Titel: Industrie und Wissenschaft.
Autor: H. Kalpers
Fundstelle: Band 342, Jahrgang 1927, S. 109
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Industrie und Wissenschaft. Von Dr.-Ing. H. Kalpers. KALPERS, Industrie und Wissenschaft. Höchstleistungen der verschiedensten Industriezweige sind bisher nur möglich gewesen und werden es in Zukunft auch nur sein, einerseits wenn die Industrie es versteht, aus den theoretischen und theoretisch-experimentellen Arbeiten der Wissenschaft Nutzen zu ziehen und sie zu wirtschaftlichem Erfolg auf die industrielle Praxis zu übertragen, andererseits wenn aber auch die Wissenschaft nicht nur stets im laufenden über den jeweiligen Stand der praktischen Technik und ihrer Bedürfnisse ist, sondern auch Problemen nachgeht, deren Lösung wirtschaftliche Vorteile für die Industrie und das Volksvermögen zu bringen verspricht. Um diesem Ziel mit Erfolg näherzukommen, wird es zunächst nötig sein, wenn Industrie und Wissenschaft sich über das Wesen der Technik im klaren sind. Welches ist der Zweck der Technik? Der Wesenspunkt der technischen Arbeit liegt darin, aus vorhandenen Stoffen und Kräften planmäßig, d.h. nach geistiger wissenschaftlicher Vorbereitung neue wirtschaftliche Werte zu schaffen, die dazu beitragen und dienen sollen, den Kulturstand der Menschheit zu reinigen und zu erhöhen. Industrie und Wirtschaft sind aufs engste miteinander verknüpft und arbeiten auf den günstigsten Wirkungsgrad hin, d.h. auf das vorteilhafteste Verhältnis von Einbringen zum Ausbringen, vom Aufwand zur tatsächlichen Leistung. Ein bestimmtes endgültiges, vorher zu ahnendes Ziel gibt es für die Technik nicht; ihr Streben ist in die Unendlichkeit gerichtet, in die unbegrenzt erscheinende Verbesserung des Jeweiligen. Das heute als vollkommen Geltende ist schon morgen vielleicht überholt. Der Sinn der Technik ist die Zukunft, die zukünftige Lösung von Problemen, die zwar vorhanden sind, aber erst aufgedeckt, erfunden oder richtiger aufgefungen werden sollen und zu deren Bewältigung der menschliche Geist und die Wissenschaft hervorragenden Anteil zu nehmen berufen sind. Das Verhältnis von Industrie zur Wissenschaft ist zu allen Zeiten und bei allen Völkern nicht immer gleich gewesen. Die Technik ist älter als die Wissenschaft, und zwar gilt dies für die meisten industriellen Gebiete. Ein kennzeichnendes Beispiel bietet die Metalltechnik, wie sie von den Naturvölkern ausgeübt worden ist und bei den Afrikanegern z.B. heute noch ausgeübt wird, bei denen man doch wohl kaum von einer Wissenschaft sprechen kann. Diese Naturvölker haben es fertig gebracht, Eisen, Kupfer, Gold, Silber usw. aus ihren Erzen zu gewinnen, Waffen zu schmieden und Häuser zu bauen. Während die alten lateinischen und griechischen Schriftsteller uns bis in die Einzelheiten gehende Geschichtsbeschreibungen und philosophische Betrachtungen hinterlassen haben, wissen wir von dem jeweiligen Stand der Technik zu diesen Zeiten gar wenig, ein Zeichen, daß die technische Wissenschaft eine damals nur untergeordnete Rolle gespielt haben muß, während die ausübende Technik vorhanden war; den Beweis liefern die verschiedenen Zeitalter, wie das Bronze-und das Eisenzeitalter, dann die für die vielen Kriege benötigten Waffen, die Hausgeräte usw. Die ausübende Industrie hat denn auch lange, vielleicht zu lange in dem Bewußtsein verharrt, die erschafften Werte rührten nur von ihr her und seien auch ohne Theorie und Wissenschaft genügend erringbar. Mit der Zunahme der Bevölkerung aber stiegen die Ansprüche, stieg der Konkurrenzkampf; das bis dahin vom Vater ererbte „Geheimnis“ genügte