Titel: | Kleinere Mitteilungen. |
Fundstelle: | Band 315, Jahrgang 1900, Miszellen, S. 370 |
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Kleinere Mitteilungen.
Kleinere Mitteilungen.
Die praktische Bedeutung chemischer Arbeit.
Ueber dieses Thema hielt Privatdozent Dr. J. Schmidt an der Technischen Hochschule zu Stuttgart am 8. Mai seine Antrittsvorlesung. In unserer Zeit tritt mehr denn je die Errungenschaft
gelehrter Forschung in den Dienst des gewerblichen Lebens. Vor allem soll die Chemie in glücklicher Anwendung wissenschaftlicher
Erkenntnis auf praktische Probleme stets neue Gebiete erobern. Inwieweit sie dieser Forderung bis jetzt gerecht geworden ist,
geht aus den Errungenschaften der anorganischchemischen Technik, sowie der Teer- und Farbenchemie und aus der Bedeutung chemischer
Arbeit für die Heilkunde klar hervor. – Aus der anorganischen Chemie sei nur die Technologie der Kalisalze, der Soda und der
Schwefelsäure herausgegriffen. An der Hand von Untersuchungen des Bodens und der Ernteergebnisse wies Liebig nach, wie gering der Kaligehalt des Bodens ist, während doch beispielsweise eine Kartoffelernte jedem Hektar 100 kg, eine
Rübenernte sogar 116 kg Kalisalze entzieht. Die Notwendigkeit, Ersatz zu schaffen, ging aus dieser Untersuchung klar hervor.
Als daher die Untersuchung gewisser Schichten, welche man 1852 bis 1856 durchteufte, um zu dem Stassfurter Steinsalz zu gelangen,
ergab, dass diese Abraumsalze viel Kali enthielten, war die Verwendung derselben für landwirtschaftliche Zwecke gewiesen.
Man kann den Gesamtwert der Kalisalzförderung bis 1890 auf rund 230 Millionen Mark veranschlagen. Was durch Einführung der
Kalisalze unmittelbar von der Landwirtschaft gewonnen wurde, ist in Zahlen nicht anzugeben; doch sei darauf hingewiesen, dass
es ohne Kenntnis und Verwertung der durch Liebig begründeten Lehren nicht möglich gewesen wäre, den Bau der Zuckerrüben Jahrzehnte hindurch mit dem bekannten Erfolge fortzusetzen.
Für die Soda und andere Alkalien, welche früher aus natürlichem Vorkommen in beschränkter Weise beschafft wurden, haben die
Erfindungen von Leblanc und Solvay, welche die Soda auf künstlichem Wege aus dem Kochsalz darstellen lehrten, eine unversiegbare Quelle eröffnet. Der Preis der
Tonne Soda fiel demzufolge von 200 Mark im Jahre 1878 auf 80 Mark im Jahre 1886. Die jährliche Sodaerzeugung in Deutschland
beläuft sich jetzt auf etwa 190000 t im Werte von über 19 Millionen Mark, wobei 12000 Arbeiter Beschäftigung finden. Wie die
Alkalien, so sind auch die Säurenallgemeine Hilfsmittel grosser Gewerbebetriebe. Wie auch bei ihrer Darstellung die Erforschung der chemischen Vorgänge zu
Besserem geführt hat, zeigt sich am deutlichsten an der Schwefelsäure. Die Schwefelsäureerzeugung der ganzen Welt wurde 1878
auf mehr als 1 Million Tonnen geschätzt; seitdem dürfte sich die jährlich erzeugte Menge mindestens verdoppelt haben, während
zugleich der Preis etwa auf die Hälfte herabgegangen ist. In Deutschland wurden 1890 460000 t Schwefelsäure im Werte von 15
Millionen Mark in 70 Fabriken mit mehr als 3700 Arbeitern dargestellt. – Keine Industrie zeigt die Wirkung chemischer Arbeit
in intensiverem Masse als diejenige der künstlichen Farbstoffe. Gegenwärtig wird mehr als die Hälfte des überhaupt auf der
Erde gewonnenen Steinkohlenteers lediglich verarbeitet, um in Farbstoffe umgewandelt zu werden. So z.B. ist die künstliche
Darstellung des Alizarins, des Farbstoffes der Krappwurzel, als erste technisch durchgeführte Synthese eines in der Natur
vorkommenden Farbstoffes von hervorragender Bedeutung. Sie führte zur Vernichtung des Krappbaues in den Mittelmeerländern
und damit zu volkswirtschaftlichen Umwälzungen Grössen Stils. Bodenflächen, deren Jahresertrag in Frankreich allein auf
34 Millionen Mark geschätzt wurden, traten infolge dessen wieder in den allgemeinen Rahmen landwirtschaftlicher Benutzung
ein. Auch die Frage nach einer zweckmässigen künstlichen Darstelluzg des Indigos scheint nunmehr gelöst zu sein. Eine annähernde
Schätzung des Wertes der Gesamterzeugung von Teerfarbstoffen in Deutschland ergibt für das Jahr 1890 65 Millionen Mark. Dass
die Summe nicht grösser erscheint, liegt in dem gewaltigen Rückgange der Preise, da der Wert der Farbstoffeinheit 1890 höchstens
0,4 vom 1878er Werte erreichte. So z.B. wurde im Jahre 1866 1 kg Fuchsin noch mit 1200 Mark bezahlt, während es heute 8 bis
10 Mark kostet. In Deutschland waren 1890 behufs Herstellung von Farbstoffen 21 Fabriken im Betriebe mit 10237 Arbeitern,
welchen 10½ Millionen Mark Lohn gezahlt wurden. Als Folge verdient auch hervorgehoben zu werden, dass überseeische Länder,
welche früher die Welt mit natürlichen Farbstoffen versorgten, jetzt bedeutende Mengen von Teerfarbstoffen aus Europa beziehen.
