Titel: Ein Halbjahrhundert Alpengeologie.
Autor: W. Landgraeber
Fundstelle: Band 340, Jahrgang 1925, S. 231
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Ein Halbjahrhundert Alpengeologie. Von W. Landgraeber. LANDGRAEBER, Ein Halbjahrhundert Alpengeologie. Seit der Aufrichtung der Alpen dürften schätzungsweise mehrere Millionen Jahre verflossen sein. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Mensch am Ende des känozoïschen Zeitalters, in das man sein erstes Auftreten auf der Erde verlegt, den Schlußakt des imposanten Schauspieles der Hebung noch miterlebt hat. Trotzdem im Menschen heute wie vor vielen tausend Jahren der ewige Drang lebt, in die Höhe, die Tiefe und Weite zu dringen, und trotzdem sich die Menschen seit den Anfängen geistigen Lebens mit dem Problem des Werdens der Erde mühen, ist das Problem der Alpiengeologie kaum mehr als ein Halbjahrhundert alt. Geologische Untersuchungen gehören zu den schwierigsten Arbeiten der Naturwissenschaft. Religion und Philosophie haben zwar schon seit Jahrhunderten das engere Problem der Entstehung und Gestaltung der Erde zu lösen versucht. Es entstanden hierüber allenthalben überraschende Vorstellungen und Werke. Sie haben jedoch der fortschreitenden Entwicklung des menschlichen Geistes weichen müssen. Die ersten Theorien über den Bau der Erde hatten viel Phantastisches an sich. Ueber die geologischen Verhältnisse der Alpen gab es bis zum Jahre 1875 überhaupt nur Einzeldarstellungen. Die erste zusammenfassende Beschreibung stammt von dem Großmeister geologischer Wissenschaften, Eduard Suess, bekannt durch das später erschienene monumentale Werk „Das Antlitz der Erde“. In dem kleinen Buch „Die Entstehung der Alpen“ (1875) legt dieser Genius die Grundlinien für die Entstehung des kompliziert gebauten, stolzen Hochgebirges nach den damaligen Ansichten erstmalig zusammenfassend nieder. Schon frühzeitig war erkannt worden, daß die Alpen ein Faltengebirge sind. Aber erst in entsagungsvoller Kleinarbeit gelang es, tiefer in das Geheimnis dieses Welträtsels einigermaßen einzudringen. Eine Unzahl Einzelprobleme mußten erst gelöst werden und zahllose Unter- und Zwischenfragen begleiten heute noch das geologische Alpenproblem. Anfänglich sah man dieses stolze Gebirge als ein einheitliches, durch unterirdische Gewalten aufgetürmtes, geotektonisches Gebilde an. Vulkanische Kräfte sollten die Zentralzone und die Kalkalpen im Norden und Süden herausgehoben haben. Der bekannte Geologe v. Gümbel schrieb unter diesen Gesichtspunkten ein Werk über den oberbayerischen Teil der Ostalpen. Eduard Sueß erkannte bereits den einseitigen Bau des Alpenkörpers und vertrat die Ansicht, daß dieser von Süd nach Nord gegen das nördliche Vorland hingedrängt, an den alten Massiven des Schwarzwaldes und Böhmerwaldes gestaut und in Falten gelegt worden sei. Dagegen verfocht Rothpletz die extreme Anschauung, daß große Ueberschiebungen in ostwestlicher Richtung vorliegen und ein erheblicher Teil der Alpen als wurzellose Schubmasse um 30 bis 40 Kilometer von Ost nach West auf ihre jetzige Unterlage als ortsfremde Klötze verfrachtet worden sein müsse. Obwohl diese Ansicht, wie überhaupt alle bisherigen, anfechtbar war, hatte sie doch einen bestimmten Erfolg, nämlich den, daß sie unter den alpinen Geologen die Ueberzeugung vertiefte, daß die Faltensysteme und die Schubmassen nicht nur von einseitig wirkenden Druckkräften herrühren konnten. Vielmehr seien mehrfache und mehrseitige