Titel: Englands Lehre aus der „Titanic“-Katastrophe.
Autor: C. Kielhorn
Fundstelle: Band 328, Jahrgang 1913, S. 121
Download: XML
Englands Lehre aus der „Titanic“-Katastrophe. Die Neuregelung der Bootsfrage in England. Von C. Kielhorn in Zehlendorf. KIELHORN: Englands Lehre aus der „Titanic“-Katastrophe. Der Untergang des White Star Liners„Titanic“ im April vergangenen Jahres hatte vielen Hunderten von Passagieren und Seeleuten das Leben gekostet, einzig und allein, weil nicht genügend Rettungsboote an Bord waren, um alle Menschen aufzunehmen. Erst hierdurch wurde die Aufmerksamkeit des großen Publikums auf die Tatsache gelenkt, daß alle großen transatlantischen Passagierdampfer, wenn sie voll besetzt sind, niemals ausreichenden Bootsraum für alle an Bord befindlichen Passagiere führen. Die Aufsichtsbehörde, in Deutschland die See-Berufsgenossenschaft, in England das Board of Trade, hatten von jeher diese Uebelstände als etwas selbstverständliches angesehen und genaue Regeln aufgestellt, wieviel Boote und wieviel Bootsraum ein Schiff, welches nicht für alle an Bord befindlichen Personen ausreichenden Rettungsbootsraum hatte, im Minimum führen müßte. Man beruhigte sich damit, daß man sagte, im Falle das Schiff auf hoher See verlassen werden muß, wird es bei größeren Beschädigungen doch Schlagseite haben und es wird nur ein Teil der Boote zu Wasser gelassen werden können, also kann auch ausreichend bemessener Bootsraum nichts helfen. Da kam die „Titanic“-Katastrophe. Der Dampfer streift einen treibenden Eisberg, vier Räume des Vorschiffs werden leck und das Schiff, das man für unsinkbar gehalten, beginnt langsam nach vorn wegzusinken. Fast vier Stunden läßt das Schicksal den Unglücklichen Zeit, das Schiff zu verlassen, alle Rettungsboote werden zu Wasser gelassen, das Schiff nimmt keine Schlagseite an, die See ist ruhig, aber selbst wenn alle vorhandenen Boote vollbesetzt worden wären, so wären immer noch Hunderte ein Opfer dieser Sorglosigkeit geworden, da eben für sie von vornherein kein Bootsraum vorgesehen war. Wir müssen anerkennen, daß auf den großen deutschen Passagierdampfern in der Regel mehr Bootsraum vorhanden gewesen ist, so daß wahrscheinlich das Menschenopfer nicht diese gräßliche Höhe erreicht hätte, aber ausreichender Bootsraum für alle an Bord befindlichen Personen war auch dort nicht vorhanden, wenn sie voll besetzt waren. England hat nun kurz entschlossen mit diesem Mißstand aufgeräumt. In Verfolg des Abschnitts 427 der Merchant Shipping Act von 1894 hat das Board of Trade die nachstehenden Vorschriften über Lebensrettungsvorkehrungen an Stelle der Vorschriften vom 10. Februar 1902, 24. Mai 1909, 10. April 1910 und 14. Juni 1911 herausgegeben. Die neuen Vorschriften treten am 1. März 1913 In Kraft, so lautet schlicht die Einführungsformel der neuen Vorschriften, die wir mit Recht als eine Kulturtat bezeichnen können. Für die Anwendung dieser Vorschriften werden die Schiffe in zwei Hauptgruppen eingeteilt, in Auslandsfahrer (Foreign-going) und Binnenfahrer (Home-Trade). Die Auslandsfahrer werden wieder in vier Klassen eingeteilt. Klasse I. Passagierdampfer in der Auslandsfahrt einschließlich der Auswandererschiffe. Klasse II. Dampfer in der Auslandsfahrt ohne Passagierzertifikat. Klasse III. Segelschiffe in der Auslandsfahrt, welche Passagiere fahren. Klasse IV. Segelschiffe in der Auslandsfahrt, welche keine Passagiere fahren. Die Binnenfahrt umfaßt nicht weniger als zwölf Klassen. Wenn wir im nachstehenden diese auch nicht weiter erörtern wollen, so seien sie doch kurz aufgezählt, da sie uns ein klares Bild davon geben, bis auf welche kleinen Fahrzeuge sich in England die Aufsicht der Staatsbehörde erstreckt. Klasse I sind Dampfschiffe im Besitz eines Passagierdampferzertifikats, welches ihnen gestattet, Passagiere zwischen irgendwelchen Häfen im Bereich der Binnenfahrt