Titel: | Ueber die Beziehung zwischen der Festigkeit und der strukturellen und chemischen Zusammensetzung der Kohlenstoffstähle. |
Autor: | W. Müller |
Fundstelle: | Band 329, Jahrgang 1914, S. 437 |
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Ueber die Beziehung zwischen der Festigkeit und
der strukturellen und chemischen Zusammensetzung der Kohlenstoffstähle.
Von Dr.-Ing. W. Müller in
Berlin-Karlshorst.
MUELLER: Ueber die Beziehung zwischen der Festigkeit und der
strukturellen usw.
Die frühere ungenügende Kenntnis der Eigenschaften unserer
Konstruktionsmaterialien führte die Fachwelt zu dem damals sehr erklärlichen
Glauben, daß die Festigkeitseigenschaften lediglich von der chemischen
Zusammensetzung der Stoffe abhängen, und es daher ein leichtes sein müsse, diese
mechanischen Eigenschaften im Voraus auf Grund einer chemischen Analyse zu
berechnen.
Viele Forscher versuchten daher zunächst ihr Heil bei dem Kohlenstoffstahl als dem
für die Technik wichtigsten Material. Erst die Einführung der mikroskopischen
Metalluntersuchung machte ein tieferes Eindringen in die Natur der Metalle möglich,
so daß auch nunmehr die Unhaltbarkeit jener Bestrebungen erkannt wurde. Es muß
jedoch anerkannt werden, daß die Annahme eines einfachen gesetzmäßigen
Zusammenhanges zwischen den Festigkeitseigenschaften und der chemischen
Zusammensetzung äußerst fruchtbringend und anregend für die Metallforschung war.
Ohne Zweifel besteht ein solcher Zusammenhang, jedoch kein einfacher, wie früher
angenommen wurde. Die Beziehung dürfte vielmehr äußerst komplizierter Natur sein, da
die Festigkeitseigenschaften außer von der chemischen Beschaffenheit auch noch von
der mechanischen und thermischen Vorbehandlung abhängig sind; ich erinnere unter
anderm nur an den Einfluß der Korngröße sowie der verschiedenartigen Gefügebildner.
Diese durch äußere Einflüsse hervorgerufenen strukturellen Aenderungen lassen sich
teilweise nur sehr schwer zahlenmäßig erfassen, worauf auch die Schwierigkeit ihrer
mathematischen Formulierung beruht. Man hat sich deshalb auch in der Hauptsache
zunächst mit dem völlig erweichten Zustand der verschiedenen Stahlsorten befaßt, da
dieser zu jeder Zeit leicht wieder herzustellen ist, und die Veränderungen durch die
mechanische Vorbehandlung so weit wie möglich vernichtet, d.h. die jeweilige
Stahlsorte in den jungfräulichen Zustand überführt. In wieweit diese Annahme sich
mit den Tatsachen deckt, wird weiter unten erläutert.
Ein weiterer Grund für die Bevorzugung des geglühten Materials ist der Umstand, daß
der Stahl nach dem Ausglühen lediglich aus den bekannten Gefügebildnern Perlit und
Ferrit bzw. Perlit und Cementit besteht, also jeweils eindeutig bestimmt ist,
während z.B. abgeschrecktes Material nicht nur die der Abschreckung entsprechenden
Bestandteile enthält, sondern teilweise auch noch deren Zerfallprodukte, da die
Abschreckung nie momentan, sondern stets nur mit Zeitaufwand erfolgen kann.
Uebrigens würde eins Härtung infolge der thermischen Vorbehandlung nur für Stahl in
Betracht kommen, da bei den „Metallen“ Kupfer, Aluminium, Bronze usw. eine
solche durch Abschreckung nicht eintritt, wie ich auch in einigen ArbeitenMüller, Die
thermische Behandlung der Metalle und ihre Legierungen; Metall und Erz 1913
S. 219.Müller, Ueber das Verhalten der thermisch
vorbehandelten. Metalle und ihrer Legierungen hinsichtlich ihrer Festigkeit.
Zentralblatt der Hütten- und Walzwerke 1913 S.46. dargetan
habe.
Im folgenden will ich nun an Hand der bis jetzt veröffentlichten
Versuchsergebnisse, die in der Literatur sehr zerstreut liegen, die Frage des
Zusammenhanges zwischen den Festigkeitseigenschaften und der strukturellen und
chemischen Zusammensetzung der Kohlenstoffstähle näher beleuchten.
