Titel: | Anwendung eines Satzes der projektiven Geometrie auf die Lenkung von Automobilen. |
Autor: | C. Veithen |
Fundstelle: | Band 333, Jahrgang 1918, S. 9 |
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Anwendung eines Satzes der projektiven Geometrie
auf die Lenkung von Automobilen.
Von C. Veithen, zurzeit
Berlin.
[VEITHEN: Anwendung eines Satzes der projektiven Geometrie auf die
Lenkung von Automobilen.]
Betrachten wir einen vierrädrigen Wagen, der auf wagrechtem, ebenem Boden
fortbewegt wird. Wir sagen, der Wagen ist dann und nur dann richtig gelenkt, wenn
seine Räder auf dem Boden nur rollen, ohne zu gleiten. Es tut der Allgemeinheit
keinen Abbruch, wenn wir die vier Räder gleich groß annehmen.
Damit der Wagen richtig gelenkt sei, sind zwei Bedingungen notwendig und
hinreichend:
1. Die Achsen der vier Räder müssen in jedem Augenblick durch einen einzigen Punkt
hindurchgehen, den wir den augenblicklichen Drehpunkt des Wagens nennen.
2. Jedes Rad muß eine derartige Freiheit der Drehung um seine Achse besitzen, daß es
der jeweiligen Drehung des Wagens um seine augenblickliche Drehachse Folge leisten
kann, ohne auf dem Boden zu gleiten.
Textabbildung Bd. 333, S. 9
Abb. 1.
Betrachten wir zum Beispiel einen gewöhnlichen Deichselwagen (Abb. 1.). Die beiden Hinterräder R1, R2 sind an einem zum
Wagengestell W festen Achsbaum A drehbar angebracht. Die beiden Vorderräder R3, R4 sind an einem Achsbaum B drehbar angebracht, der sich vermittels der Deichsel D um einen zum Wagengestell festen Zapfen Z schwenken läßt. Die Bedingung 1 ist offenbar stets
erfüllt. Ferner ist jedes Rad unabhängig: von den
anderen frei um seine Achse drehbar. Die Bedingung 2 ist also auch stets erfüllt.
Der Wagen ist richtig gelenkt.
Bei einem Automobil moderner Konstruktion liegen die Verhältnisse verwickelter. Sie
sind in Abb. 2 schematisch dargestellt. Die beiden
Hinterräder R1 und R2 sitzen fest auf den
Enden von je zwei Wellen W1 und W2, die
vermittels des Differentialgetriebes miteinander gekuppelt sind. Die Wellen
laufen in zum Wagengestell festen Achslagern so, daß die eine die Verlängerung der
anderen bildet. Auf die eine Welle, etwa W1, wirkt der Antrieb des Motors. Die beiden
Vorderräder sind in sogleich zu beschreibender Weise so angebracht, daß sie um ihre
Achsen vollkommen frei drehbar sind.
Durch diesen Umstand und durch die Zwischenschaltung des Differentialgetriebes
zwischen die Achsen der beiden Hinterräder wird erreicht, daß die Bedingung 2 stets
erfüllt ist. Es kommt also nur noch darauf an, die Bedingung 1 zu erfüllen, d.h. die
Achsen der beiden Vorderräder so zu lenken, daß ihre: Schnittpunkte mit der Achse
der Hinterräder stets zusammenfallen.
Textabbildung Bd. 333, S. 9
Abb. 2.
Die Automobilbauer haben zu diesem Zweck die folgende Näherungskonstruktion
ausgeführt (Abb. 2).