zu befördern, d.h. zwischen Plätzen der Britischen Inseln, z.B. zwischen England, den Kanalinseln und der Isle of Man, oder zwischen den britischen Inseln und dem europäischen Festland zwischen der Elbe und Brest einschließlich. Klasse II. Dampfschiffe in der Fahrt zwischen Plätzen im Bereiche der Binnenfahrt, aber nicht mit der Berechtigung Passagiere zu fahren. Klasse III. Segelschiffe in der Passagierfahrt irgendwo in den Grenzen der Binnenfahrt. Klasse IV. Segelschiffe innerhalb der Grenzen der Binnenfahrt, welche jedoch keine Passagiere befördern. Klasse V. Dampfer im Besitz eines Passagierdampferzertifikats, welches sie berechtigt, Passagiere innerhalb bestimmter Grenzen der Binnenfahrt zu befördern z.B. in kurzen bestimmten Fahrten längs der Küsten der Vereinigten Königreiche, oder zwischen Großbritannien und Irland, oder zwischen Großbritannien oder Irland und der Isle of Man. Klasse VI. Dampfschiffe mit der Berechtigung, Passagiere auf kurzen Ausflügen in See zu fahren, z.B. zwischen teilweise stillem Wasser zwischen dem 1. April und 31. Oktober bei Tage und bei ruhigem Wetter. Klasse VII. Dampfschiffe mit der Berechtigung, Passagiere in teilweise stillen Gewässern zu befördern. Klasse VIII. Dampfschiffe mit der Berechtigung, Passagiere in stillem Wasser in den Flußmündungen und Seen zu befördern. Klasse IX. Dampfschiffe mit der Berechtigung, Passagiere in stillem Wasser auf Flüssen und Kanälen zu befördern. Klasse X. Dampfbeiboote und Motorboote mit der Berechtigung zur Passagierbeförderung auf kurze Strecken in See. Klasse XI. Fischtransportdampfer, Schlepper, Dampfleichter, Bagger, Dampfbagger und Hulks, welche in See gehen. Klasse XII. Dampffischer, Schlepper, Dampfleichter, Bagger und Dampfbagger sowie Hulks, welche nicht in See gehen. Von all den 16 aufgezählten Klassen wollen wir im nachstehenden nur die Klasse I der Auslandsfahrer, d.h. also die Passagierdampfer in der Auslandsfahrt einschließlich der Auswandererschiffe, näher behandeln. A. „Schiffe dieser Klasse müssen Rettungsboote in solcher Anzahl und von solchem Fassungsvermögen führen, daß dieselben für alle Personen, welche an Bord sind, oder welche an Bord sein dürfen, je nachdem welche Zahl größer ist, ausreichenden Platz gewähren. Will ein Kapitän oder Reeder weniger Rettungsboote fahren als für die gesamte Personenzahl, für welche das Schiff konzessioniert ist, erforderlich ist, so muß er vor der Ausklarierung vor dem Kollektor oder einem anderen Beamten (Officer of Custom) die Erklärung abgeben, daß die Rettungsboote zur Unterbringung aller Personen, die das Schiff während der ganzen Reisedauer nach dem Auslande und zurück an Bord nimmt, genügen.“ Mit dieser Grundregel sind alle Vorkommnisse wie bei dem Titanicunglück unmöglich gemacht. Kein Mann darf an Bord genommen werden, für den kein Platz im Rettungsboot vorhanden ist. Wie ganz anders lautet diese Vorschrift als die frühere, die mit den Worten begann: „Schiffe, welche nicht für alle an Bord befindlichen Personen Bootsraum führen, müssen mindestens versehen sein“ usw., dann folgte die Bestimmung der Anzahl der Boote nach dem Brutto-Raumgehalt. B. Wo ein Schiff dieser Klasse mehr als vier Rettungsboote fahren muß, können ein oder zwei Boote nach Abschnitt D mit inneren Schwimmvorrichtungen versehen, an Stelle der gleichen Zahl Rettungsboote gefahren werden. Bis dahin brauchte von den vorgeschriebenen Booten überhaupt nur die Hälfte Rettungsboote zu sein. C. Unter Berücksichtigung der Regeln der allgemeinen Vorschriften 16 (1) soll ein Schiff dieser Klasse je nach seiner Länge mit einer solchen Anzahl von Davitpaaren von geeigneter Form, wie in der Tabelle Seite 123 angegeben ist, versehen sein, dieselben müssen zur Zufriedenheit des Board of Trade angeordnet sein. An jedem Davitpaar muß ein Rettungsboot hängen. Außerdem kann das Board of Trade, wenn es ihm