Titel: Die Beweiskraft des Versuches.
Autor: K. Schreber
Fundstelle: Band 344, Jahrgang 1929, S. 89
Download: XML
Die Beweiskraft des Versuches. Von Dr. K. Schreber. SCHREBER, Die Beweiskraft des Versuches. 1. Aufgabe. Die Vorträge und Reden über die Krisis in der Physik hören nicht auf. Immer und überall spricht wieder ein anderer angesehener Physiker über diesen Zustand; und da die Physik die Grundlage der sämtlichen Naturwissenschaften und damit überhaupt der naturwissenschaftlichen Weltanschauung ist, so bedeuten diese Vorträge nichts weiter, als daß unsere ganze naturwissenschaftliche Weltanschauung zurzeit auf unsicheren Füßen steht. In den Vorträgen wird aber jedesmal nur der angenblickliche Inhalt der Physik besprochen und die jedesmal neueste Hypothese zu seiner Fortbildung untersucht. Es ist wirklich einmal an der Zeit, nach der Herkunft jenes so schwankenden, so ott umgeworfenen und immer wieder und zwar jedesmal Vergeblich aufgebauten Inhaltes zu fragen. Ob vielleicht die Wege, auf welchen der Inhalt gewonnen wird, unsicher oder gar falsch sind? Man behauptet, die Physik und mit ihr die gesamten Naturwissenschaften bis zur Medizin und Biologie nach der einen und Technik nach der anderen Seite sei eine Erfahrungswissenschaft, deren Grundanschauungen auf unmittelbarer Beobachtung, auf sorgfältig aufgestellten Versuchen beruhen. Ja, man behauptet sogar, unsere neue Naturwissenschaft unterscheide sich von der der frühen Griechen zu ihrem Vorteil dadurch, daß in ihr der Versuch die einzige Quelle für die Grundlage der Darstellung wäre. Ist das nun schon geschichtlich insofern unberechtigt, als auch die frühen Griechen Versuche zur Förderung der Erkenntnis anstellten, so ist es erst recht falsch, wenn man sich die Beweiskraft des Versuches in der neuen Physik ansieht. Ich will im Nachstehenden an einigen Beispielen, welche für beliebig viele andere gelten können, zeigen, daß die Beweiskraft des Versuches in der heutigen Physik recht gering ist und daß man sich deshalb nicht wundern darf, wenn unsere sogenannten Erfahrungswissenschaften recht in der Luft schweben und von Krisis zu Krisis taumeln. Hierbei muß ich von vornherein bemerken, daß das Wort Versuch in zwei recht verschiedenen Bedeutungen angewendet wird. In der einen Bedeutung hat der Versuch nur den Zweck, eine bestimmte Beobachtung oder Zahl festzustellen, oder ihre Genauigkeit zu verbessern. Versuche dieser ersten Art sind die Abnahmeversuche der Technik: es soll der Wirkungsgrad eines Kessels festgestellt werden oder ähnliches. Derartige Versuche sind nur Feststellungen bestimmter Tatsachen, an welche keine wissenschaftlichen Folgerungen irgendwelcher Art geknüpft werden. Zur anderen Art von Versuchen gehören solche, welche,dwie die von Knoblauch und seinen Mitarbeitern jetzt durchgeführten, zur Verbesserung der Genauigkeit der Zahlenwerte der Eigenschaften des Wasserdampfes dienen. Der wissenschaftliche Wert dieser Zahlen ist ja schon von Regnault und Zeuner vollständig bearbeitet. Von derartigen Versuchen soll im Nachstehenden nicht die Rede sein; es soll nur von solchen Versuchen gehandelt werden, welche die wissenschaftliche Erkenntnis fördern sollen, von reinen Forschungsversuchen. 2. Vorläufer des Energiesatzes. In keinem Lehrbuch der allgemeinen Wärmelehre wird jetzt vergessen, auf die Versuche von Benjamin Thompson, Graf von Rumford 1798 hinzuweisen, welcher nicht nur zeigte, daß man durch fortwährende Aufwendung mechanischer Arbeit, z.B. beim Bohren mit einem stumpfen Bohrer, dauernd Wärme erzeugen könne, sondern auch eingehend nachwies, daß die spezifische Wärme der Späne dieselbe blieb, wie die des ganzen Metallstückes, daß also die Deutung Blacks, die Späne hätten eine geringere spezifische Wärme und daß deshalb die latente Wärme herausgedrückt sei, im Widerspruch mit der Beobachtung stehe. Dieser Versuch hat bei seinen Zeitgenossen keinen Erfolg gehabt. Nicht besser erging es Davy 1799 mit seinem jetzt ebenfalls in allen Lehrbüchern der Wärmelehre erwähnten Versuch, zwei Stücke Eis gegeneinander zu reiben und dadurch Wasser, welches doch eine größere spezifische Wärme hat als Eis, zu erzeugen. Hier mußte mindestens die Schmelzwärme durch die mechanische Arbeit erzeugt worden sein. Aber keiner der damals tonangebenden Physiker hat sich dadurch in seiner Ansicht über die Wärme auch nur im geringsten stören lassen. Beide Versuche sind jetzt, nachdem man die Gleichmäßigkeit von Wärme und Arbeit auf anderem Wege erkannt hat und somit ihre Beweiskraft überflüssig geworden ist, wieder ausgegraben worden und dienen nur zum Beweis, daß der Versuch keine Beweiksraft hat. 3. Joules Versuche. Als einer der Schöpfer des Energiebegriffes wird gewöhnlich Joule genannt. Dieser veröffentlichte 1843 eine Reihe durch Beobachtung gewonnener Zahlen, welche beweisen sollten, daß zwischen den Einheiten der mechanischen Arbeit und der Wärme eine ganz bestimmte, für alle Arten der Umwandlung von Arbeit in Wärme in gleicher Weise gültige Umrechnungszahl bestände. Er hat in seiner ersten Arbeit 4 verschiedene Arten dieser Umwandlung untersucht, 4 verschiedene Versuchsanordnungen der Forschung unterworfen, welche für die von ihm gesuchte Zahl recht verschiedene Werte ergeben haben. In der dritten Anordnung erhält er die beiden Zahlen 587 und 1026. Aus diesen beiden Zahlen das Mittel zu bilden und zu sagen, daß die so erhaltene Zahl für sämtliche Versuchsanordnungen dieselbe Zahl sei, ist jedenfalls etwas kühn. Selbst wenn man die Mittel der 4 verschiedenen Versuchsanordnungen nebeneinander stellt, erhält man noch recht weit voneinander abweichende Zahlen: 979; 910; 807 und 801. Hätte Joule dem Versuch irgendwelche Beweiskraft zuerkannt, so hätte er die Fortsetzung dieser Arbeit aufgeben müssen. Trotzdem ist Joule von dem Vorhandensein einer solchen unveränderlichen Zahl fest überzeugt. Da der Versuch dagegen spricht, beruft er sich als buchstabentreu bibelgläubiger Engländer auf die Allmacht Gottes: „Da ich überzeugt bin, daß nur der Schöpfer die Macht zu zerstören besitzt, so stimme ich mit Rojet und Faraday überein, daß jede Theorie, welche in ihren Folgerungen zur Vernichtung von Kräften führt, notwendig falsch sein muß.Dp. I. 1927, S. 73. Ich weiß, daß sehr viele Naturwissenschaftler die Allmacht Gottes nicht in wissenschaftliche Ueberlegungen hineinziehen wollen, aber wir müssen uns hier auf den Standpunkt Joules stellen und von diesem aus prüfen, ob die Berufung zulässig ist oder nicht, d.h. wir müssen hier zugeben, daß es einen allmächtigen Schöpfer gäbe und nun prüfen, was daraus folgt. Dann finden wir, daß der allmächtige Schöpfer Größen geschaffen hat, welche wie die Geschwindigkeit ständig abnehmen; daß er Größen geschaffen hat, welche wie der Raum trotz aller Veränderung in seinen einzelnen Teilen, im Gesamtbetrage unverändert bleiben und daß er Größen geschaffen hat, welche wie die Zeit dauernd größer werden. Zu welcher von diesen drei Arten von Größen die Energie zu rechnen sei, kann man aus der Allmacht Gottes allein nicht ableiten. Joule hätte diese Ueberlegung ebenfalls anstellen können, wenn er sich wirklich auf Gott allein verlassen hätte. Das hat er aber gar nicht getan; er täuscht sich selbst; er hat sich auf sein physikalisches Gefühl verlassen. Ohne sich dessen bewußt zu sein, woher es kommt, hatte er das Gefühl, daß es eine solche Zahl geben müsse; und da er mit der Berufung auf ein solches Gefühl bei den Physikern, welche angeblich nur auf die Beweiskraft von „einwandfreien Versuchen“ vertrauen, und auch bei sich selbst nicht durchkommt, so beruft er sich auf den allmächtigen Schöpfer. 