Und wenn man sich ferner noch erinnert, dass aus Teerprodukten auch die verschiedensten Sprengmittel, ferner das Fahlberg'sche Saccharin und der Baur'sche künstliche Moschus fabri- ziert werden, dann erkennt man, dass hier die chemische Arbeit das Wort von der Verwandlung schmutziger Abfälle in Gold wahr
gemacht hat. Aber die praktische Bedeutung der chemischen Wissenschaft ist nicht erschöpft, wenn man nicht noch ihre
Beziehungen zur Heilkunde zur Darstellung bringt. Jedes Feld ärztlicher Thätigkeit, das überhaupt chemischen Einflusses zugänglich
ist, trägt die Spuren chemischer Arbeit. Man erkennt dieselben am deutlichsten auf den Hauptgebieten der Therapie, der arzneilichen
und diätetischen Behandlung. Hier sei nur noch auf die ausserordentlich wichtige Förderung hingewiesen, welche die Chemie
dadurch erfahren hat, dass sie die Darstellung bisher unbekannter Substanzen lehrte, die eine Einwirkung auf den tierischen
Organismus und seine Krankheiten zeigten. Aus den Ergebnissen chemischer Forschung hat man Mittel entstehen sehen, die Schmerzen
lindern, Schlaf bringen, wie das Chloral und Sulfonal, Wunden heilen, wie das Jodoform und Airol, Fieber vertreiben, wie das
Antipyrin und Phenacetin, Unzähligen zum Trost und Segen.
(Schw. Mkr.)
Bücherschau.
Architektonische Stilproben. Ein Leitfaden. Mit historischem Ueberblick der wichtigsten Baudenkmäler von Max Bischof, Architekt. Mit 101 Abbildungen auf 50 Tafeln. Elegant kartoniert. Leipzig 1900. Verlag von Karl W. Hiersemann. Preis 5 M.
Das elegant ausgestattete Büchlein macht den Beschauer mit Hilfe von 101 Abbildungen der charakteristischsten Bauten aller
Stilarten mit den Merkmalen der verschiedenen Baustile vertraut. Ein kurzer Text, der zugleich die Abbildungen erläutert,
gibt einen historischen Ueberblick über die wichtigsten Baudenkmäler und deren Erbauer. Die meist untergegangenen Wunderwerke
grauer Vorzeit aus Aegypten, Babylon und Vorderasien kurz streifend, geht der Verfasser zu den Meisterbauten des klassischen
Altertums über, führt uns dann in den Altchristlich-Byzantinischen Stil ein, der von Konstantinopel seinen Ausgangspunkt nahm,
und bespricht mit knappen Worten die Architektur des Islam; er zeigt uns weiter, wie die Bestrebungen der christlichen Kirche
erst im romanischen Stile spätrömische Traditionen erkennen lassen, die weiter zur Ausbildung des gotischen Stils führen,
dessen Wiege wir in Paris zu suchen haben, obwohl wir gern geneigt seien, den gotischen Stil als spezifisch deutsch für uns
in Anspruch zu nehmen.
