lokomotive der ⅖ gek. Lokomotive von Cockerill (No. 7 dieses Berichts); wie bei dieser war das Ausstellungsgewand das für den Betrieb bestimmte und war in seiner Feinheit keines weiteren Aufputzes bedürftig. Die Hauptabmessungen sollen mit denen der folgenden Lokomotive in Zusammenstellung gegeben werden. Die Hauptabmessungen der beiden letzten Gattungen sind: Textabbildung Bd. 321, S. 613 Gattung; Zylinderdurchmesser; Kolbenhub; Zylinderraumverhältnis; Triebraddurchmesser; Kesselüberdruck; Heizrohre; Länge (zw. Wänden); Anzahl; Durchmesser; Heizfläche; Feuerbüchse; Rohre (innen); Ueberhitzer (aussen); im ganzen; Rostfläche; Dienstgewicht; Reibungsgewicht; Zugkraft (α = 0,38); Grösste Geschwindigkeit Ueber die mit den drei letzten Gattungen gewonnenen Versuchs- und Betriebsergebnisse soll nach Bekanntgabe derselben berichtet werden; bis jetzt ist nichts in die Oeffentlichkeit gedrungen. 17). ⅗ gek. Personenzuglokomotive, Gattung 19b der belgischen Staatsbahnen, mit vierzylindriger Verbund-Heissdampfmaschine, gebaut von der Société Anonyme John Cockerill, Seraing (Belgien), 1905, Fabriknummer 2506, Betriebsnummer 3293 (Fig. 34ab). Textabbildung Bd. 321, S. 613 Fig. 34a. Vierzylindrige Verbund-Schnellzuglokomotive der belgischen Staatsbahnen. Textabbildung Bd. 321, S. 613 Fig. 34b. Vierzylindrige Verbund-Schnellzuglokomotive der belgischen Staatsbahnen. Diese Lokomotive gleicht der vorigen in Kessel, Rahmen, Drehgestell, Steuerung usw. genau. Verschieden ist die Anordnung der Kurbeln und des Ueberhitzers. Die Triebräder haben statt 1,98 nur 1,8 m Höhe. Das Triebwerk entspricht demjenigen der P. L. M. Lokomotive (No. 14 dieses Berichts) in Bezug auf die Verteilung des Antriebs auf zwei Triebachsen, nur sind die Hochdruckzylinder und die Niederdruckzylinder mit einander vertauscht. Demgemäss liegen die Hochdruckzylinder innen und treiben die Vorderachse mit Kröpfung, die Niederdruckzylinder aussen und treiben die Mittelachse; die Achsen sind in gewöhnlicher Weise gekuppelt. Zur Erzielung bequemer Schubstangenlängen sind wie bei der P. L. M. Lokomotive die inneren Zylinder vor die äusseren gerückt. Zur Vermeidung allzu langer äusserer Schubstangen sind die Deckel der Niederdruckzylinder sehr stark konisch (rückwärts gewölbt), entsprechend ist der Kolben als Kegelteller geformt; die Gleitbahn ist ebenfalls nach rückwärts verlegt so weit als möglich. Im übrigen ist das Triebwerk nebst Steuerung identisch mit dem der Gattung 19. Der Ueberhitzer, Bauart Cockerill, ist rein zu Versuchszwecken eingebaut, kann nach Belieben als Vor- und Zwischenüberhitzer oder nur als letzteres geschaltet werden, und soll eben deshalb zur Entscheidung darüber endgültig beitragen, ob beides oder nur das zweite erforderlich und wirtschaftlich ist. Naturgemäss ist das dazu nötige Rohrnetz noch verwickelter als im vorigen Fall, mit dem es zur Hälfte identisch ist (Fig. 35). a) Vor- und Zwischenüberhitzung (einfache Pfeile). Der Dampf geht aus dem Dom durch das Dampfrohr A unmittelbar in das Umschaltventil V1, von dort in den linksseitigen Sammelkasten E1, dann durch das linke Rohrbündel nach dem Dampf kästen D1, im Gleichstrom mit den Heizgasen; von dort durch ein zweites Umschaltventil V2 und durch ein Gabelrohr zu den beiden Einströmrohren B1 und B2, die zu den Hochdruckzylindern führen. Von den Hochdruckzylindern sammelt sich der Abdampf in der Leitung C, die wieder durch das zweite Umschaltventil V2 in die Leitung G übergeht. Diese läuft zurück unter dem Rücken des Langkessels zum ersten Umschaltventil V1. Von dort gelangt der Dampf in den rechtsseitigen Sammelkasten E, aus diesem wieder im Gleichstrom mit den Heizgasen durch das zugehörige Rohrbündel zum Dampfkasten D2, und endlich durch die beiden Einströmrohre F1 und F2 zu den Niederdruckzylindern. Textabbildung Bd. 321, S. 614 Fig. 35. Versuchsüberhitzer von Cockerill; Vor- und Zwischenüberhitzung; Zwischenüberhitzung allein. b) Nur Zwischenüberhitzung (gefiederte Pfeile). Das Umschaltventil V1 wird so gestellt, dass der Dampf vom Rohr A sofort in die Leitung A' kommt. Diese ist angeschlossen an das bereits erwähnte Umschaltventil V2 in der Rauchkammer, aus welchem der Dampf durch die Rohre B1 und B2 zu den Hochdruckzylindern kommt, wie im vorigen Falle, nur noch nicht überhitzt. Von den Hochdruckzylindern ausgepufft, strömt der Dampf wieder durch die Leitung G zum zweiten Umschaltventil V2 und zum linksseitigen Dampfkasten D1. Im übrigen stimmt die Bahn überein mit der bei der vorigen Lokomotive beschriebenen: im Gegenstrom links rückwärts, dann nach rechts, im Gleichstrom rechts vorwärts, um sich dann nach den beiden Niederdruckzylindern zu teilen. Dieses umfangreiche Rohrnetz mit den beiden Umschaltventilen in der Rauchkammer und, noch schlimmer, im Langkessel, ist zu dem einzigen Zweck angelegt, um die Frage nach der Zweckmässigkeit der Vor- und der Zwischenüberhitzung an einer und derselben Lokomotive vergleichend sicher zu lösen. Für die endgültige Ausführung ist daher zur Vereinfachung die Türe offen gelassen; es ist möglich, dass man sich für die Zwischenüberhitzung entscheidet, so dass eine Reihe von Leitungen wegfallen würde; vielleicht wäre dann auch der konische Vorbau der Rauchkammer überflüssig. Vorläufig aber erfordert der beabsichtigte Zweck diese verwickelte, teure und das Dienstgewicht wesentlich erhöhende Anordnung. Im übrigen eignet sich so oder so diese Gattung für schweren Schnellzug- und Personenzugdienst im Hügel- und Gebirgsland. Betriebsergebnisse sind noch nicht bekannt gegeben. Die Gattung wird 8 Stück umfassen, teilweise mit 1,98 m hohen Triebrädern, wie bei der vorigen, teilweise nur mit Zwischenüberhitzer versehen. Der Tender ist wieder der dreiachsige mit 20 cbm Wasser. (Fortsetzung folgt.)