Titel: | Elektrischer Vollbahnbetrieb. |
Autor: | Hort |
Fundstelle: | Band 322, Jahrgang 1907, S. 301 |
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Elektrischer Vollbahnbetrieb.
Elektrischer Vollbahnbetrieb.
Am 27. April hielt der Oberingenieur der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft,
Reg.-Baumeister a. D. Pforr im Sitzungssaal des
Verwaltungsgebäudes der genannten Gesellschaft vor einem geladenen Zuhörerkreis, in
welchem auch der Herr Minister der öffentlichen Arbeiten erschienen war, einen
Vortrag über den elektrischen Vollbahnbetrieb.
Der elektrische Bahnbetrieb, der bisher nur im engeren Stadt- und Vorortverkehr mit
seinen kleinen Zuggewichten und den kurzen Zugfolgen wirtschaftliche Erfolge
erzielen konnte, sieht sich beim Voll- und Fernbahnverkehr einer wesentlich
schwierigeren Aufgabe gegenüber.
Zunächst ist klar, daß die im Straßenbahnbetrieb üblichen niedrigen
Gleichstromspannungen von 500–600 Volt schon angesichts der großen von einer
Lokomotive im Durchschnitt geforderten Leistungen, die auf Stromstärken von 600–1200
Amp. führen würden, ungenügend sind.
Um die Energieübertragung im elektrischen Fernbahnbetrieb wirtschaftlich zu
gestalten, sind Spannungen von mindestens 6000 Volt am Fahrdraht erforderlich. Nun
ist es noch nicht gelungen, Gleichstrommaschinen für solche Spannungen
betriebssicher zu bauen, so daß bei allen bisherigen Versuchen auf dem Gebiete der
Elektrisierung der Fernbahnen vom Gleichstrom von vornherein abgesehen
wurde.
Hier treten Wechselstrom und Drehstrom in ihre Rechte. Mit beiden Betriebsarten sind
ausgedehnte Versuche angestellt worden, so u.a. mit Drehstrom von der Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen.
Es hat sich bei diesen Versuchen gezeigt, daß den Vorzügen des Drehstromes doch
vorwiegende Nachteile gegenüberstehen.
Zunächst gestattet der Drehstrommotor in einfacher Weise keine genügende
Geschwindigkeitsregulierung. Schwerwiegender ist schon der weitere Umstand, daß bei
Drehstrommotorwagen sich die für den Bahnbetrieb so wichtige Gruppenschaltung
(Steuerung mehrerer Wagen von einem Punkt aus) nicht betriebssicher durchführen läßt
und schließlich das Haupthindernis der komplizierten Fahrdrahtanlage. Namentlich in
den Weichen treten durch die zwei erforderlichen Drähte so große konstruktive
Schwierigkeiten hinsichtlich einer genügenden Isolation auf, daß die Lösung dieser
Frage bei den Fahrten der Studiengesellschaft nicht
einmal versucht wurde.
Alle diese Erfahrungen weisen auf den Einphasenwechselstrom. Der
Einphasenwechselstrommotor hat sich langsamer entwickelt, als der Drehstrommotor. Jetzt
ist aber unzweifelhaft der Beweis erbracht, daß der Wechselstrom-Reihenmotor dem
Gleichstrommotor in bezug auf Geschwindigkeitsregelung in keiner Weise nachsteht und
dem Drehstrommotor gegenüber den Vorteil der Gruppenschaltung aufweist, während die
Fahrdrahtverhältnisse in keiner Weise Schwierigkeiten bieten.
Die ersten größeren Wechselstromlokomotiven wurden in Nordamerika von der General Electric Comp. erbaut. Im Anschluß an die
dortigen Erfahrungen hat auch die Allgemeine
Elektrizitätsgesellschaft auf Veranlassung der preußischen Staatseisenbahn
– Verwaltung auf ihrer Versuchsbahn nach Spindlersfelde ausgedehnte Versuche während
zweier Jahre unternommen.
Andere Elektrizitätsfirmen sind der Allgemeinen
Elektrizitätsgesellschaft gefolgt.
Die Fragen, die bei den Spindlersfelder Versuchen gelöst wurden, bezogen sich u.a. in
erster Linie auf die Aufhängung des Fahrdrahtes und auf die menschensichere
Durchkonstruktion der Hochspannungsanlage der Lokomotive. Die bei Straßenbahnen
übliche direkte Aufhängung des Fahrdrahtes an den Auslegerarmen der Masten wurde
verlassen und eine mittelbare Aufhängung mit Hilfe eines oder zweier Tragedrähte
gewählt, welch letztere ihrerseits an den Auslegern befestigt sind. So gelang es,
dem Fahrdraht eine der geraden Linie sehr ähnliche Gestalt zu geben, indem man ihn
in Abständen von 3 m am Tragedraht befestigte, während bei der gewöhnlichen direkten
Aufhängung der Fahrdraht aus aneinander gereihten Seilkurvenabschnitten besteht, die
in den Aufhängepunkten mit einem Knick aneinander schließen. Jene Maßregel ist bei
den großen Fahrgeschwindigkeiten, die sich auf über 100 km/Std. belaufen werden, unerläßlich, soll
nicht anders der Stromabnehmer an den Aufhängepunkten unzulässige Schläge auf den
Fahrdraht ausüben.