4. Wilhelm Thomson, Lord Kelvin, Geholfen hat Joule diese Berufung nicht einmal bei seinen Landsleuten, deren Einstellung zu Gott doch dieselbe ist wie die seine. Trotzdem Joule 1845 und namentlich 1847 sehr gut übereinstimmende Zahlen erhalten hatte, lehnt noch 1849 W. Thomson seine. Behauptung ab und zwar aus Gründen, an welche jener gar nicht gedacht hatte. Thomson gibt Joule insoweit recht, daß man aus den jetzigen Zahlen wohl ableiten könne, daß es für die Umwandlung von Arbeit in Wärme eine feste Umrechnungszahl gebe, aber eine Umwandlung von Wärme in Arbeit ist überhaupt unmöglich und deshalb ist auch jene Zahl wertlos. Daß man in den Dampfmaschinen mit Hilfe von Wärme Arbeit erzeugen könne, geschähe genau wie in Wasserkraftmaschinen. Wie in diesen das Wasser durch einen Höhenunterschied fällt, ohne seine Menge zu ändern, so erleidet in der Dampfmaschine die Wärme eine Temperaturänderung, ohne ihre Menge zu ändern. Thomson ist noch ganz im Gedankenkreis Carnots und Clapeyrons befangen. Die so nahe liegende Folgerung, daß, wenn man Arbeit in Wärme verwandeln und damit die Wärmemenge vermehren kann, man auch umgekehrt die Wärmemenge durch Verwandlung in Arbeit vermindern können muß, kann er trotz der Versuche von Joule nicht ziehen. Der beste Versuch hat keine Beweiskraft, wenn er der vorhandenen Ueberzeugung widerspricht. Der Gesamtwirkungsgrad der Dampfmaschinen in unserem heutigen Sinne war damals noch so gering, und die Möglichkeit der Beobachtungsfehler bei einer Nachprüfung an den damaligen im Vergleich mit den heutigen bei gleicher Leistung recht umfangreichen Maschinen so groß, daß man durch Beobachtung eine Entscheidung über die Möglichkeit der Verwandlung von Wärme in Arbeit nicht treffen konnte. Erst nachdem der Energiesatz zur Anerkennung gelangt war, hat Hirn die Kalorimetrie der Dampfmaschine so weit entwickelt, daß man auch an ihr die Umrechnungszahl messen kann. Daß Robert Mayer schon 1842 für die Umrechnungszahl einen Wert berechnet hatte, welcher der Größenordnung nach, namentlich wenn man die Streuung der ersten Zahlen Joules berücksichtigt, mit diesen voll übereinstimmt – der von Joule gegebenen Zahl 587 entspricht in deutschem Maß die Zahl 322, während Mayer 365 gibt – und welcher aus der von Thomson als unmöglich bezeichneten Verwandlung von Wärme in Arbeit errechnet war, war diesem 1849 noch unbekannt. Man kann also nicht entscheiden, ob er bei Kenntnis dieser Arbeit den Versuchen von Joule eine größere Beweiskraft zuerkannt hätte. 5. Clausius. Ein Jahr später, Februar 1850, veröffentlicht Clausius seine Arbeit: „Ueber die bewegende Kraft der Wärme usw.“. In ihr wird nicht nur kein Versuch angestellt, sondern es werden nicht einmal wie z.B. bei Robert Mayer frühere Versuche zur Begründung verwertet. Clausius sagt kurz in der Einleitung, daß man durch Reibung Wärme erzeugen könne, sei eine allgemein bekannte Erfahrung, welche Joule durch seine Versuche nahezu zur Gewißheit erhoben hätte; er erwähnt Robert Mayer, aber so kurz, daß man vielleicht annehmen darf, er habe dessen Gedankengang nicht recht verstanden, und stellt dann einfach kraft seiner physikalischen Ueberzeugung den Satz auf: Wärme und Arbeit sind äquivalent, d.h. sie lassen sich in gleichem Maßmessen. Aus diesem Satz entwickelt er eine ganze Reihe von Folgerungen, welche durch die Erfahrung bestätigt werden: er gibt eine zusammenhängende Wärmewissenschaft. Nur durch diese von ihm geschaffene Wärmelehre gibt er den Beweis für seine Behauptung. Bei ihm, gerade wie bei Mayer und Joule, ist nur das physikalische Gefühl, die physikalische Ueberzeugung führend. Während aber jene durch Verwertung früherer oder Anstellen neuer Versuche einen Beweis ihres physikalischen Gefühls suchen, entwickelt Clausius eine zusammenhängende Lehre und erreicht, ohne irgend einen Versuch anzustellen, daß seine für die damaligen Anschauungen recht kühne Behauptung in überraschend kurzer Zeit allgemeine Anerkennung findet. Thomson, der bis dahin heftige Gegner Joules, erkennt nun, nachdem er die Arbeit von Clausius gelesen, auch die Versuche von Joule restlos an. Die späteren Arbeiten von Joule haben nur noch die Bedeutung von Verbesserungen der Genauigkeit, sind aber keine Forschungsversuche mehr, welche eine Lehre begründen oder stützen sollen. Die Lehre ist von Clausius geschaffen und fest begründet und nur die in ihr vorkommenden Zahlen bedürfen noch einer Verbesserung ihrer Genauigkeit. Schon 10 Jahre nach dem Erscheinen jener Arbeit von Clausius war der Energiesatz allgemein anerkannt.Dp. I. Bd. 343, S. 189. Nicht die Beobachtungen von Rumford, Davy, Joule, nicht die Verwertung von Beobachtungen durch Mayer haben ihm diese Anerkennung verschafft. Alle diese Versuche hatten keine die Zeitgenossen überzeugende Beweiskraft. Allein die Arbeit von Clausius, welche nicht einen einzigen Versuch enthält, hat den Energiesatz zur Anerkennung gebracht, die allgemeine Wärmelehre geschaffen. 6. Faraday und Gay-Lussac. Denselben Mangel an Beweiskraft von Versuchen sehen wir in der Entwicklung einer für das so schwierige Verständnis des IntensitätssatzesPhil Mag 26. 1845 382 unten. wichtigen Frage. Im Jahre 1822 veröffentlichte Faraday als Ergebnis von Beobachtungen, welche er mit der bei ihm bekannten Geschicklichkeit angestellt hatte: Der aus einer Lösung entstehende Dampf hat die Temperatur, mit welcher bei demselben Druck aus dem reinen Lösungsmittel Dampf entsteht; also entsteht aus einer unter Atmosphärendruck bei 104,5° siedenden Lösung von Salpeter in Wasser Dampf von 100,0°. Französische Physiker, welche von diesen Versuchen gehört hatten, veranlaßten ihn, sie in den von Gay-Lussac herausgegebenen „Ann de chim et de phys“ zu veröffentlichen. Im unmittelbaren Anschluß an diese Veröffentlichung widerspricht ihm Gay-Lussac, welcher keine Versuche anstellt, wohl aber auf mögliche Fehler in Faradays Versuchen hinweist, ohne die Berechtigung dieser Bemängelungen durch Versuche zu beweisen. Gay-Lussac hat den Erfolg. Der Versuch von Faraday hat keine Beweiskraft, wohl aber die durch keinen Versuch begründeten Bemängelungen Gay-Lussacs. Wie kommen Gay-Lussacs Bemängelungen zu solchem Einfluß? Gay-Lussac ist Franzose. In Frankreich hatte die Scholastik ihren Hauptsitz gehabt und wenn auch die theologische Seite der Scholastik wesentlich durch die Enzyklopädisten überwunden war, waren doch viele naturwissenschaftliche Sätze noch immer fest in der Ueberzeugung der Franzosen hängen geblieben. So auch der Satz: Natura non facit saltus, die Natur macht keine Sprünge. Eine vortreffliche Anwendung dieses Satzes hatte unmittelbar vor diesen Veröffentlichungen Faradays und Gay-Lussacs Fourier in seiner Lehre von der Wärmeleitung gegeben. Da soll jetzt plötzlich nach Versuchen von Faraday zwischen Lösung und Dampf ein endlicher Temperatursprung vorhanden sein! Das kann und darf nicht richtig sein. Der Franzose Duhem sagt von seinen Landsleuten:Schreber: Die Anerkennung des Energiesatzes. D. p. J. 1925. 