Vom rein metallographischen Standpunkt aus wurde die rechnerische Beziehung in
neuerer Zeit von SauveurSauveur, Die
strukturelle Zusammensetzung und die physikalischen Eigenschaften des
Stahles. Journal of the Franklin Institute 1912 S. 499.
behandelt.
Textabbildung Bd. 329, S. 437
Abb. 1.
Bezeichnet
F freien Ferritgehalt in v. H.
C Gesamtkohlenstoffgehalt in v. H.
im Stahl
P Perlitgehalt in v. H.,
E Kohlenstoffgehalt in v. H. im
Perlit,
Cm
freien Cementitgehalt in v. H.,
D Kohlenstoffgehalt in v. H. im
Cementit,
so bestehen folgende Beziehungen (vergl. Abb. 1):
a) Hypoeutektoider Stahl, d.h. Stahl mit < 0,85 v. H. C.
P + F =
100. . . . . . . .(1)
\frac{E}{100}\,.\,P=C . . . . . . . . .(2)
b) Hypereutectoider Stahl, d.h. Stahl mit > 0,85 v. H. C.
P + Cm= 100. . . . . . . (3)
\frac{E}{100}\,.\,P+\frac{D}{100}\,.\,C_{\mbox{m}}=C . . . .
. . . . (4)
Gleichung (l) und (3) beruhen auf der Tatsache, daß
ausgeglühter Stahl mit
< 0,85 v. H. C aus Perlit und Ferrit,
etwa 0,85 v. H. C aus Perlit,
> 0,85 v. H. C aus Perlit und Cementit besteht.
Gleichung (2) und (4) bedeuten lediglich, daß der
Gesamtkohlenstoff C einerseits nur im Perlit und
anderseits im Perlit und Cementit vorhanden ist.
Der Kohlenstoffgehalt des Perlits beträgt bekanntlich E
= 0,85 v. H., derjenige des Cementits D = 6,67
v. H. Aus obigen Gleichungen ergibt sich für
hypoeutectoiden Stahl P ≌ 120 C: F = 100 – P (5)
hypereutectoiden Stahl
P\,\overset{\infty}{=}\,\frac{800-120\,C}{7}; Cm=100 – P (6)
Unter der Voraussetzung, daß die Einzelbestandteile dem Stahl ihre eigenen
physikalischen Eigenschaften proportional der in ihm vorhandenen Mengen mitteilen,
ergeben sich folgende Beziehungen:
hypoeutectoider Stahl
\sigma_{\mbox{B}}=\frac{\sigma_{\mbox{BF}}\,.\,F+\sigma_{\mbox{BP}}\,.\,P}{100}
. . . . (7)
hypereutectoider Stahl
\sigma_{\mbox{B}}=\frac{\sigma_{\mbox{BP}}\,.\,P+\sigma_{\mbox{BC}_{\mbox{m}}}\,.\,C_{\mbox{m}}}{100}.
. . . (8)
Sauveur setzt für die Festigkeit des
Ferrits σbf
rd.
35
kg/mm2,
Perlits σbp
„
88
„
Cementits \sigma_{\mbox{BC}_{\mbox{m}}}
„
3 – 4
„
(geschätzt).
Diese Werte in die Formeln (7) und (8) eingesetzt, ergibt als
Endwert für die Festigkeit des
hypoeutectoiden Stahles σb ≌ 35 +
63 ∙ C kg/mm2,
hypereutectoiden Stahles σb ≌ 100 –
15 ∙ C
Die Festigkeit der erweichten Kohlenstoffstähle erscheint
mithin als lineare Funktion des Kohlenstoffgehaltes.
Die obigen Gleichungen berücksichtigen nun in der Tat die Wärmebehandlung:, aber nur
bis zu einem gewissen Grade. Sie bestehen nur für völlig erweichtes Material;
eine genauere Berücksichtigung der thermischen Behandlung gestatten sie nicht,
ebenso wie sie auch die mechanische Vorbehandlung außer Betracht lassen.
Im Gegensatz zu obiger metallographischer Berechnung steht diejenige auf rein
chemischer Grundlage. Als Beispiele mögen einige Formeln angeführt sein. (s. Tab.
1.)
Wie man sieht, wurde zuerst nur der Kohlenstoffgehalt berücksichtigt, erst später,
als die Forschung auch die Einflüsse der anderen Bestandteile klarlegte, wurden auch
diese sowie die Herstellungsart mit einbezogen.