Die Andrückvorrichtung des Stromabnehmers wurde pneumatisch ausgeführt, so daß sie
vom Führerstand aus bequem betätigt werden konnte. Gleichzeitig verband man mit der
pneumatischen Einrichtung ein Hebelwerk, welches bei angedrücktem Stromabnehmer die
Hochspannungskammer des Wagens geschlossen hält, so
daß der Führer nur bei abgezogenem Bügel, d.h. bei völliger Spannungslosigkeit der
Leitungsanlage die Hochspannungskammer betreten kann. Außerhalb der
Hochspannungskammer befinden sich aber nur solche Leitungsteile, welche den auf die
niedrige Verbrauchsspannung der Motoren herabtransformierten Strom führen.
Unter solchen Vorsichtsmaßregeln gelang es, den Betrieb auf der Spindlersfelder
Strecke zwei Jahre lang ohne jeden Unfall durchzuführen.
Seitdem hat sich der Wechselstrom in immer stärkerem Maße das Gebiet des
Bahnbetriebes erobert, so daß es jetzt 30 Wechselstrombahnen mit zusammen 1200 km
Betriebslänge gibt. Die angewendeten Spannungen gehen bis 15000 Volt, die
Geschwindigkeiten bis 112 km/Std. Der Vortragende geht nun über zur Frage der
Elektrisierung des ganzen preußischen Staatsbahnnetzes.
Als Fahrdrahtspannung werden 6000 Volt gewählt. Diese Spannung wird dem Fahrdraht von
Transformatorwerken
zugeführt, die in Abständen von 40 km längs der Bahnstrecken verteilt sind. In
den Transformatorwerken wird der 6000 Voltstrom aus 15000 Voltstrom erzeugt, welch
letzterer den Transformatorwerken aus den Kraftwerken
geliefert wird. Solcher Kraftwerke sind 30 vorhanden, indem man den Wirkungsradius
eines Kraftwerkes an 200 km festsetzt. In den Kraftwerken wird der 15000 Volststrom
mittels Dampfturbinen erzeugt.
Unter Benutzung der Betriebsergebnisse und der Betriebsstatistik der preußischen
Staatsbahnen von 1904 unternimmt dann der Vortragende eine Schätzung der Anlage und
Betriebskosten für die geschilderte Anordnung.
Die Schätzungen beruhen in erster Linie auf dem statistisch geführten Nachweis, daß
von den 17000 preußischen Staatsbahn-Lokomotiven nur 54 v. H. zu gleicher Zeit im
Zugdienst verwendet werden, die übrigen 46 v. H. sind entweder in Reparatur, oder in
Betriebsvorbereitung oder in Reserve.
Da nun die elektrische Lokomotive vermöge ihrer Konstruktion weniger Reparaturen
erfordert und sie außerdem immer betriebsbereit ist, wird die erforderliche Anzahl
an elektrischen Lokomotiven auf 64 v. H. der Dampflokomotiven berechnet. Hiermit
ergibt sich ein Anlagekapital für die Beschaffung der elektrischen Lokomotiven von
535 Mill. M. Die Anlagekosten für die Fahrdraht- und Transformator-Werkanlage sind
berechnet auf 345 Mill. M, so daß die gesamten Anlagekosten sich auf 880 Mill. M
belaufen werden.
Die Betriebskosten werden berechnet unter der Annahme, daß die Eisenbahnverwaltung
den 15000 Voltstrom für die Transformatorwerke von Privaten bezieht und daß es
diesen möglich sei, die elektrische Energie zu 3,5 Pfg. für die KW-Std. zu liefern.
Die weitere Diskussion aller Posten der mit dem Dampfbetrieb verbundenen
Betriebskosten führt schließlich zu dem Ergebnis, daß durch Einführung des
elektrischen Vollbahnbetriebes eine Betriebskostenersparnis von 47 Mill. M zu
erzielen sein wird. Dieser Betrag würde aber hinreichen, das Anlagekapital von 880
Mill. M. mit 5 v. H. zu verzinsen.
Die ganze Schätzung ist sehr vorsichtig durchgeführt; in Wirklichkeit wird das
Ergebnis wahrscheinlich günstiger sein. Gar nicht in Anschlag gebracht sind aber die
Vorteile, die das Vorhandensein von billiger Energie längs des Bahnnetzes im Gefolge
haben wird. Rechnet man ferner den günstigen Einfluß hinzu, den die Erhöhung der
Verkehrsgeschwindigkeit auf das gesamte Wirtschaftsleben ausüben wird, zieht man
schließlich noch die militärischen Vorteile und die Annehmlichkeit der verminderten
Rauchplage in Betracht, so ergibt sich als Gesamtresultat der Wunsch, daß es der
preußischen Staatsbahnverwaltung gelingen möge, der Elektrisierung ihres Bahnnetzes
in nicht allzu ferner Zeit näher zu treten. Daß die Absichten der Verwaltung diesem
Wunsche nicht abgeneigt sind, zeigt das Interesse, welches sie jederzeit an Schnell-
und Fernbahnversuchen genommen, und welches neuerdings in dem Projekt einer
elektrischen Vollbahn von Altona nach Kiel mit 120–150 km/Std. Geschwindigkeit zum Ausdruck
kommt.
Dr. Hort.