11. „Der Franzose will eine Geschichte, die klar und einfach ist... Wenn die Wirklichkeit ihm eine solche Geschichte nicht liefert, so ist es umso schlimmer für die Wirklichkeit. Er wird dann Tatsachen entstellen, manche unterdrücken, andere erfinden.“Schreber: Der Satz vom selbsttätig wachsenden Widerstreben und der Intensitätssatz. D. p. J. 1927. 11. Gay-Lussac weist auf die Geysirerscheinungen hin: Wenn auf dem Boden einer 10 m hohen Wassersäule Dampf entsteht, so hat er wegen des dort herrschenden Druckes von 2 atm 120°. Zieht er oben ab, wo das Wasser nur 100° hat, so hat auch er 100°. Gay-Lussac schließt daraus, daß der Dampf durch Leitung seine Temperatur der der letzten Flüssigkeitsschicht, durch welche er sich bewegt hat, angeglichen habe, und überträgt das nun auf die Lösungen. Wir wissen jetzt – und auch Gay-Lussac hätte es wissen können, denn zu seiner Zeit waren die Dampfmaschinen schon bekannt genug –, daß der auf dem Boden der Wassersäule entstehende Dampf während des Hochsteigens Arbeit leistet und sich dabei nicht nur abkühlt, sondern sogar naß wird. Von Angleichen an die Temperatur der Umgebung ist keine Rede. Gay-Lussacs Beispiel hat also mit der eigentlichen Frage gar nichts zu tun. Aber es ist ihm gelungen, den Gedankengang der Physiker auf eine falsche Fährte zu locken und damit die Beweiskraft von Faradays Versuch vollständig zu vernichten. Selbst Faraday, welcher als Engländer schon durch das Vorbild Roger Bacons, des Kämpfers gegen den Autoritätsglauben, von der Scholastik frei ist, wird zweifelhaft und versucht, die von Gay-Lussac aufgestellte Behauptung zu bestätigen. Es gelingt ihm nicht. In einer zweiten Veröffentlichung sagt er zwar, Gay-Lussac habe Recht, aber er gibt keine Zahlen an, welche eine Nachprüfung dieses zweiten Versuches ermöglichen; vielmehr sagt er nur, es seien Schwierigkeiten über Schwierigkeiten zu überwinden. Er sagt auch nicht, wie er sie überwunden hat. Wenn man den zweiten Aufsatz unbefangen liest, kommt man zu der Ueberzeugung, daß Faraday die ganze Frage zu unwichtig erschien, als daß er sich hätte mit Gay-Lussac streiten sollen. Man sieht also, die Beweiskraft des von Faraday sorgfältig angestellten Versuches reicht nicht aus, um entstellende Einwendungen unschädlich zu machen. Eine geschickt vorgetragene Behauptung, wenn sie sich auch auf nur scheinbar zur Sache gehörige Bemängelungen stützt, hat mehr Erfolg, falls sie sich mit der Ueberzeugung der Fachgenossen verträgt. 7. Rudberg. Als evangelischer Schwede von den Nachwirkungen der Scholastik vollständig frei, hat Rudberg den Behauptungen Gay-Lussacs nicht getraut und deshalb ganz besonders sorgfältige Versuche angestellt. Für sie hat er die noch jetzt zum Eichen des Siedepunktes von Thermometern angewandte Rudbergsche Röhre erfunden, in welcher der im Meßrohr nach oben strömende Dampf in einem das Meßrohr umgebenden Mantel wieder nach unten strömt und dort abgezogen werden kann. Der Dampf schützt sich also selbst gegen Abkühlung. Das Ergebnis der Versuche ist, daß der Dampf mit der Temperatur des siedenden Lösungsmittels entsteht. Erfolg hat Rudbergs Versuch nicht gehabt; es ist auch weiterhin Gay-Lussacs Behauptung herrschend geblieben. Sein Ergebnis widersprach dem Glauben der Fachgenossen. 8. Regnault. Als Franzose unterliegt Regnault ebenso wie Gay-Lussac den Nachwirkungen der Scholastik und behauptet deshalb ebenfalls, daß der aus der Lösung entstehende Dampf die Temperatur der Lösung habe. Seine Versuche ergeben ihm aber, daß der Dampf gesättigt ist, daß also zwischen Lösung und Dampf ein endlicher Temperatursprung besteht. Hier sieht man ganz besonders deutlich, wie gering die Beweiskraft eines Versuches ist: Regnault bestreitet den Wert seiner eigenen Versuche. Er behauptet, daß eine Reihe von Einwendungen gegen sie zu machen seien, ähnlich wie Gay-Lussac Faradays Versuch bemängelt hat. Aber, und nun kommt das Auffallendste: Er prüft keine einzige dieser Einwendungen auf Berechtigung. Er, der geschickte Experimentator, welcher die wirkungsvollsten, noch jetzt als Vorbild dienenden Maßregeln gefunden hat, um die Beobachtungsfehler möglichst klein zu halten, hat hier nicht den einfachen Kunstgriff gefunden, das aus dem Meßraum herausragende Thermometer mit einem Mantel von der Lösungstemperatur zu umgeben, damit die Glaswand des Stieles keine Wärme nach außen leite. Nicht einmal den schon von Faraday angegebenen Kunstgriff, das Thermometer vorzuwärmen, wendet er an. Ferner ist auch hier dasselbe wie bei Faradays zweitem Versuch zu bemerken: Während Regnault bei allen anderen Versuchen sehr ausführlich die Versuchsanordnung beschreibt, so daß man noch jetzt die Genauigkeit nachprüfen kann, gibt er hier nichts von der Versuchsanordnung an. Sein eigener Versuch hat nicht die Beweiskraft wie seine innere Ueberzeugung, welche nicht anders begründet ist, als durch Gewohnheit und durch das, was er von seinen Lehrern gehört und gelernt hat: Autoritätsglaube der Scholastik. Unsere Experimentalphysiker lachen über Hegels Satz: Um so schlimmer für die Tatsachen. Beschreibt er nicht treffend Regnaults Verhalten? Wie oben gesagt, achtet auch Joule die Beweiskraft seiner ersten Versuche gering, aber er bildet seine Versuchsanordnung immer weiter aus, bis er schließlich die von seiner inneren Ueberzeugung verlangte unveränderliche feste Umrechnungszahl doch findet. Im Gegensatz dazu scheut sich Regnault, seine Versuchsanordnung zu verbessern, die von ihm selbst gerügten Mängel abzustellen. Fürchtet er, daß er seine Ueberzeugung ändern müsse? Warum aber stellt er dann überhaupt den Versuch an; warum veröffentlicht er das von seinem Standpunkt aus als Mißerfolg zu betrachtende Ergebnis? Das sind jedenfalls Fragen, deren Beantwortung noch nicht versucht ist, welche aber für ein Urteil über die wissenschaftliche Begründung der sogenannten exakten Wissenschaften von sehr großer Bedeutung sind. 9. Magnus. Als katholischer Deutscher unter dem Einfluß der Scholastik stehend, hatte Wüllner, ebenfalls ohne irgendwelche Versuche, die Behauptung Gay-Lussacs erneut aufgestellt. Hierdurch wurde der als evangelischer Deutscher ohne scholastischen Einfluß erzogene Berliner Physiker Magnus veranlaßt, Versuche auszuführen mit einer Versuchsanordnung, welche der zweiten Faradays so weit nachgebildet war, wie es dessen kurze Beschreibung nur ermöglichte. Er hat mit großer Sorgfalt darauf gesehen, daß keine Wärme vom Dampf nach außen abwandere und hat das Thermometer erst dann in den Dampf gesteckt, nachdem es weit über den Siedepunkt die Lösung hinaus vorgewärmt war; der Einwand Regnaults war dadurch hinfällig. Er schließt seine Mitteilung mit den Worten: „Soviel ist durch diese Versuche erwiesen, daß die Dämpfe, welche aus kochender Salzlösung kommen, eine heißere Temperatur haben als 100° und eine um so heißere, je heißer die Temperatur der kochenden Salzlösung ist. Daß sie aber dieselbe Temperatur wie diese Lösung haben, ist mir nicht gelungen nachzuweisen und ich bezweifele, daß dieses möglich ist.“ Trotzdem berichtet nicht nur Wüllner, sondern auch andere Lehrbuchschreiber, die Versuche von Magnus hätten die Behauptung Gay-Lussacs bestätigt. Es werden also nicht einmal die Schlußfolgerungen, welche ein Forscher selbst aus seinen Versuchen zieht, beachtet, sondern die Versuche werden gegen dessen Urteil in das Prokruthesbett des herrschenden Glaubens gezwängt. Eine Beweiskraft hat kein Versuch. 