erforderlich erscheint, noch andere erprobte Aussetzvorrichtungen von bewährter Form verlangen usw. Es wird also für jedes Boot die Aufstellung unter Davits gefordert, während es früher hieß, daß die Rettungsboote, d. i. also gerade die Hälfte, tunlichst unter Davits aufgestellt werden sollten. D. 1. Alle Rettungsboote, welche nach der vorhergehenden Regel in Davits hängen sollen, sollen offene Rettungsboote nach Abschnitt A oder B sein. 2. Die weiteren Rettungsboote (falls solche vorhanden), die nicht in Davits zu hängen brauchen, aber die erforderlich sind, um den Gesamtbootraum zu erreichen, können offen oder gedeckt sein. 3. Alle diese weiteren Rettungsboote sollen so aufgestellt werden, daß sie zur Aufhängung in den Davits leicht erreichbar sind. 4. Ein weiteres Rettungsboot nach Abschnitt C kann unter einem offenen Rettungsboot nach Abschnitt A oder B, welches in Davits hängt, Aufstellung finden. 5. Wenn die offenen Rettungsboote, welche in den Davits hängen, zusammen mit den gedeckten Rettungsbooten, welche unter ihnen aufgestellt sind, in Ausführung des letzten Paragraphen nicht genügen, um den erforderlichen Bootsraum zu schaffen, so können drei gedeckte Rettungsboote übereinander Aufstellung finden, wobei das oberste in den Davits hängen muß. Dieser Abschnitt D stellt also die wichtigste Neuerung dar. Bisher hatten die Reeder stets einer Vermehrung der Boote mit dem Hinweis widersprochen, daß es nicht möglich sei, mehr Boote in Davits aufzustellen. Durch die Einführung der gedeckten Rettungsboote ermöglichen die neuen Vorschriften die Aufstellung der dreifachen Zahl von Booten, ohne daß eine größere Zahl von Davits erforderlich würde. Die übrigen Vorschriften für die Passagierdampfer in der Auslandsfahrt können wir hier übergehen, da uns hauptsächlich die Bootsfrage interessiert. Indessen ist es erforderlich, noch kurz auf die „Allgemeinen Vorschriften“ betreffs der Boote einzugehen, da hierauf in den angeführten Paragraphen ja des öfteren Bezug genommen ist. Unter „Person“ versteht das neue Gesetz nicht etwa nur Erwachsene, sondern jeden Menschen der über ein Jahr alt ist. Als Passagierdampfer gilt jeder Dampfer, welcher mehr als zwölf Passagiere fährt, während die Seeberufsgenossenschaft bekanntlich darunter Dampfer versteht, welche in der Regel mehr als fünfzig Passagiere fahren. Eine ganze Anzahl Neuerungen betrifft auch die Boote selbst. An Rettungsbooten gibt es jetzt drei verschiedene Sorten. Ein Rettungsboot nach Abschnitt A ist ein vorn und hinten scharfes Boot aus Holz oder Metall mit mindestens 10 v. H. des Raumgehalts als Luftkasteninhalt, bei Metallbooten entsprechend dem größeren Gewicht verhältnismäßig mehr. Ein Rettungsboot nach Abschnitt B ist ein vorn und hinten scharfes Boot aus Holz oder Metall mit Schwimmvorrichtungen innenbords und außenbords. Das Volumen der Schwimmvorrichtungen innenbords soll nicht weniger als 7,5 v. H. des Bootsraumgehaltes und bei Korkwulsten außenbords nicht weniger als 3 v. H. des Bootsraumgehaltes betragen. Ein Rettungsboot nach Abschnitt C endlich ist ein vorn und hinten scharfes Boot aus Holz oder Metall mit einem starken wasserdichten Deck. Das Deck braucht keinen Sprung zu haben, wenn das Boot genügend hohen Freibord hat. Metallboote dieser Art müssen mindestens 1 cbf Luftkasteninhalt für jede Person, die es tragen soll, haben. Ein Boot nach Abschnitt D endlich ist ein gewöhnliches Holz- oder Metallboot, welches einen Spiegel haben kann. Motorboote können unter gewissen Bedingungen als Rettungsboote geführt werden. Sie müssen leicht zu Wasser gelassen werden können und müssen sofort gebrauchsfähig sein. Wenn die Zahl der Rettungsboote mehr als vier und weniger als zehn beträgt, so kann ein Boot im Motorrettungsboot sein; beträgt die Zahl der Rettungsboote nicht weniger als zehn aber weniger als fünfzehn, so können zwei Boote