JüptnerJüptner, Grundzüge der Siederologie.Jüptner, Beziehungen zwischen chemischer
Zusammensetzung des Stahles und seinen mechanischen Eigenschaften. Stahl und
Eisen 1900, S 939. stellte seine Formel unter der Annahme auf,
daß der Einfluß geringer Beimengungen für gleiche Atommengen aller dieser Stoffe
gleich ist, welche Voraussetzung sich auf das Verhalten verdünnter Lösung stützt. Um
die thermische und mechanische Vorbehandlung sowie den Gehalt an anderen
Begleitstoffen, z.B. Schwefel und Sauerstoff zu berücksichtigen, führt er die
Konstante A ein.
In Abb. 2 habe ich die in den letzten Jahren
gewonnenen Versuchsergebnisse zusammengetragen. Es zeigte sich hierbei wieder, daß
eine Verarbeitung der Resultate vieler Forscher nach anderer Richtung hin durch
mangelhafte Angaben zahlreicher Versuchsdaten wie z.B. der Glühtemperatur,
Glühdauer, Abkühlungsgeschwindigkeit usw. äußerst erschwert ist. Es wird leider
vielfach der Zweck genauer Angaben auch nebensächlicher Umstände verkannt, und diese
werden nur als unnötiger Ballast einer Arbeit angesehen. In Abb. 2 wurden nun lediglich die Werte für die
Festigkeit σb und
Streckgrenze σS
eingetragen und zwar für den ausgeglühten und abgeschreckten Zustand. Auf die
Dehnungswerte wurde verzichtet, da dieselben infolge der verschiedenen Art ihrer
Messung sowie der oft willkürlich gewählten Meßlängen keine sichere Beurteilung
zulassen und daher miteinander nicht ohne weiteres zu vergleichen sind.
Aus Abb. 2 erkennt man, daß die Festigkeit und die
Streckgrenze der Stähle sowohl im ausgeglühten wie auch abgeschreckten Zustand bei
etwa 0,8 v. H. Kohlenstoff
Tabelle 1.
Forscher
Material
Formel
Bauschinger
Bessemerstahl
σB kg/mm2 = 43,6 (1 + C2)
Weyrauch
–
σB „ = 44,2 (1 + C)
Thurston
–
σB „ = 35,3 + 42,3 ∙ C
Osmond
Martinstahl
σB t/cm2 = 2,6 + 4,6 C +
2,8 Mn + 1,1 Si + 6,5 P
Demange
Bessemerstahl
σB
„ = 2,44 + 5,62 ∙ C + 1,91 ∙ Mn – 1,04 ∙ Mn2 + f(C) P +
3,25 S
do.
Martinstahl
σB
„ = 2,29 + 5,62 ∙ C + 1,91 ∙ Mn – 1,04 ∙ Mn2 + f(C) P +
3,52 S
in den letzten beiden Gleichungen ist f(C) = 105,4 für C = 0,15 bzw. 0,25 v. H. f(C)
= 702,2 ∙ C für C = 0,08 bzw. 0,15 v. H.f(C) = 56,2 für C
= 0,06 bzw. 0,08 v. H.
Jüptner
–
σB
„
=A+\frac{20}{3}\,C+\frac{20}{7}\,Si+\frac{10}{7}\,Mn
einen Höchstwert erreicht. Die Stähle mit diesem
Kohlenstoffgehalt sind aber in völlig erweichtem Zustand rein perlitisch, wie aus
Abb. 1 hervorgeht; diese Stähle sind also
relativ homogen. Der Perlitgehalt nimmt für die hypoeutectoiden Stähle linear
mit dem Kohlenstoffgehalt zu.
Textabbildung Bd. 329, S. 439
Abb. 2.
Zeichen; Forscher; Literatur;
Rudeloff; Mitt. Kgl. Mat.-Prüf.-Anst. 1889, 1890, 1891; Joisten; Diss. Aachen
1911; Eichhoff; Stahl und Eisen 1903; Arnold Engineering 1897; Minutes of
Proceed 1896; Harbord; Metallurgie 1907; Mc. William u. Barnes; Iron and Steel
1909; Andrews; Iron Age 1906; Campbell; Iron and Steel 1903; Franklin-Inst.
1904; Metallurgie 1906; Wawrziniok; Metallurgie 1907; Hanemann u. Jung; Stahl
und Eisen 1911; Diss. Berlin 1911; Brunton Metallurgie 1906; Charpy; Bull, de la
Soc. d'euc. 1895; Brinell; Iron and Steel 1901; Pütz; Stahl und Eisen 1906.
hypoeutectoiden Stähle nimmt also proportional dem Perlitgehalt zu. Es bietet
das ja auch kaum eine Ueberraschung, da der Ferrit weich, der Perlit dagegen infolge
seines strukturellen schichtenweisen Aufbaues aus Ferrit und Cementit hart ist.