nicht mehr den Anforderungen und bald war auch der Augenblick gekommen, wo die Wissenschaft zu Ehren kam, wo man einsah, daß die bisherigen rein willkürlichen Fertigungsverfahren auf die Dauer nicht mehr befriedigen konnten und daß höhere Werte nur durch neue schöpferische Gedankengänge zu verwirklichen seien. Wenn sich auch heute noch die einen oder anderen Industrievertreter der Wissenschaft abhold zeigen, so stehen diese wohl vereinzelt da. Unsere maßgebenden Industriezweige haben glücklicherweise seit mehr oder weniger langen Zeit den konservativen Standpunkt überwunden und sich zu der Anerkennung der Wissenschaft dadurch bekannt, daß sie nicht allein die Arbeiten der von ihnen unabhängigen reinen Wissenschaftler und Gelehrten sich zu Nutzen gemacht, sondern selbst die Wissenschaft durch Gründung besonderer Forschungsanstalten, der bekannten Forschungsinstitute, unterstützt und ferner auf ihren eigenen Werken besondere Forschungsanstalten gegründet haben. Die genannten, von der Industrie unterstützten Institute, wie z.B. das Institut für Eisenforschung, für Kohlenforschung, für Metallforschung usw. arbeiten in ständiger Berührung mit der industriellen Praxis. Eine einseitige Behandlung der in Frage stehenden Probleme ist schon dadurch ausgeschaltet, daß die Arbeiten der betreffenden Institute regelmäßig veröffentlicht und dadurch der allgemeinen Kritik zugänglich gemacht werden, mit anderen Worten: diese Institute beschränken sich auf die Ausführungen solcher Arbeiten, die für die Industrie von Wert sein können; die Wissenschaft ist also hier nicht Selbstzweck. Ebenso leisten die Werkslaboratorien, z.B. auf unseren großen Hüttenwerken insofern Wertarbeit, als sie sich nicht allein mit der regelmäßigen Untersuchung von Roh-, Hilfs- und Fertigstoffen befassen, sondern in besonderen Abteilungen die Behandlung neuer Probleme auf wissenschaftlicher Grundlage mit dem dem Deutschen eigenen Forschungsgeist in Angriff nehmen. Während man bei uns also glücklicherweise von einem Hand-in-Hand-Arbeiten von Industrie und Wissenschaft sprechen kann, trifft dies für unseren westlichen Nachbarn, für Frankreich z.B. noch nicht zu. Dieser Fall ist merkwürdig und bezeichnend für die Einstellung und das Verhalten der französischen Industrie zur Wissenschaft, trotzdem die Académie des Sciences und die dortigen Gelehrtenkreise über hervorragende Köpfe verfügen. Man erklärt sich dies dadurch, daß die jungen Ingenieure und Chemiker die Hochschulen zwar nach gründlicher theoretischer Vorbereitung mit einem vorzüglichen wissenschaftlichen Rüstzeug verlassen, im Laufe der Jahre sich aber immer mehr auf den praktischen Betrieb festlegen und die wissenschaftliche Seite vernachlässigen. Der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Industrie in Frankreich ist daher zum großen Teil ein sehr lockerer. In England liegen die Verhältnisse fast ähnlich wie bei uns; dort genießen das Iron and Steel Institute und das Institute of Metals Weltruf. Andererseits treten in England die privaten Forschungsanstalten nicht so in den Vordergrund wie bei uns, während die Amerikaner namentlich infolge ihres großen wirtschaftlichen Aufschwunges in den letzten Jahren ihre Forschungsinstitute überaus reichlich unterstützt und dadurch die Anerkennung und Notwendigkeit der Wissenschaft auch äußerlich zum Ausdruck gebracht haben. Der Einfluß der Wissenschaft auf die Technik ist so umwälzend geworden, daß die Entwicklungsgeschichte der neuzeitlichen Industrie etwas Ei*zigdastehendes darstellt und in der Geschichte der Menschheit als eines der bedeutungsvollsten Ereignisse betrachtet