Motorrettungsboote sein, und auf je fünf Rettungsboote über zehn kann immer ein Motorrettungsboot kommen. Der Inhalt der Boote wird noch genau wie früher als das Produkt aus Länge × Breite × Tiefe × 0,6 berechnet, jedoch sind wegen der Messung von Länge, Breite und Tiefe eine Reihe Sonderbestimmungen gegeben, deren Wiedergabe uns hier zu weit führen würde. Länge des Schiffesm Mindestzahlder Davitpaare Mindestzahl deroffenen Rettungs-boote in Davits unter 48,77   2   2   48,77 und unter   57,91   3   3   57,91  „      „       67,06   4   4   67,06  „      „       74,68   5   4   74,68  „      „       82,29   6   5   82,29  „      „       91,44   7   5   91,44  „      „     100,58   8   6 100,58  „      „     109,73   9   7 109,73  „      „     118,87 10   7 118,87  „      „     137,16 12   9 137,16  „      „     155,45 14 10 155,45  „      „     179,83 16 12 179,83  „      „     204,21 18 13 204,21  „      „     228,60 20 14 228,60  „      „     256,03 22 15 256,03  „      „     286,51 24 17 286,51  „      „     316,99 26 18 Zur Bestimmung der Anzahl Personen, welche ein Boot tragen darf, wird der nach vorstehendem ermittelte Raumgehalt in Kubikfuß durch 10 dividiert, d.h. also, es wird für die Person 0,283 cbm Bootsraum gerechnet; entsprechen jedoch Umfang und Sprung des Bootes nicht den Vorschriften des Board of Trade, die genauer anzuführen uns hier der Raum mangelt, so muß für die Person 12 cbf = 0,34 cbm gerechnet werden. Diese Bestimmung ist um so bemerkenswerter, als die Seeberufsgenossenschaft bekanntlich im vergangenen Sommer in Hamburg und Bremerhaven mehrfache Versuche mit verschiedenen Rettungsbooten hat vornehmen lassen, auf Grund deren sie zu dem Schluß kam, statt wie bisher 0,283 cbm von nun an nur 0,23 cbm für die Person zu rechnen. Es ist daher von Interesse, wie sich die Seeberufsgenossenschaft zu diesen Bestimmungen des Board of Trade, die unter Umständen also mehr als 50 v. H. Bootsraumgehalt für die Person mehr fordern, stellen wird. Für die Bootsaussetzvorrichtungen ist neu, daß, sobald ein Boot höher als 12' = 3,66 m über der Tiefladelinie aufgestellt ist, Boot und Aussetzvorrichtungen so stark sein müssen, daß dieselben mit voller Besatzung zu Wasser geführt werden können. Während bislang jedes Rettungsboot Mast und Segel haben mußte, hat das Board of Trade diese jetzt nur für die Hälfte der Rettungsboote, mindestens aber für vier derselben vorgeschrieben. Der Umstand, daß alle Passagierdampfer heute mit drahtloser Telegraphie ausgerüstet sind, wodurch im Falle der Not immer andere Schiffe zu Hilfe herbeigerufen werden können, läßt Mast und Segel ziemlich überflüssig erscheinen, da es ja jetzt für die Rettungsboote nicht mehr darauf ankommt, so bald als möglich das nächste Land zu erreichen, sondern sich so lange in der Nähe der Unglücksstelle zu halten, bis die Hilfe eingetroffen ist. Völlig neu ist, wie schon erwähnt, die Bestimmung der Anzahl der Davitpaare und der im Minimum erforderlichen offenen Rettungsboote nach der Registerlänge der Schiffe. Diese Zahlen sind je nach den Klassen verschieden, für die transatlantischen Passagierdampfer lauten dieselben wie in der Tabelle S. 123 angegeben. Fassen wir die neuen Vorschriften des Board of Trade kurz zusammen, so müssen wir zugestehen, daß alles geschehen ist, um eine Wiederholung jener Katastrophe, wie sie die Titanic betroffen, so weit menschliches Können reicht, unmöglich zu machen. Für die Sicherheit der Reisenden auf dem Ozean draußen ist ein Schritt weiter getan, den man vor Jahresfrist für unmöglich gehalten hätte, und insofern sind die Opfer, die die See verschlungen, nicht vergebens gewesen. Gespannt darf man ja sein, wie sich die deutsche Seeberufsgenossenschaft zu den neuen Vorschriften stellt. Aus obigen Gesichtspunkten können wir nur wünschen, daß sie dieselben möglichst unverändert auch zu den ihrigen macht.