Symmetrisch zur Längsachse L des Wagens sind an dem
vorderen Teil des Wagengestells zwei feste Zapfen Z3 und Z4 angebracht. Um diese schwenken zwei nahezu
rechtwinklig gebogene symmetrisch gleiche Achsschenkel A3Z3B3 und A4Z4B4. Auf den Enden A3 und A4 derselben sitzen die beiden Vorderräder des Wagens
vollkommen frei drehbar. Die anderen Enden B3 und B4 sind zu Zapfen – ausgebildet und durch eine Stange
B3B4 miteinander
verbunden. Die beiden Winkel ∡ A3Z3B3 und ∡ A4Z4B4 sind einander gleich und gleich 90° + α, wo α einen geeigneten
kleinen positiven Winkel bedeutet. Die beiden Vorderräder sind also durch den
Gelenkmechanismus A3Z3B3B4Z4A4 miteinander
verbunden, der so angeordnet ist, daß eine zur Längsachse L symmetrische Lage desselben existiert, bei der die Vorderräder einander
parallel und B3B4 parallel zu Z3Z4 ist. An irgend einem
geeigneten Punkt des Gelenkmechanismus greift das Steuerrad des Wagens an, wodurch
die Lenkung der Vorderräder erfolgt. Wäre α = 0, so
wären die Vorderräder in jeder Stellung zueinander parallel Dadurch, daß man α einen geeigneten kleinen positiven Wert gibt, wird
erreicht, daß beim Befahren einer Kurve das innere Vorderrad etwas stärker
herumgeschwenkt wird als das äußere.
Textabbildung Bd. 333, S. 10
Abb. 3.
Natürlich kann bei dieser Anordnung die Bedingung 1 nicht für alle Stellungen der
Vorderräder streng erfüllt sein. Der Schnittpunkt der Vorderradachsen wird eine
Kurve beschreiben, die nicht eine mit der Hinterradachse zusammenfallende Gerade
ist. Der Winkel α muß so gewählt werden, daß diese
Kurve in dem in Betracht kommenden Schwenkungsbereich wenigstens so nahe wie möglich
mit der Hinterradachse zusammenfällt.
Ich will nun eine einfache Anordnung angeben, durch welche die Vorderräder so gelenkt
werden, daß die Bedingung 1 stets streng erfüllt ist.
Am Wagengestell sind symmetrisch zur Längsachse L
(Abb. 3) zwei geradlinige Führungsnuten a3 und a4 angebracht, deren
Leitlinien sich auf der Mitte M der Hinterachse
schneiden, und in denen sich zwei Zapfen C3 und C4 bewegen. Ebenfalls symmetrisch zu L befinden sich fest am Wagengestell zwei Zapfen Z3 und Z4, um welche die
Achsschenkel schwenken. Diese sind nun nicht gebogen, sondern stellen geradlinige
Hebel dar, deren äußere Arme die Vorderräder R3 und R4 tragen, während die inneren Arme in Gabeln enden,
welche die beweglichen Zapfen C3 und C4 umfassen. In der Mitte der Verbindungslinie Z3Z4 ist ein weiterer
Zapfen Zm am
Wagengestell befestigt, um den ein geradliniger und gleicharmiger Hebel H schwenkt. Dessen Arme enden wieder in Gabeln, welche
die Zapfen C3 und C4 umfassen.
Durch den soeben beschriebenen Mechanismus sind nun die beiden Vorderräder so
miteinander verbunden, daß die Verlängerungen der Achsschenkel C3Z3 und C4Z4 sich stets auf der
Hinterachse des Wagens schneiden. Der Wagen ist also richtig gelenkt.
Die Richtigkeit dieser Behauptung wird durch folgenden leicht zu beweisenden Satz der
projektiven Geometrie dargetan:
Werden zwei perspektivePunktreihen von je einemPunkte aus
projiziert, derenVerbindungslinie durch dasPerspektivitätszentrum
derbeiden Punktreihen geht, soentstehen in den beidenPunkten
zwei perspektiveStrahlenbüschel, deren Perspektivitätsachse durch
dengemeinsamen Punkt der bei-den Punktreihen geht.
Werden zwei PerspektiveStrahlenbüschel von je einerGeraden
geschnitten, derenSchnittpunkt auf der Per-spektivitätsachse der
Büschelliegt, so entstehen auf denGeraden zwei
PerspektivePunktreihen, deren Perspek-tivitätszentrum auf dem
ge-meinsamen Strahl der beidenStrahlenbüschel liegt,
Betrachten wir den Satz zur Linken. Die beiden Perspektiven Punktreihen sind in Abb. 3 dargestellt durch die beiden Führungen a3 und a4, ihr
Perspektivitätszentrum durch den Zapfen Zm. Diese Punktreihen werden von den Zapfen Z3 und Z4 aus projiziert. Die
beiden Achsschenkel beschreiben die Strahlenbüschel, deren Perspektivitätsachse die
Hinterachse des Wagens bildet.