Ein weiterer Raum wird dann dem Renaissancestil gewidmet, der wiederum in den verschiedenen Ländern eigenartige Umbildungen
hervorruft und Abarten findet im Barock und Rokoko. Bei der guten Auswahl der Abbildungen, die die charakteristischen Formen
der Stilarten leicht erkennen lassen, und bei dem klaren übersichtlichen Text dürfte das Buch geeignet sein, weitesten Kreisen
zur Belehrung und Anregung zu dienen.
Vorlesungen über allgemeine Hüttenkunde. Uebersichtliche Darstellung aller Methoden der gewerblichen Metallgewinnung, eingeleitet durch eine ausführliche Schilderung
aller in Betracht kommenden Eigenschaften der Metalle und ihrer Verbindungen, und abgeschlossen durch eine Uebersicht aller
wichtigeren Apparate und Hilfsmittel. Von Dr. Ernst Fr. Dürre, Professor der Hüttenkunde und Probierkunst an der kgl. Technischen Hochschule zu Aachen. Zweite Hälfte mit 218 S. und 81
Abbildungen und dem Bildnis des Verfassers. Halle a. S. 1899. Wilh. Knapp. Preis 16 M.
Der vorliegende zweite Band umfasst den Rest der vierten, sowie die fünfte und sechste Vorlesung. Es werden zunächst die Hüttenprozesse
erledigt (vierte Vorlesung), sodann die festen, flüssigen und gasförmigen Brennstoffe, auch kurz die Erzeugung der elektrischen
Energie besprochen (fünfte Vorlesung), schliesslich in kurzem Ueberblick die thermischen (Oefen nebst Generatoren, Winderhitzern
und Gebläsen), die chemischen, elektrischen und mechanischen Arbeitsverfahren.
Der Wert des Buches liegt in der vergleichenden Darstellungsweise, der Berücksichtigung der neuesten Fortschritte auf metallurgischem
Gebiet und in den durchweg modernen und guten Abbildungen.
Die künstliche Seide, ihre Herstellung, Eigenschaften und Verwendung. Unter Berücksichtigung der Patentlitteratur bearbeitet von Dr. Karl Süvern. Mit 25 in den Text gedruckten Figuren und 2 Musterbeilagen. Berlin 1900. Julius Springer. Preis geb. 7 M.
In dem vorliegenden Werke ist das in den deutschen und ausländischen Patentschriften und in der Fachlitteratur verstreuteMaterial über die künstliche Seide übersichtlich und erschöpfend zusammengestellt.
Verfasser beschreibt zunächst unter Wiedergabe der bezüglichen Patentschriften die Darstellung der künstlichen Seide aus Nitrocellulose
nach den Verfahren von Chardonnet (das wichtigste Verfahren), Gérard, du Vivier, Lehner (ebenfalls sehr wichtig), Bronnert und Schlumberger, Knöfler, Strehlenert, Loncle und Chartrey, Oberlé und Newbold, Cadoret und Breuer. Daran schliessen sich die Verfahren zur Darstellung künstlicher Seide aus nicht nitrierten pflanzlichen Ausgangsmaterialien
nach Langhaus, Pauly (sehr wichtig), Despaissis, Dreaper und Tompkins, Fremery und Urban; ferner die Verfahren zur Darstellung von Viscoid nach Cross, Bevan, Beadle und Stearn. Dann folgen die Verfahren, welche die Darstellung künstlicher Seide aus Materialien tierischen Ursprunges zum Gegenstand
haben, und die sogen. Verseidungsverfahren. Zum Schluss werden die Eigenschaften der Kunstseide, das Verhalten natürlicher
und künstlicher Seiden gegen chemische Agentien, das Färben der Kunstseiden und die Verwendung derselben in der Praxis besprochen.
Die beiden Beilagen enthalten acht gefärbte Muster von Chardonnet-, Lehner- und Pauly-Seide. Die Färbungen sind hübsch und
gefällig; indessen ist doch zu bemerken, dass ein Vergleich des seidenartigen Aussehens der verschiedenen Kunstseiden untereinander
dem mit diesen Produkten weniger Vertrauten eher ermöglicht würde, wenn die Proben ungefärbt geblieben wären.
Die Arbeit muss als durchaus zeitgemäss und wertvoll bezeichnet werden. Wie das vorzügliche Werk von Gardner:
„Die Mercerisation der Baumwolle“ (Berlin, Springer) dazu beigetragen hat, die Lage der Mercerisierungsindustrie zu klären, so wird auch die vorliegende Arbeit
von Süvern unzweifelhaft dazu beitragen, dass die Aufmerksamkeit von neuem in erhöhtem Masse auf die Kunstseidenindustrie gelenkt und
dadurch Veranlassung zu neuen Anregungen und Verbesserungen geboten wird. Denn auch hier handelt es sich um eine verhältnismässig
neue Industrie, die die allergrösste Beachtung verdient, und die einer Weiterentwickelung durchaus fähig zu sein scheint.