10. Die Entropiegleichung. Von diesem Zeitabschnitt an tritt die Frage nach der Temperatur des aus einer Lösung entstehenden Dampfes in einen neuen Zeitabschnitt. Wenngleich der genannte scholastische Satz vom Hintergrund aus noch immer seinen Einfluß ausübt, tritt jetzt eine ganz bestimmte Folgerung aus der allgemeinen Wärmelehre öffentlich an seine Stelle. Ich hatte schon oben erwähnt, daß Clausius 1850 den Energiesatz aufgestellt hatte. In derselben Arbeit beginnt er auch den Intensitätssatz, welchen schon Carnot und Clapeyron geahnt hatten, weiter zu entwickeln. In seinen Arbeiten aus den Jahren 1854 und 1865 schließt er seine Arbeiten zu dieser Frage ab, indem er die Entropieungleichung aufstellt: Δ τ ≧ O: die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu. Das Gleichheitszeichen soll für die sogenannten umkehrbaren, das Ungleichheitszeichen für die wirklichen, die nichtumkehrbaren Vorgänge gelten. Mit einem Ungleichheitszeichen ist rechnerisch wenig anzufangen. Statt aber den Entropiebegriff weiter zu entwickeln, so daß aus der Ungleichung eine Gleichung wird, haben sich die Physiker auf die Gleichung von Clausius beschränkt, aus dem umkehrbaren Zustand, für welchen Clausius sie aufgeschrieben hatte, einen Gleichgewichts-, einen Ruhezustand gemacht und nun nur Gleichgewichtszustände behandelt. Herzfeld sagt in dem großen Handbuch der Physik von Geiger und Scheel IX 2 ausdrücklich, daß sich die Thermodynamik mit Gleichgewichts-, mit Ruhezuständen beschäftigt. „Auch die Wissenschaft hat lauter menschliche Eigenschaften. Wenn sie eine Zeitlang angestrengt in einer bestimmten Richtung gearbeitet hat, so überfällt sie ein Ruhe-, ja man kann sagen Schlafbedürfnis. Sie konstruiert dann einen Abschluß und streut auch anderen Leuten Sand in die Augen.“Duhem: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien: deutsch von Fr. Adler. 1908. 84. Der Fortschritt der Wärmelehre von Clausius erster Arbeit 1850 bis zur Aufstellung der Entropieungleichung war so ungeheuer schnell verlaufen, daß man das Eintreten eines Ruhebedürfnisses wohl verstehen kann. Man hat sich aber nicht wieder aufraffen können und hat, statt den Entropiebegriff weiter zu entwickeln, sich auf die in der Natur nicht vorhandenen Gleichgewichts-, Ruhezustände beschränkt. Nun ist das Entwickeln von Dampf aus einer Lösung sicherlich kein Ruhezustand, sondern ein Vorgang, und die Technik mit ihrer Forderung nach Schnellbetrieb verlangt sogar, daß der Vorgang recht schnell verläuft. Während nun bei den meisten Vorgängen das Ergebnis des wirklichen Vorganges von dem zu seinem Ersatz erdachten Ruhezustande nur wenig abweicht, führt hier beim Eindampfen von Lösungen der Ruhezustand zu einem ganz anderen Ergebnis wie der Vorgang: Beim Ruhezustand führen Wärmeleitung und -Strahlung schnell zur Gleichheit der Temperaturen der Lösung und des über ihr ruhenden Dampfes. Beim Vorgang dagegen verlangt die beim Eindampfen gegen den osmotischen Druck zu leistende Arbeit, daß der aus der Lösung entstehende Dampf dieselbe Temperatur hat wie der aus dem reinen Lösungsmittel entstehende, und Leitung und Strahlung können nur so lange auf den eben entstandenen Dampf einwirken, wie er sich noch in der Lösung und im Dampfraum unmittelbar über ihr befindet. Ist der Dampf erst im Abzugsrohr, dann ist er allen Einwirkungen entzogen. Die Physiker, welche schon während einer langen Reihe von Lehrer- und Schülererfolgen nur Gleichgewichtszustande behandeln, behandeln auch den Vorgang des Eindampfens als Ruhezustand und vertreten deshalb Gay-Lussacs Ansicht. Als ich von der reinen Physik zur Technik herüberging, war eine meiner ersten Arbeiten, daß ich die Entropieungleichung zu einer Gleichung weiter bildete,Clemens Baumer sagt in der Geschichte der Philosophie des Mittelalters in Kultur der Gegenwart V 1 S. 358 von den Scholastikern:. „Mancher scheut seiner Theorie zu Liehe selbst vor Erdichtungen, ja Fälschungen nicht zurück und findet Gläubige dafür.“ Aus dieser fast bis zur Gleichheit der Worte gehenden Uebereinstimmung bei zwei vollständig voneinander unabhängigen Schriftstellern darf man wohl schließen, daß meine Behauptung, die Franzosen ständen noch immer unter dem Einfluß der Scholastik, voll berechtigt ist. und seit dieser Zeit behandele ich wirkliche Vorgänge ebenso leicht wie die Physiker Ruhezustände behandeln. Deshalb war ich, als ich auf dem Umwege über die Aufgabe, Lösungen durch ihren verdichteten Dampf weiter einzudampfen, an die Frage nach der Temperatur des aus einer Lösung entstehenden Dampfes herangeführt wurde, auf das äußerste erstaunt, überall die Meinung Gay-Lussacs vertreten zu finden, während für den Vorgang doch die Faradays die einzig richtige ist. Als meine Ableitungen aus dem auf Vorgänge ausgedehnten Intensitätssatz nichts halfen, stellte ich im Vertrauen auf die von allen Seiten betonte Beweiskraft des Versuches auch Versuche an. Mein langjähriger Kampf in dieser Frage hat mich schließlich zur Ueberzeugung gebracht, daß sich kein Mensch um das Ergebnis eines Versuches kümmert, wenn es nicht in seine gesamte wissenschaftliche Anschauung hineinpaßt; und der vorliegende Aufsatz ist der Ausdruck dieser meiner Erfahrung. 11. Knoblauch. Im Anschluß an meine Versuche sind von verschiedenen Forschern Versuche angestellt worden, welche das Gegenteil von dem bewiesen, was meine Versuche bewiesen. Auch diese widersprechenden Ergebnisse sind ein Beweis, daß den Versuchen jegliche Beweiskraft mangelt. Ich will von diesen Versuchen allen nur die von Knoblauch besprechen, weil sie das größte Ansehen gefunden haben, denn Knoblauch ist durch die mit den großen Mitteln der Industrie durchgeführte Wiederholung der Versuche von Regnault über die Eigenschaften des Wasserdampfes sehr bekannt geworden. Obgleich Knoblauch an einer technischen Hochschule lehrt, welche die Ingenieure für den Schnellbetrieb der Technik erziehen soll, kennt er doch nur den Ruhezustand der Universitätsphysik; er geht deshalb bei der Vorbereitung der Versuchsanordnung, mit welcher er seine Versuche ausführen will, von der für den Ruhezustand zutreffenden Annahme der Gleichheit der Temperaturen von Lösung und Dampf aus und richtet sich so ein, daß seine Versuche diese Annahme auch beweisen. Das gelingt unter dem schon von Gay-Lussac gegebenen Hinweis auf das Verhältnis der spezifischen Wärme des Dampfes zu seiner Verdampfungswärme. Knoblauch meint jede Wärmeabgabe nach außen verhindern zu müssen und umgibt zu dem Zweck den Meßraum, durch welchen der Dampf strömt, mit einem bis auf die Temperatur der Lösung erwärmten Oelmantel. Sein Ziel, jede Wärmeabgabe nach außen zu verhindern, ist damit sicher erreicht; ob aber dadurch dem Dampf nach seinem Entstehen noch Wärme zugeführt wird, bedenkt er nicht und kann er auch von seinem Ausgangspunkt der Temperaturgleichheit von Lösung und Dampf nicht bedenken. Der Versuch brachte selbstverständlich das erwartete Ergebnis. An der Stelle, wo die Temperatur des Dampfes gemessen wurde, zeigte das Thermoelement die Temperatur der Lösung: Gay-Lussacs Behauptung war erwiesen! Da dieses Ergebnis der Meinung der an Behandlung von Ruhezuständen gewöhnten Physiker entsprach, so fand es allgemeine Anerkennung. Ich gebe hier als Beispiel solcher Urteile nur das des Herrn Dr. Deinlein vom bayrischen Dampfkesselrevisionsverein:Schuchhardt, Berliner Akademie 1923. 