zu werden verdient. Vor allem ist es die Entwicklung der Chemie nebst den verwandten Gebieten und der Elektrizität, die hier besonders in die Erscheinung treten. Die gesamte elektrische Industrie beruht auf den Gesetzen von Ohm und Ampère, die Industrie der gasförmigen Stoffe auf denen von Mariotte und Gay-Lussac, die optische Industrie auf den Sinusgesetzen von Descartes. Weitere treffende Beispiele bieten die Synthese von Salpetersäure und die Ammoniaksynthese, die ohne die Entdeckung der Gesetze der chemischen Mechanik nicht hätten verwirklicht werden können. Auch die Meß- und Berechnungsverfahren weisen hervorragende Erfolge auf. Mit Hilfe der chemischen Analyse war es möglich, Erze, Eisen und Stahl zu zergliedern, die Rohstoffe für die Glashütten, für die Porzellan-und die Zementindustrie zu überwachen und einzuteilen, die Abfälle dadurch zu vermindern, die Fertigwaren zu verbessern und die Fertigungskosten herunterzusetzen. Bessemer, der über keine besondere wissenschaftliche Einstellung verfügte, gelang es bekanntlich, in einigen Minuten eine solche Menge Stahl zu erzeugen, wie bis dahin in ebensoviel oder mehr Stunden. Als er und seine Lizenznehmer aber den Versuch wiederholen wollten stießen sie auf Mißerfolge. Erst der Chemiker, dem Bessemer seine Rohstoffe zur Untersuchung vorlegte, konnte die Ursache feststellen, die darin lag, daß beim Gelingen des Versuches schwedisches, phosphorfreis, bei den mißlungenen Versuchen dagegen englisches phosphorhaltiges Roheisen verwendet worden war. Jetzt erst gelang es, die Stahlerzeugung im großen vorzunehmen und dadurch die ganze Hüttentechnik vollständig umzustellen. Ein weiteres Beispiel für den Einfluß der Wissenschaft auf die Industrie bietet die Entdeckung der Schnelldrehstähle durch Taylor, die auf Grund ihrer überlegenen Schnittgeschwindigkeit im Maschinenbau von umwälzender Wirkung waren. Diese Arbeiten Taylors bedeuteten das Ergebnis langwieriger und langjähriger kostspieliger Versuche, bei denen er eingehend den Einfluß der Gehalte an Kohlenstoff, Chrom, Wolfram usw., dann die Härtetemperatur, die Abkühlungsgeschwindigkeit und schließlich die Anlaßbedingungen untersucht hat. Die Arbeiten Taylors bezogen sich aber u.a. auch auf die Anwendung der Wissenschaft in der Betriebsorganisation, indem er den Grundsatz von der Aufstellung des richtigen Mannes an die richtige Stelle aussprach und jeder Arbeit ihren bestimmten Gang innerhalb einer bestimmten Zeit vorschrieb. Es handelt sich dabei allerdings weniger um die Anwendung der reinen Wissenschaft als um die Erhaltung eines wirtschaftlichen Erfolges auf Grund einer nicht zufälligen, sondern vorher bestimmten Betriebsführung. Das Fernsprech- und Fernschreibwesen, die Röntgenstrahlen, der Dieselmotor, die Ausbeutung der Wasserkräfte, der Schiffbau, der Luftschiff- und Flugzeugbau u.a.m. sind alles Gebiete, die ihre Erfolge nur der Wissenschaft zu verdanken haben. Hierzu gehören aber auch solche Probleme, die dem Außenstehenden nicht direkt auffallen, die aber ebenfalls technisch und wirtschaftlich ins Gewicht fallen. Man vergegenwärtige sich nur, daß noch vor wenigen Jahrzehnten die Gichtgase der Hochöfen unbenutzt ins. Leere entwichen und dadurch unermeßliche Werte der Wirtschaft verloren gingen. Erst nachdem man gefunden hatte, daß diese Gase stark kohlenoxydhaltig waren und erst nachdem geeignete Verfahren für ihre Reinigung ausfindig gemacht wurden, konnten sie wirtschaftlich ausgenutzt werden; heute dienen sie nicht allein dazu, das ganze Hüttenwerk, sondern auch ganze Maschinenfabriken und Walzwerke, ja sogar ganze Städte mit Licht, Kraft