Schübe und Ueberfaltungen anzunehmen. Zwischen Rothpletz und dem Züricher Altmeister Albert Heim kam es alsbald zu einem jahrelangen erbitterten wissenschaftlichen Kampf über den Bewegungsmechanismus der Alpen. Abgebrochen wurde er durch das Aufsuchen der geradezu revolutionierend wirkenden Deckentheorie, die nunmehr das Problem der Alpengeologie wurde. Ihr zufolge sollten die gesamten nördlichen Gesteinsmassen gleich kommenden Wogen weit aus Süden über die Zentralalpen hinweg herübergedrungen sein. Die Breite der Ueberschiebungsdecken sollten nach Heim zwischen 5 bis 180 Kilometer schwanken. Ihre Breite soll ein 30- bis 40-faches Ausmaß erreichen. Fünf derartiger bodenfremder Ueberschiebungsdecken werden nach Heim außer dem Zentralmassiv und für den Aufbau der Alpen angenommen. Das Zentralmassiv und das Liegende der Decken ist autochthonen Ursprungs. Die einzelnen Decken werden mit dem Namen Helvetiden, Penniden, Grisoniden, Tiroliden und Dinariden belegt. Die Deckfalten sollen bis 100 km unter den Meeresspiegel hinabreichen und Höhen bis zu 30 km über dem Meeres, spiegel erklommen haben. Diese geniale Deckenlehre, die nach Heim heute nicht mehr eine Theorie bildet, sondern als eine Zusammenfassung von Beobachtungstatsachen anzusehen sei, hat viele Anhänger, aber auch ebensoviele Gegner gefunden. Sueß und Steinmann sowie die Schweizer Geologen wandten sich ihr mit Eifer zu, während andere wissenschaftliche Richtungen der Alpenforschung entweder nur zögernd oder skeptisch an sie herantreten. Nach und nach zeigte sich, daß sie wohl für die Westalpen, aber nicht für die Ostalpen eine unbedingte Erklärung bot. Zweifellos war sie aber für die Ostalpenforschung insofern von erheblicher Bedeutung, als sie den Anstoß für eine neue Art des Forschens bedingte, wobei sich Ergebnisse zeigten, die man ohne sie kaum erkannt haben würde. Spätere Spezialarbeiten von Ampferer und Hammer und eine großzügig darstellende Zusammenfassung von F. Hahn ergaben, daß im Ostalpenkörper selbst zweifellos größere deckenartige, überschobene Massen vorhanden sind. Früher hatte man sie als Ueberschiebungen angesehen und nicht als Ueberlagerungen erkannt. Ost- und Westalpen gehören demnach auf das engste zusammen. In tektonischem Sinne stellen sie eine Einheit dar. Nun noch einige Worte über den zeitlichen Ablauf der Entstehung der Alpen. Auch sie hat erhebliche Fortschritte erfahren. Nach einer neueren Ansicht sind die Alpen am Ende des Känozoikums, dem jüngsten der fünf Abschnitte der Erdgeschichte aufgefaltet worden. Es ist ungefähr die Zeit, in der der Mensch auf der Erde erscheint. Eine frühere Meinung verlegt ihre Aufrichtung in die letzte Hälfte des Känozoikums und nimmt einen einheitlichen Bewegungsprozeß und in verhältnismäßig kurzer Zeit an. Noch vor wenigen Jahren glaubte man, daß die Alpenbildung schon im Erdmittelalter ihren Anfang nahm, und in mehreren, nicht nur zeitlich, sondern teilweise auch örtlich verschiedenartigen Phasen verlief. Durch Abtragung und Versinken unter dem Meeresspiegel sind die Uralpen wieder verschwunden. Man folgert dieses daraus, daß andere Faltengebirge jener urfernen Zeit und deren Wurzeln in Spanien, Frankreich, Belgien und Thüringen gefunden wurden. Im wesentlichen stellt sich der Alpenkörper nach den vorbeschriebenen Ansichten als ein durch einen von Süden nach Norden wirkenden Druck bewegtes Stück Erdkruste dar, die im einzelnen eine kaum übersehbare und noch nicht entwirrte Mannigfaltigkeit