205. „... verweise ich auf eine Mitteilung, worin die Herren Professor Dr. Knoblauch und Dr. Reiher über sorgfältigst durchgeführte Versuche berichten, welche einwandfrei ergaben... Um so mehr ist zu bedauern, daß Herr Schreber nach wie vor durch Experimente mit mangelhafter Versuchseinrichtung die Richtigkeit seiner Ansicht zu beweisen sucht. Mit mir werden alle urteilsfähigen Fachleute die Versuche von Herrn Geheimrat Knoblauch höher einschätzen als die Schreberschen Arbeiten.“ Das ist eines der gedruckten Urteile über die Versuche des Herrn Knoblauch. Soweit ich habe in Erfahrung bringen können, sind, da hat Herr Dr. Deinlein recht, alle Fachleute derselben Meinung, daß diese Versuche „einwandfrei beweiskräftig“ sind. Als einwandfrei wird also der Versuch angesehen, welcher das bringt, was der Forscher selbst und die große Menge der Fachleute gern hört, als fehlerhaft der, welcher das Entgegengesetzte bringt. Die Versuchsanordnung selbst zu prüfen und etwaige Fehlerquellen aufzusuchen, wird nicht für nötig gehalten. Zu dieser allgemeinen Einstellung kommt hier noch der Autoritätsglaube, welcher verlangt, daß man die Versuche eines Geheimrats unbesehen als richtig hinnimmt, während die eines Privatdozenten, falls er nicht der Schüler eines berühmten Mannes ist, im Vergleich damit stets wertlos sind. Wie Knoblauch seine Versuche so einrichtet, daß sie seine im Voraus fertige Ueberzeugung bestätigen, so sind auch alle die Versuche, welche eine neu aufgestellte Hypothese bestätigen sollen, stets so eingerichtet, daß sie sie bestätigen. DinglerSchieber: Der Arbeitswert der Heizgase. D. p. J. 1904. 113. Explosionsmotoren mit Einspritzung usw. D. p. J. 1905. 33. schreibt: „... so können wir uns denken, daß einer jener Priester daran ging, in aller Naivität zu untersuchen, ob dieses Siebener Gesetz nicht auch sonst am Himmel Geltung habe. Und was er heimlich wünschte, gelang; man vermochte auch in den übrigen Himmelsgebieten Siebener-Gruppen auffallender Sterne aufzufinden.“ Man darf über alle Versuche, welche eine neu aufgestellte Hypothese bestätigen, als Ueberschrift setzen: „und was er heimlich wünschte, gelang.“ Hier steckt zum großen Teil die Begründung der fortwährenden Krisen, von denen ich eingangs sprach. Der Forscher geht nicht unbefangen an seine Versuche heran, sondern er hat seine naturwissenschaftliche Ueberzeugung, aus welcher er für irgendeinen ihn gerade beschäftigenden Fall eine Hypothese ableitet, und nun richtet er seinen Versuch so ein, daß seine Hypothese bestätigt wird. „Und was er heimlich wünschte, gelang,“ die Hypothese wurde bestätigt. 12. Prüfung der Versuchsanordnung Knoblauchs. Sehen wir uns nun die Versuche von Knoblauch an. Ich habe eben die Versuchsanordnung etwas zu kurz beschrieben. Zwischen Oelmantel und Wandung des Meßraumes hat K. noch einen oben geschlossenen mit Luft gefüllten Raum, welcher nach dem Dampfraum des Kochgefäßes offen ist. Die in diesem Raum befindliche Luft und der in ihn hineindiffundierende Dampf werden in kurzer Zeit die Temperatur des Oelmantels annehmen und sie auf das die Wandung des Meßraumes bildende Nickelrohr übertragen, so daß auch dieses die Temperatur des Oelmantels hat. Es strahlt dann auf das Thermoelement, mit welchem Herr K. die Temperatur des Dampfes messen will, als ob der Oelmantel selbst strahle. Will man die Temperatur von strömenden Gasen und Dämpfen messen, so muß man das Meßgerät mit einem Strahlungsschutzrohr umgeben. Knoblauch und Hencky beschreiben in ihrem Buch: „Technische Temperaturmessungen“ diesen Strahlungsschutz. Trotzdem haben ihn Knoblauch und Reiher nicht angewendet. Ich habe unmittelbar nach dem Erscheinen der Arbeit von K. und R. auf diesen Mangel hingewiesen, aber Herr Dr. Deinlein bezeichnet sie unentwegt als einwandfrei. Da mir ein Laboratorium nicht zur Verfügung steht, konnte ich damals den durch diesen Mangel der Versuchseinrichtung entstehenden Fehler nicht zahlenmäßig nachweisen. Doch erhielt ich später die Gelegenheit dazu, als mir die A.G. f. Anilin fabrikation, Farbenfabrik Wolfen, erlaubte, bei den Versuchen ihres Herrn Dr. ReißmannZeitschrift „Die Wärme“ 1927. 342. zu dieser Frage zugegen zu sein. R. ging von einer Versuchsanordnung aus, wie die der Herren K. und R., prüfte sie aber zunächst mit reinem Wasser und erhielt dabei Temperaturen viel heißer als 100°. Auf meine Veranlassung wurde als erste Abänderung ein Strahlungsschutz um das Thermoelement gelegt. Dann wurde der Luftmantel oben geöffnet, so daß auch in diesem Mantel der Dampf nach oben strömt. Durch diese beiden Aenderungen gingen bei einem Oelbad von rund 120° die als die Temperatur des aus reinem Wasser entstehenden Dampfes anzusehenden Angaben des Thermoelementes von 110,4° auf 108,1° zurück. Um ebensoviel muß man die Temperaturangaben bei Knoblauch mindern, wenn man auch dort eine strahlungsfreie Temperatur haben will. Knoblauch hat also nur durch eine fehlerhafte Versuchsanordnung die Temperatur der Lösung im Dampf wiedergefunden, und auch aus seinen Messungen folgt, wenn man sie wegen der Strahlung verbessert, daß Gay-Lussacs Behauptung falsch ist. Noch nachdem ich auf Grund der Beobachtungen von Dr. Reißmann diese Rechnung durchgeführt hatte, bezeichnete Herr Dr. Deinlein und mit ihm wohl alle Fachleute Knoblauchs Arbeit als einwandfrei.Dingler: Die Entstehung der Sternbilder und die Zahl 7. Ar oh. Gesch. Math, usw. 11. 1929. 267. Man sieht, daß auch zahlenmäßig als fehlerhaft nachgewiesene Versuche als einwandfrei angesehen werden, wenn sie das zu bringen scheinen, was die große Menge hören will. Beachtenswert ist ferner, daß Herr Dr. Reißmann seine Versuchsanordnung, welche auch nach den von mir verlangten Abänderungen für den aus reinem Wasser entstehenden Dampf eine Temperatur von 105° ergibt, als so völlig befriedigend bezeichnet, daß mit ihr die Temperatur des aus einer Lösung entstehenden Dampfes einwandfrei gemessen werden kann. Das mit dieser Versuchsanordnung erhaltene Ergebnis, daß der Dampf mit der Temperatur der Lösung entstehe, findet allgemeine Anerkennung. Ueber die bis zu 5° betragenden durch die Versuchsanordnung bedingten Fehler wird frisch hinweggesehen. 