Abb. 2 läßt auch erkennen, wie weit die einzelnen
Berechnungsformeln sich den tatsächlichen Verhältnissen nähern.
Ueberschreitet der Kohlenstoff einen Gehalt von etwa 0,8 v. H., d.h. gehen wir zu den
hypereutectoiden Stählen über, so nimmt hier die Festigkeit und Streckgrenze wieder
ab. Jetzt nimmt der sehr harte Cementit einen mit dem Kohlenstoffgehalt wachsenden
Anteil an dem Aufbau des geglühten Stahles. Nur noch die metallographische
Berechnungsweise versucht für diese Stähle eine Vorausbestimmung der Festigkeit.
Hierbei ist nun auffällig, daß sämtliche ermittelten Festigkeilswerte zum größten
Teil beträchtlich unterhalb dieser Linie liegen.
Die Sauveursche Gleichung σb = 100 – 15 ∙ C beruht zwar lediglich
auf der Voraussetzung, daß die Festigkeit des reinen Cementits etwa 3 bis 4 kg/mm2 ist, welcher Wert bis jetzt noch nicht
experimentell ermittelt werden konnte. Die tatsächliche Abweichung der gefundenen
Werte dürfte ihren Grund aber wohl zunächst in der Tatsache haben, daß bei der
Ausglühung der hochgekohlten Stähle eine teilweise Entkohlung stattfindet, während
die Sauveur sehe Linie also den annähernden theoretischen
Verlauf darstellt.
Die Ergebnisse der Tabelle erwecken den Anschein, als wenn die Festigkeit und
Streckgrenze bis zu einem gewissen Betrage abnimmt, um von da an (bei etwa 1,2 v. H.
C) konstant zu bleiben. Ganz ähnlich den
ausgeglühten Stählen verhalten sich die abgeschreckten; bei etwa 0,8 v. H. C erreichen auch diese einen Höchstwert; bei weiterer
Kohlenstoffsteigerung sinkt die Festigkeit wieder ab.
Bildet man das Verhältnis
\frac{\sigma_{\mbox{S}}}{\sigma_{\mbox{B}}}, so erhält man im
Mittel für
ausgeglühte Stähle etwa 0,58abgeschreckte Stähle etwa 0,61
Mittel 0,6
Dieser Wert besteht jedoch nicht mehr für die abgeschreckten hypereutectoiden
Stähle, da diese zu spröde werden, so daß eine Streckgrenze für sie nicht mehr
existiert.
Bei dem Vergleich der einzelnen Werte gleichen Kohlenstoffgehaltes sind in erster
Linie die großen Unterschiede bemerkenswert. Dieses Auseinandergehen der
Versuchsergebnisse der einzelnen Forscher beruht nun zum Teil in der verschiedenen
chemischen Zusammensetzung hinsichtlich des Mangan- und Siliziumgehalts.
ThurstonSchmitz, Verh. des Vereins z Beförd. des
Gewerbfleißes 1903 S.243 ff. schreibt dem Mangan eine
Festigkeitssteigerung zu, die etwa 20 v. H. der durch eine gleiche Menge Kohlenstoff
hervorgerufenen beträgt, während StadelerSt ad er, Stahl und Eisen 1913 S.
2030. auf 0,10 v. H. Mn rund 1,4
kg/mm2 Festigkeitserhöhung rechnet.
Dieser Einfluß des Mangan und Silizium läßt sich an den Zahlen der Forscher nicht
regelmäßig verfolgen; es wurde deshalb auf den Gehalt dieser Beimengungen keine
Rücksicht genommen, zumal der Einfluß infolge der mechanischen und thermischen
Vorbehandlung denjenigen der Fremdstoffe teilweise bei weitem überragt. Die
mechanische Vorbehandlung erstreckt sich auf die Bearbeitung durch Walzen, Ziehen,
Hämmern usw., während die thermische Behandlung nicht allein die Zwischenglühungen
bei der Bearbeitung, sondern vor allen Dingen auch das letzte Ausglühen der Proben
umfaßt. Hierbei ist zu beachten, daß eine Abkühlung an der Luft zur Erlangung des
jungfräulichen Materials oft noch zu schnell vor sich geht, so daß der Zerfall des
Martensits nicht vollständig in Perlit erfolgt, sondern ein sorbitisches Gefüge
entsteht.
Auf Grund der Versuchsergebnisse kann die Frage des Zusammenhanges der Festigkeit mit
dem strukturellen und chemischen Aufbau der Stähle noch nicht als völlig geklärt
angesehen werden.