und Gas zu versorgen. Auch die neuzeitliche Wärmewirtschaft der großen Hüttenwerke, unserer größten Brennstoffverbraucher, ist bezeichnend für die Anerkennung und für die Erfolge der Wissenschaft insofern, als jetzt jedes Hüttenwerk besondere Wärmefachleute, die sogenannten Wärmeingenieure, anstellt, die sich ausschließlich mit der Ueberwachung und Messung der erzeugten und verbrauchten Wärme befassen und die jeder Kalorie förmlich nachlaufen. Die Verkokung der Kohle, die Nebenproduktengewinnung von Teer, Benzol und Ammoniak, die Verschwelung der Kohle und neuerdings die Verflüssigung der Kohle mit dem Endziel der Oelgewinnung weisen ebenfalls auf den hervorragenden Anteil der Wissenschaft in diesen Industrien hin. Der Einfluß der Metallographie auf die Gütesteigerung der Metalle ist bekannt und die seit einigen Jahren auf dem Gebiete des Eisengusses verfolgten Bestrebungen nach Veredlung des Gußeisens und ihre Ergebnisse (z.B. Perlitguß) kann man sich ohne die Hilfe der Metallographie nicht vorstellen. Diese Kette von Beispielen könnte beliebig lang fortgesetzt werden und sie würde nur weiter zeigen, daß Technik ohne Wissenschaft undenkbar ist und daß die unsere Bewunderung erregenden Werke der Technik sich nur unter dem scharfsinnigen und tiefschürfenden Beistand der Wissenschaft entwickeln konnten. Dank ihrer gerade auf unseren Hoch- und Mittelschulen erworbenen gründlichen theoretischen Vorbildung ist mit Sicherheit anzunehmen, daß unsere Ingenieure und Chemiker auch in Zukunft den jetzt betretenen Weg weiter beschreiten und daß ihre Arbeiten unserer Industrie und unserer ganzen Wirtschaft zum Segen und Wohlstand gereichen werden. Unsere großen wissenschaftlichen Verbände, wie, um nur einige zu nennen, der Verein deutscher Ingenieure, der Verein deutscher Eisenhüttenleute, der Verein deutscher Elektrotechniker u.a.m. sind stets darauf bedacht gewesen, die Neuerungen auf ihren Fachgebieten einem jeden zugänglich zu machen, sei es durch Veranstaltung von Vorträgen mit anschließenden Aussprachen, sei es durch die Fachpresse. Die Bedeutung unserer Fachpresse für die Wissenschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden; gerade sie vermittelt in stiller, aber überzeugender Art das Bekanntwerden mit den Forschungsarbeiten und deren Wert für die Industrie; sie ist dazu berufen, eine ideale Pflegestätte industriellen Denkens zu sein, sie sorgt dafür, daß der in der Praxis stehende Industrielle nicht die Berührung mit der reinen und experimentellen Wissenschaft verliert, sie regt zu neuen Forschungen an und trägt den Ruhm deutschen Könnens in alle Welt. Wir wissen, daß wir unsere Stellung auf dem Weltmarkt in hartem Wettkampf mit anderen Völkern nur wieder erwerben, behaupten und erweitern können, nicht etwa wenn wir die gleichen Erzeugnisse anbieten wie die anderen Länder, sondern einzig nur, wenn wir sie übertrumpfen und mehr als bisher auf die Lieferung von Qualitätswaren bedacht sind. Es wird dabei viel, wenn nicht das meiste von dem Geiste abhängen, der in unserer Industrie lebt. Eine geistige Durchdringung und ein wissenschaftliches Anpacken der gestellten Aufgaben dürften den steinernen Weg, der uns bevorsteht, glätten und die deutsche Wirtschaft in die Lage bringen, den guten Ruf der deutschen Industrieerzeugnisse auf den ganzen Erdenkreis zu verbreiten zum Wohl des einzelnen und des ganzen Volksvermögens. Der dem Deutschen eigene unbegrenzte Forscherdrang einerseits und seine ungehemmte Unternehmungslust und Unternehmungskraft andererseits stellen Waffen dar, mit denen wir den Wirtschaftskampf siegreich bestreiten sollten.