13. Einwandfreie, aber unvollständig verwertete Versuche. Neben diesen geradezu falschen Versuchen gibt es auch solche, deren Versuchsanordnung wohl einwandfrei, deren Ergebnis aber nicht richtig verwertet worden ist. Ich erwähnte schon oben die Versuche von Magnus, aus welchen dieser wohl geschlossen hat, daß der Dampf nicht die Temperatur der Lösung hat, sondern kälter ist, aus denen aber alle späteren, welche sich auf sie berufen, doch Gay-Lussacs Behauptung herleiten. Dasselbe unmittelbare Ergebnis haben Harker, Möbius und andere gehabt. Auch sie finden wie Magnus im Dampf eine zwischen der der Lösung und der des Lösungsmittels liegende Temperatur. Statt aber nun wie dieser einfach diese Tatsache anzuerkennen, behaupten sie, der Dampf habe beim Entstehen die Temperatur der Lösung gehabt, habe sich aber auf dem Wege bis zur Meßstelle abgekühlt. Ebenso wie Regnault zwar behauptet, der Stiel seines Thermometers habe Wärme nach außen abgeleitet, so daß es eine zu kalte Temperatur gezeigt habe, ohne daß er den Mangel abstellt oder durch zahlenmäßige Prüfung dieses Mangels eine Berichtigung der unmittelbaren Ablesung ermöglicht, so bringen auch diese beiden für ihre Behauptung keinen Beweis, obgleich er doch leicht möglich gewesen wäre: Ein an die Wand des Dampfraumes angelegtes Thermoelement hätte deren Temperatur angezeigt und dann hätten die Forscher urteilen können, ob ihre Deutung der unmittelbaren Ergebnisse richtig sei oder nicht. Beide haben das nicht getan. Ebensowenig wie Regnault und Knoblauch haben sie die Zuverlässigkeit, die Fehlergrenzen ihrer Versuchsanordnung geprüft. Ueberall sieht man dieselbe Scheu, diese Prüfung vorzunehmen, wenn das unmittelbare Ergebnis nicht den Erwartungen entspricht. Die Prüfung wird dann wie schon bei Gay-Lussac durch schöne Andeutungen ersetzt, mit denen die glauben wollenden Fachgenossen zufrieden sind. Dieses sehr nahe an Unlauterkeit streifende Verhalten der Forscher könnte von manchem wirklich als Unlauterkeit, als bewußte Fälschung gedeutet werden. Schon daß Regnault an der Spitze der hier aufgezählten Forscher steht, bürgt dafür, daß bewußte Fälschung sicher nicht vorliegt. Dieses Verhalten ist nichts als der Ausdruck der nackten Tatsache, daß alle Versuche nichts beweisen, daß jeder Forscher allein seine wissenschaftliche Gesamtanschauung als richtig betrachtet. Sobald das unmittelbare Ergebnis des Versuches gegen diese Anschauung aussagt, wird die Versuchsanordnung nicht weiter durchgebildet, sondern bleibt in ihrer Unvollständigkeit liegen, welche ermöglicht, sich durch allgemeine Sätze selbst zu täuschen und die eigene Anschauung zu retten. Die Berufung auf die Möglichkeit von Beobachtungsfehlern gestattet stets, derartige Beobachtungen als die Anschauung bestätigend hinzustellen. Joule, welcher seine Versuchsanordnung so lange weiter ausbildet, bis er das von ihm erwartete Ergebnis findet, ist eine äußerst seltene Ausnahme unter den Forschern. Er war aber auch Bierbrauer. 14. Meine neuesten Versuche. Trotzdem mir kein Laboratorium, überhaupt keine Mittel zur Verfügung stehen, Versuche durchzuführen, habe ich nicht nachgelassen, überall, wo es ging, Mittel zu erbitten, um meine Versuchsanordnung weiter auszubilden. Da es bei der heutigen Lage Deutschlands schwer hält, Mittel für rein wissenschaftliche Forschungen zu erhalten, so habe ich lange Zeit gebraucht, um zum Ziel zu gelangen. Bei meiner schließlich doch ermöglichten letzten Versuchsanordnung habe ich mich bemüht, jegliche Beeinflussung des Dampfes nach seinem Entstehen zu vermeiden und, um die unvermeidbaren Beeinflussungen beurteilen zu können, die Temperatur an 11 verschiedenen Stellen gemessen.Schreber: Wolfener Versuche, Chem. Apparatur XIII. 1926. 13 ff., 128. Reißmann: Z. angewandte Chemie. 1925. 1040. Ich habe Wärmeabwanderungen aus dem Dampf, wie die Zahlen zu beweisen imstande sind, soweit man ihre Beweiskraft überhaupt anerkennt, ganz unmöglich gemacht; Wärmezuwanderungen zu vermeiden ist mir nicht ganz gelungen, aber auch diese sind gering und lassen sich aus den beobachteten Zahlen in ihrer Einwirkung auf das Ergebnis beurteilen. Trotzdem habe ich im Dampf nicht die Temperatur der Lösung gefunden, sondern eine bedeutend kältere. Gay-Lussacs Behauptung ist somit falsch. Allerdings fand ich auch nicht die Temperatur des siedenden Lösungsmittels, sondern wie schon Magnus eine etwas wärmere. Wie Joule auf Grund der bei den ersten Versuchen gemachten Erfahrungen seine Versuchsanordnung immer weiter und weiter verbessert, so hatte ich jetzt auf Grund meiner Wolfener Erfahrungen meine Versuchseinrichtungen so durchgebildet, daß ich die Herkunft dieser Temperatur durch Beobachtung feststellen konnte: Die entstehende Dampf blase, welche die Temperatur des siedenden Lösungsmittels hat, ist während ihres Entstehens, so lange sie noch an der Heizwand haftet, und während ihres Aufsteigens durch die Flüssigkeit in einer wärmeren Umgebung und kann folglich durch Leitung und Strahlung Wärme aufnehmen. Die Temperatur der Wandung des Kochgefäßes habe ich regelmäßig gemessen und sie durch eine besondere Heizwickelung bis zum obersten Rand hin stets gleich der Temperatur der Lösung oder etwas wärmer gehalten. Ich war also über die Temperatur der Wandung unterrichtet und konnte prüfen, ob diese möglichen Beeinflussungen des entstehenden Dampfes wirklich eintreten. Ich habe in einem spiegelnd vernickelten und einem strahlend geschwärzten Topf gekocht. Das Ergebnis war, daß aus dem spiegelnden Topf der Dampf stets kälter zur Meßstelle gelangt als aus dem strahlenden. Da nun der spiegelnde Topf den Dampf weniger beeinflußt als der strahlende, so muß der Dampf bei seinem Entstehen noch kälter gewesen sein, als er aus dem spiegelnden herauskommt. Dann kann er nur mit der Temperatur des siedenden Lösungsmittels entstanden sein und die gemessenen Temperaturen sind Folgen nachträglicher Beeinflussung durch Leitung und Strahlung. Ob meine Gegner denselben Schluß ziehen werden, ist noch immer fraglich. Vielleicht finden sie doch einen Haken, wo sie ihre Einwendungen anhängen können. Joule hat ja auch, wie oben berichtet, die Einwendungen Thomsons nicht vermutet. Aber selbst wenn kein Einwand erhoben wird, so haben meine Gegner noch immer die Möglichkeit, meine Versuche tot zu schweigen. Wie soll ich jemand zwingen, auf sie Rücksicht zu nehmen? Wie soll ich eine wissenschaftliche Zeitung zwingen, über die Ergebnisse zu berichten? Wie kann ich in einer Zeitschrift, welche über die Fortschritte der Wissenschaft berichtet, einen sachlichen Bericht durchsetzen? Es gibt der Möglichkeiten genug, um einen Versuch, gegen dessen Beweiskraft nichts mehr einzuwenden ist, doch unwirksam zu machen, wenn er der großen Menge nicht gefällt. Schon aus den Wolfener Versuchen hatte ich geschlossen, daß zur völlig einwandfreien Prüfung der Erkenntnis Faradays nur solche Versuche benutzt werden dürfen, welche die Beeinflussung des entstehenden Dampfes durch Leitung und Strahlung von vornherein unmöglich machen (a.a.O. 132). Das ist bei Versuchen, in welchen eine Lösung wirklich Dampf entwickelt, grundsätzlich nicht zu erreichen, weil man die Temperatur nicht im Augenblick des Entstehens messen kann. Insofern sind also meine eben erwähnten Versuche auch noch nicht ganz beweiskräftig. Man kann aber diese Prüfung mittelbar vornehmen, indem man die gemessene elektromotorische Kraft von Reichtumsketten mit der nach Helmholtz berechneten vergleicht und der Berechnung einmal die Erkenntnis Faradays und das andere Mal die Behauptung Gay-Lussacs zugrunde legt. Ich habe in dieser Weise die Beobachtungen von Dolezaleck und Thibaut über die elektromotorische Kraft von Akkumulatoren in Abhängigkeit vom Reichtum der Säure berechnet. Die Rechnung entscheidet zugunsten von Faraday.Das oben mitgeteilte Urteil des Herrn Dr. D. ist durch meine Veröffentlichungen aus dem Jahre 1926, zu welchen auch die über die Wolfener Versuche gehörte, veranlaßt. Da die Genauigkeit namentlich der Versuche von Dolezaleck im Vergleich mit der mit den heutigen Mitteln zu erreichenden nicht groß ist, habe ich Vorsteher von Laboratorien gebeten, diese Versuche in Hinblick auf die hier vorliegende Frage mit der heut möglichen Genauigkeit wiederholen zu lassen. Wo ich diese Bitte schriftlich vorlegte, bekam ich einfach keine Antwort, und dort, wo ich sie mündlich vortrug, wurde ich abgewiesen. Eine derartige Unterhaltung wird mir unvergessen bleiben. Auf meine Bitte bekam ich die Antwort: „Die Sache ist für uns entschieden.