an Auspressungen, Durchbiegungen, Durchpressungen,Deckenschübe und Ueberfaltungen in sich bergen. Schließlich sei noch der Herausarbeitung des heutigen Reliefs gedacht, das doch offenbar von der inneren Gesteinsstruktur abhängig ist. Ueber diese Fragen haben sich in letzter Zeit wichtige Wandlungen vollzogen, nachdem man auch hierüber früher viel zu einfache Vorstellungen hatte. Allgemein fällt die weitgehende Abtragung und Zerstörung durch Verwitterung u.a.m. auf. Nach Heim beläuft sich die Abtragung der Alpendecken im Norden auf einige tausend Meter. Im Mittel beträgt sie 5- bis 20000 Meter und im Maximum sogar 50000 m. Manchenorts ist nichts mehr von der vermutlichen ehemaligen hochaufragenden Form zu sehen. Viele Hochgebirgspartien erweisen sich nur noch als Bergruinen, stehengebliebene Klötze ehemals weithin zusammenhängender und jetzt verschwundener Erdkrustenteile, in die die Täler hinein-geschnitten sind. Alte Talböden in den Höhen, plötzlich an einem Steilrand abgeschnitten, oft ohne ersichtlichen Anfang, breite tragförmige Wannen mit flachem, bogenförmig zu den Seitenwänden ansteigendem Grund, V-förmige Täler, mächtige Schutthalden und Schuttkegel aus dem zerstörten und herabgerollten Steinmaterial sind alles Produkte der Verwitterung und der von den Bergen abrinnenden Wässer oder Ablagerungen der Eiszeit, Gletschermoränen und Schotterdecken. Nach den neueren Problemen der Alpenforschung haben auch sie das Relief des Alpenkörpers selbst so weitgehend verändert, daß dieses jetzt von den Eiszeitwirkungen mindestens ebensosehr bestimmt erscheint, wie von dem tektonischen Aufbau selbst. Kurz zusammenfassend sei erwähnt: Wahrscheinlich bestand in den Zentralalpen und den Südostalpen im Paläozoikum ein Land, von alpinem, gestörtem und gefaltetem Charakter. Der alpine Sammeltrog, aus dem die Alpen geworden sind, war wahrscheinlich eine Meereswanne, die im Norden etwa in der Gegend des heutigen Alpenrandes ihre Begrenzung hatte. Eine aus Böhmen herüberziehende alte Landeszunge aus Urgebirgsgestein erstreckte sich vermutlich durch die Bodenseegegend mit Unterbrechungen bis nach Korsika hinunter und griff vielleicht auch mit einzelnen Ausläufern oder überhaupt mit ihrem Südstreifen in die Region des heutigen Alpenkörpers ein. Reste derselben sind noch allenthalben aufzufinden. Im Erdmittelalter sank der allergrößte Teil der alten Alpenregion unter den Meeresspiegel. Es bildeten sich die Gesteine der heutigen Süd- und Nordalpen. In der Zentralzone ragten manchenorts Inseln heraus. Hebung des Meeresboden und erneute Meeresbedeckung in Wechselwirkung fanden bereits gegen Ende des Erdmittelalters statt. Es kam dabei zur Entwicklung der geotektonischen Hauptlinien der Ostalpen. Noch heute sind diese für das Gesicht des Alpenkörpers von ausschlaggebender Bedeutung. In der zweiten Hälfte des Känozoikums setzte eine grandiose Fällung ein, deren Ergebnis die Großfalten, Decken, Ueberfaltungen, Ueberschiebungen und Hauptbruchlinien waren, wie wir sie heute wahrnehmen. Das vindelezinische Vorland wurde dabei von den Kalkalpen überschoben. Mit dem Zeitpunkt der Heraushebung setzte gleichzeitig eine neue weitausgreifende Abtragung durch die Atmosphärilien, wahrscheinlich bis zur Einebnung des hohen Alpenrumpfes, sogar bis zum Mittelgebirgscharakter ein. Weitgehende Absenkungen des Vorlandes haben später zu einer neuen Zerstückelung unter gleichzeitiger Hebung des Alpenrumpfes geführt. Das Eiszeitalter vollendete