“ Ich: „Aber die als entscheidend angesehenen Versuche sind nicht einwandfrei.“ Vorsteher: „Beweisen Sie das.“ Ich: „Ihre Hilfe dazu zu erbitten, bin ich hierhergekommen.“ Vorsteher: „Die Sache ist für uns entschieden,“ usw. usw. Nicht Versuche, sondern nur seine wissenschaftliche Gewohnheit gab ihm seine unerschütterliche Ueberzeugung. Ich habe deshalb meine Rechnung auf die Versuche von Dolezaleck und Thibaut beschränken müssen. Es stellte sich dabei heraus, daß die Beobachtungen immerhin noch genau genug waren, die Entscheidung treffen zu können. Sie fiel, wie gesagt, zugunsten Faradays aus. Beachtung hat diese Verwertung seit jeher als einwandfrei angesehener Versuche nicht gefunden, denn das Ergebnis dieser Rechnung widerspricht der allgemein beliebten Anschauung. 15. Duhems Vorschrift zur Ueberwindung des Widerstandes. Auch Duhem hat schon die Schwierigkeit erkannt, durch einwandfreie Versuche irgendeinen Widerstand der Anschauungen der Forscher überwinden zu wollen. Er schreibtSchieber: Die Temperatur des von einer Lösung abziehenden Dampfes. Chem. Apparatur 1929. 21. Frühere Versuche und Schrifttum. Z. techn. Physik 1928. 277.: „Wenn das Experiment gewissen Folgerungen einer Theorie widerspricht, lehrt es uns wohl, daß diese Theorie modifiziert, aber es sagt uns nicht, was geändert werden muß. Dem Scharfsinn des Physikers bleibt es überlassen, den Fehler zu suchen, an dem das ganze System leidet.“ Leider scheint sich Duhem hierin geirrt zu haben. Schon von Anfang meines Kampfes an habe ich darauf hingewiesen, daß der aus einer Lösung entstehende Dampf gegen den osmotischen Druck der Lösung Arbeit leisten muß, weil durch das Eindampfen die Lösung auf einen engeren Raum zusammengedrängt, der osmotische Druck auf einen stärkeren Wert gebracht werden muß; und weil nach Carnot-Clausius eine Wärmemenge, hier die Verdampfungswärme, nur dann eine bestimmte Arbeit leisten kann, wenn ihr ein Temperaturunterschied von hinreichendem Betrage zur Verfügung steht. Die Siedetemperatur der Lösung muß um so viel wärmer als die des Lösungsmittels sein, daß dieser Betrag des Temperaturunterschiedes herauskommt. Vom Anfang meines Kampfes an habe ich immer wieder darauf hingewiesen, daß das Eindampfen einer Lösung die Umkehrung des Faraday-Landsberger sehen Versuches ist, welcher allgemein anerkannt wird und nach welchem man eine Lösung durch Einleiten des Dampfes ihres Lösungsmittels bis auf ihre Siedetemperatur, also auf eine heißere Temperatur, als sie der heizende Dampf selbst hat, erwärmen kann, und daß dieser Uebergang der Verdampfungswärme von der kälteren auf die wärmere Temperatur nur durch die Arbeit des osmotischen Druckes ermöglicht wird. Wie hier der osmotische Druck Arbeit leistet, um die Verdampfungswärme von der Siedetemperatur des Lösungsmittels auf die Siedetemperatur der Lösung zu erwärmen, so muß beim Eindampfen gegen den osmotischen Druck Arbeit geleistet werden, wodurch die Verdampfungswärme von der Siedetemperatur der Lösung bis auf die des Lösungsmittels abgekühlt wird. Der Erwärmung der Verdampfungswärme durch die Arbeit des osmotischen Druckes in einem Vorgang steht die Abkühlung der Verdampfungswärme bei der Arbeitsleistung im anderen Vorgang gegenüber. Auch diese wissenschaftlichen Darlegungen haben keine Erfolge gehabt. Auch die von Duhem gestellte Aufgabe: „den Fehler zu suchen, an welchem das ganze System leidet,“ reicht nicht aus, einem einwandfreien Versuche Beweiskraft zu verschaffen, wenn er der herrschenden Meinung der Fachleute widerspricht. GehrkeSchreber: Z. f. Elektrochemie 1926. 143. sagt: „Der Forscher, welcher eine neue Wahrheit entdeckt, hat nicht nur die sachliche Schwierigkeit der Beweisführung zu überwinden, er hat meist auch gegen das Uebelwollen von Menschen und gegen die Trägheit der Gehirne anzukämpfen.“ Im Anschluß an die Mitteilung meiner letzten Versuche habe ich die oben im Abschnitt Entropiegleichung besprochene Fortentwicklung „des ganzen Systems“ kurz dargestellt. Ob die Physiker jetzt imstande oder auch nur gewillt sind, auf diesen Unterschied zwischen umkehrbarem Vorgang und Gleichgewichtszustand (einzugehen, von der Behandlung des in der Natur niemals vorhandenen Ruhezustandes abzulassen und an der Behandlung des mit endlicher Geschwindigkeit verlaufenden wirklichen Vorganges mitzuarbeiten, muß ich abwarten. Kommen muß dieser Uebergang von der Behandlung des Ruhezustandes zu dem des Vorganges einmal, denn es gibt eben in der Natur keinen Ruhezustand, sondern nur mit endlicher, nach den Forderungen der Technik sogar mit schneller Geschwindigkeit verlaufende Vorgänge. Ist er gekommen, wird man auch meine Versuche als einwandfrei anerkennen. Sterbe ich vorher, dann bin ich einer der vielen, welche die Wahrheit zu früh erkannt haben, ehe sie von den Zeitgenossen verstanden werden konnte und ich muß mich jetzt damit trösten, daß man dann auch meine Arbeiten ausgraben wird, wie man heute die von ihren Zeitgenossen ebenfalls nicht anerkannten Arbeiten Rumfords und Davys ausgegraben hat. 16. Das wissenschaftliche Gefühl. Wenn, wie aus dem Vorstehenden geschlossen werden muß, der einwandfreieste Versuch keine Beweiskraft hat, so entsteht die Frage, wie kommt denn ein wirklicher Fortschritt der Wissenschaft auf dem Wege zur Wahrheit zustande? Diese Frage läßt sich wie alle Fragen der Naturwissenschaften nur durch Induktion beantworten. Wir müssen sehen, wie es große Naturwissenschafter gemacht haben und uns danach richten. Keppler sagt: „Mein guter Genius hat es mir gegeben,“ und Robert Mayer schreibtDuhem a. a. O. 290.: „Einige Gedankenblitze, die mich, es war auf der Reede von Surabaya, durchfuhren...“ Aehnliches wird auch von Zeuner berichtet.Gehrke: Physik und Erkenntnistheorie 1921. 5. Dieser „gute Genius,“ diese „Gedankenblitze“ bedeuten nichts anderes als unbewußt vorgenommene Induktion aus einer mehr oder weniger großen Zahl von Erfahrungen. Die Unterlage für das Arbeiten des „guten Genius,“ für die „Gedankenblitze“ bilden die unbewußt zusammengefaßten Erfahrungen einer langen Zeit der Gedankenarbeit. Joule hatte bei seinen Arbeiten über die Wärmeentwicklung in Drähten durch unbewußte Induktion die Ueberzeugung gewonnen, daß zwischen der Arbeits- und der Wärmeeinheit eine ganz bestimmte unveränderliche Umrechnungszahl vorhanden sein müsse. Als ihm seine ersten Versuche eine solche nicht brachten, war ihm seine innere Ueberzeugung wichtiger als diese Versuche. Er suchte den Grund für den Widerspruch zwischen Versuchsergebnis und Ueberzeugung in mangelhafter Versuchseinrichtung und verbesserte diese so lange, bis er befriedigt war, d.h. bis seine Versuche das ergaben, was seine vor ihrem Beginn durch Induktion entstandene Ueberzeugung verlangte. Clausius war sich sicher nicht bewußt, daß er eine Induktion aus einer großen Zahl von Erfahrungen über die Beziehungen zwischen der Arbeit, namentlich der Reibungsarbeit, und der Wärme vornahm, als er die recht kurze Einleitung zu seiner langen ersten Arbeit schrieb. Aber weil es ihm gelang, an diese seine Induktion gleich ein vollständiges Lehrgebäude eines recht umfangreichen Teiles der Wissenschaft anzuschließen, so fand sein, kraft seiner physikalischen Ueberzeugung, seines physikalischen Gefühls aufgestellter Satz schnell Anerkennung, trotzdem seine Arbeit keinen einzigen Versuch enthält. Dauernde Fortschritte der Physik werden nur erreicht durch das „physikalische Gefühl,“ den „physikalischen Sinn,“ welcher auch nicht das geringste mit mathematisch deduktivem Denken zu tun hat, sondern stets unbewußtes, scharfsinniges Zusammenfassen von Erfahrungen durch Induktion ist. Die mathematische Deduktion setzt den Glauben an ein Dogma, z.B. an die mechanistische Naturauffassung, voraus, aus welcher sie ableitet, statt zu beobachten und eine mehr oder weniger große Zahl von Beobachtungen durch Induktion zusammenzufassen. So tritt „an Stelle der wissenschaftlichen Erkenntnis die Ueberzeugung, d.h. der Glaube, welcher jede sachliche Prüfung unter starker Gefühlserregung ablehnt.“Mayer: Kleinere Schriften. 1893. 213. Nachdem ich jetzt, veranlaßt durch die Erfahrungen an den Wolfener Versuchen, meine neueste Versuchsanordnung durchgebildet und mit ihr gefunden habe, daß der von der Lösung abziehende Dampf eine durch den Einfluß von Leitung und Strahlung bedingte wärmere Temperatur hat als der aus der Lösung entstehende, muß zugegeben werden, daß die unmittelbare Beobachtung von Faraday ungenau war. Sein „physikalisches Gefühl,“ welches ihm auch sonst die richtige Verwertung von Beobachtungen zeigte, welches ihn berühmt gemacht hat, hat ihm auch hier gezeigt, daß der aus der Lösung entstehende Dampf die Temperatur des siedenden Lösungsmittels haben muß; gleichgültig, welche Temperatur der von der Lösung abziehende Dampf hat. Bei Gay-Lussac ist dieses physikalische Gefühl durch seine scholastische Einstellung gehemmt, so daß er anfing zu deduzieren, ehe er induziert hatte und dadurch nicht nur selbst auf eine falsche Bahn geriet, sondern auch viele Forscher vom richtigen Wege abgelenkt hat. Auch bei mir war es, als ich auf die Frage nach der Temperatur des aus einer Lösung entstehenden Dampfes geführt worden war, einfach das physikalische Gefühl, welches mir sagte, daß der entstehende Dampf die Temperatur des siedenden Lösungsmittels habe. Ich war durch den langjährigen Besitz der vollständigen Entropiegleichung an die Behandlung von Vorgängen gewöhnt und wandte das Gesetz des osmotischen Druckes sozusagen unbewußt auf den Vorgang des Eindampfens an. Erst als ich Widerspruch fand, begann ich aus dem Intensitätssatz zu deduzieren, und als das nichts half, Versuche anzustellen. Jetzt bin ich soweit, daß ich auch diesen keine Beweiskraft mehr zutraue. Der „gute Genius“ ist zwar ein sehr wertvoller Arbeiter, aber kein Lohnarbeiter, welcher antritt, wenn er gerade gewünscht wird. Die „Gedankenblitze“ kommen nicht auf Bestellung, sondern erst, wenn das Hirn die unbewußte Induktion vorgenommen hat, wenn es die Erfahrung still verarbeitet hat. Trotzdem versucht man jetzt, den „guten Genius“ zu organisieren. Ein beliebtes Mittel hierzu ist, daß man die Forscher veranlaßt, am Schluß ihrer Arbeit eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse in kurzen Sätzen zu geben. Dadurch werden die Leser verführt, die Arbeit selbst nur flüchtig anzusehen, jedenfalls nicht so sorgfältig zu bearbeiten, daß sie Fehler der Versuchsanordnung erkennen. Es wird das Ergebnis hingenommen, als wäre es einwandfrei gewonnen. Sind z.B. im Schlußergebnis Zahlen für einen Begriff mitgeteilt, so werden sie mit Zahlen für denselben Begriff aus anderen Arbeiten zusammengestellt, selbst wenn die Arbeiten einen recht verschiedenen Betrag der Genauigkeit dieser Zahlen bedingen. Da Dr. Reißmann in seiner Zusammenfassung der Ergebnisse der Wolfener Versuche nicht mitgeteilt hat, daß seine Versuchsanordnung selbst nach Anbringen der von mir verlangten Aenderungen für Dampf aus reinem Wasser noch immer die Temperatur von 105° bedingt, so wird die Versuchsanordnung, deren Ergebnis mit den Wünschen der Leser übereinstimmt, ohne weiteres als einwandfrei angesehen und die Arbeit selbst nicht geprüft. Ob dieses Organisieren des „guten Genius“ der Wissenschaft dienlich ist, scheint mir doch recht zweifelhaft, selbst wenn es den Schnellbetrieb ermöglicht. Das physikalische Gefühl scheint aber auch bei denen, welche es erfolgreich angewendet haben, leicht nachzulassen. R. Mayer schreibt im unmittelbaren Anschluß an jene eben erwähnte Stelle: „Jene Zeiten sind vorüber.“ Bei Clausius scheint mit der Einleitung zu seiner ersten grundlegenden Arbeit die Zeit der unbewußten Induktion nahezu vorbei gewesen zu sein. Nachdem er bis zum Begriff der Entropie gelangt war, hörte seine Schöpferkraft auf und er begann aus dem, was er bisher erreicht und was er von seinen Lehrern erlernt hatte, zu deduzieren. Das Deduzieren entfernt aber immer weiter von der Quelle der Wahrheit, von der unmittelbaren Erfahrung, welche nur durch Induktion verwertet werden kann. So ist es weder ihm noch seinen Nachfolgern gelungen, aus der Ungleichung für die Entropie eine bei allen Vorgängen brauchbare Gleichung zu machen, und die Physik hängt noch immer an der Behandlung des in der Natur nicht vorhandenen Gleichgewichts-, Ruhezustandes, weil der „gute Genius“ Clausius zu früh verlassen hat. 17. Weltanschauung. Nachdem wir so erkannt haben, daß für den Fortschritt der Wissenschaft nicht der Versuch, sondern allein das wissenschaftliche Gefühl den Ausschlag gibt, darf ich noch einmal auf einige Stellen zurückkommen, welche vielleicht Widerspruch erweckt haben. Wenn ich oben nachgewiesen habe, daß die Berufung Joules auf die Allmacht des Schöpfers unbegründet war, so muß doch zugegeben werden, daß sie auf sein physikalisches Gefühl eingewirkt hat. Ohne die Ueberzeugung von der Allmacht des Schöpfers und das Vertrauen auf seine daraus gezogene Folgerung hätte Joule nach dem Mißerfolg seiner ersten Versuche seine Gedanken aufgeben müssen. Nur das Vertrauen zu ihr hat ihn veranlaßt, an der Durchbildung seiner Versuchsanordnung weiter zu arbeiten, bis er schließlich die gesuchte Zahl mit einer für die damaligen Meßverfahren bewunderungswürdigen Genauigkeit gefunden hatte. Gay-Lussac, Regnault, Wüllner sind im Gedankenkreis des Thomas von Aquino erzogen und unterliegen deshalb den Nachwirkungen der Scholastik. Auf die Erziehung von Faraday, Rudberg, Magnus hat der Aquinate keinen Einfluß gehabt, deshalb sind sie frei von der Scholastik. Man erkennt, daß die gesamte Weltanschauung auch auf die sogenannten exakten Naturwissenschaften von großem Einfluß ist, so sehr die Vertreter dieser Wissenschaften auch auf ihre Exaktheit pochen. Der Glaube an die mechanistische Naturauffassung ist fast zu einem „allein selig machenden“ Dogma geworden. Nur was sich aus ihr mit mehr oder weniger kühnen Hypothesen deduzieren läßt, findet Gnade vor den Augen der Forscher. Einem Versuch, einer Beobachtung unbefangen gegenübertreten kann jetzt fast kein Naturwissenschaftler mehr und deshalb hat der Versuch seine Beweiskraft verloren. Wir sind im besten Zuge, auf dem Umweg über die mathematische Deduktion, über die mathematische Physik in eine Naturphilosophie hineinzugleiten, welche schlimmer ist, als die von Schelling-Hegel. Deshalb das fortwährende Klagen über die Krisen in der Physik.