im Anschluß hieran das Antlitz zu dem, wie sich dieses Gebirge im wesentlichen heute zeigt. Im Gegensatz zu den Vertretern der Deckentheorie vertritt Geheimrat Seidl neuerdings den Standpunkt, daß hinsichtlich des Emportauchens, Reifens und der Struktur bei dem Alpenkörper ähnliche Phänomen in analoger Weise in Frage kommen, wie solche an den Durchspießungszonen der Salzhorste in Norddeutschland zu beobachten sind. Als Grundlage für diese Anschauung führt er Beobachtungen an dem gemischtplastischen Schichtenverband der alpinen Salzlagerstätten von Hallstadt, Ischl, Aussee, Hall, Berchtesgaden u.a.m. an und behauptet, die Alpen sind ein Durchspießungsphänomen. Geradezu eine wissenschaftliche Sensation war die Mitteilung von Professor Penk auf dem Naturforschertag in Innsbruck 1924 in seinem Vortrag über das Antlitz der Alpen, in dem er die Behauptung aufstellte, daß die Alpen noch immer in Bildung und aufsteigender Entwicklung begriffen wären und ein Gebirge seien, in dem der Schöpfungsprozeß in vollem Gange sei. Anhaltspunkte für eine nacheiszeitliche Hebung hat Penk ringsum die Alpen herum entdeckt. Somit sind nach der neuesten Anschauung im Gegensatz zu der bisher herrschenden Ansicht über die Geologie der Alpen diese weder ein intaktes, durch Krustenbewegungen und Zusammenfaltungen geschaffenes emporgehobenes Gebäude, noch eine Ruine, die unrettbar der Zerstörung anheimgefallen ist, sondern ein erst in der jüngsten geologischen Zeit senkrecht gehobenes Gebirge, das in aufsteigender Entwicklung mit steigender Intensität frühere Bewegungen fortsetzt. Penk faßt seine Forschungen folgendermaßen zusammen: Die Erdkruste ist auch heute noch ein unruhiger, wenig fester und schwankender Boden. Ein größerer auf sieausgeübter Druck preßt sie zusammen. Die Eisdecke, die während der Eiszeit auf Nordeuropa lag, war etwa 1000 Meter stark, entsprechend einem Druck von rund 700 bis 800 Tonnen auf dem Quadratmeter Boden. Nach dem Verschwinden der Eismassen mußte naturgemäß wieder die Gegenwirkung, d.h. Hebung, eintreten. Penk nimmt nun an, daß diese Hebung der Alpen noch nicht abgeschlossen ist. Einschneidendere Bedeutung wird neuerdings dem Erdbeben und seinen Folgen, dessen Ausdehnung geradezu ungeheuer ist, zugeschrieben. Jede Erschütterung ist ein Anzeichen einer Aenderung. Versenkungen, Spaltungen der Felswände, Bergstürze, ferner Emporsteigen ganzer Berge, bieten im steten Gegeneinanderwirken von Hebung und Abtragung ein Mienenspiel, das dem Studium des Antlitzes der Alpen hohe Reize verleiht. Durch neuere Messungen am bekannten Wendelstein ist festgestellt, daß dieser seit 30 Jahren um einige Meter höher geworden ist und sich obendrein in der Richtung nach München verschoben hat. Nach Penk sollen die Alpen einst eine Hochebene gewesen sein. Die Täler sind bereits vor der Eiszeit von Wasser ausgefressen worden. Stehengeblieben sind nur die Schrofen und Schneiden. Letztere sind geomorphologisch nur vorübergehende junge Erscheinungen im Alpenrelief und außerdem an den Stellen entstanden, wo sich das Gebirge rasch gehoben hat und sich noch in Hebung befindet. Was nun das zukünftige Schicksal der Alpen betrifft, so hat sich auch hiermit die Wissenschaft beschäftigt und berechnet, daß infolge der nivellierenden, unterwühlenden und abtragenden Kräfte der Atmosphärilien und des Wassers der letzte Felsblock der stolzen Alpen in etwa 10 Millionen Jahren zu Sand und Staub zermalmt und im Meere versunken sein wird.