Derartige Monographien sind gar nicht hoch genug zu schätzende Unterstützungsmittel der Industrie.
B.
Zuschriften an die Redaktion.
(Unter Verantwortlichkeit der Einsender.)
Zu Heinz' Grundlagen der Fluglehre.
Im Interesse der Sache erlaube ich mir noch einmal auf die fragliche Reaktivkraft Heinz', Sarajevo, zurückzukommen (D. p. J. 1899 313 28 bis 29 bezw. 1899 314 80), und berufe mich auf meine diesbezügliche Skizze.
Nachdem Heinz den Fall, dass zwischen Kugel und Ebene Reibung nicht stattfände, annimmt, den ich ja auch angedeutet, aber nicht zeichnerisch
durchgeführt habe, weil ich nicht glauben konnte, dass Heinz sich diesbezüglich einer Täuschung hingibt, will ich darauf zurückkommen.
Nehmen wir also an, die Reibung wäre thatsächlich nicht vorhanden, so gebe ich zu, dass die Kugel beim Verrücken ihrer Unterlage
gegen die Unterlage aufwärts steigt; aber wenn Heinz glaubt, dass dies die Folge einer in der Kugel hervorgerufenen Reaktivkraft sei, so ist dies trotz alledem eine Täuschung.
Ein Sprichwort sagt, wenn Mohamed nicht zum Berge kommt, kommt der Berg zu Mohamed.
Das gilt hier; die Kugel bleibt absolut teilnahmslos, dafür geht die Ebene unter ihr weg und hebt sie natürlich in der Richtung S1.
Hat die Kugel einen Wuchtvorrat von ihrer früheren Bewegung her in der Richtung a1, dann kombinieren sich diese beiden unter Umständen zu einer heftig aufwärts schleudernden Bewegung, um so mehr, als die Kugel durch S1 mitunter von ihrer Unterlage abgestossen wird und infolgedessen thatsächlich keine Reibung auftritt.
Dieser Versuch gelingt nur dann, wenn a1 sehr gross wird im Verhältnis zu S1; selten trifft man das richtige Verhältnis; besonders bei sehr schräger Lage der Ebene.
Das dürfte das Bazin'sche von Heinz angezogene Phänomen sein; dieses Resultat beweist aber für das Vorhandensein einer positiven Reaktion der Kugel gar nichts,
dagegen alles für die bekannte Beharrung.
Ich habe absichtlich in meiner ersten Zuschrift a1 = θ werden lassen, damit keine Täuschung möglich sei über das wahre Wesen der Erscheinung.
Die vermeintliche Reaktivkraft ist nichts anderes als die Resultierende derjenigen
Kraft a1, welche die Kugel aufwärts bewegt hatDiese musste der Kugel mitgeteilt werden. und der Stosskomponente S1, welche die Kugel abzustossen strebt; letzterem Impulse gegenüber äussert die Kugel ihr Beharrungsvermögen, indem sie gleichartig wie bei a1 in der Bewegung so lange vernarrt, so lange die Ursache wirkt.
Kombinieren wir diese zwei gleichartigen BeharrungsrichtungenWas aber nicht etwa als eine Kräftezusammensetzung genommen werden darf, weil eine solche unzulässig ist, wie aus lern weiteren
hervorgehen wird., so erhalten wir eine veränderte Beharrungsrichtung; letztere wird mit der Richtung der früher erhaltenen Kraftresultierenden übereinstimmen.
Würden wir nun erstere vollkommen willkürliche Kombination von Richtungen verwechseln mit letzterer Kräftezerlegung, so würden
wir nicht wissen, was Wirkung und was Ursache in diesem Kräfteprozesse ist, wie dies ja thatsächlich Heinz passiert ist, indem er die vollkommen passive Beharrung, zufolge welcher ein Körper nicht nur in seiner jeweiligen Ruhe,
sondern auch in einer ihm erteilten Bewegung zu verharren sucht, als eine Kraft-Aktion hinstellt.
Zu dieser Täuschung mag auch der Umstand beigetragen haben, dass wir keinen wissenschaftlichen Begriff für die „scheinbare Thätigkeit“ des Beharrungsvermögens, der „wirklichen Thätigkeit“ irgend einer Energieform gegenüber zu stellen haben.
Ich schlage daher vor, dass man für jede chemische oder physikalische (kinetische, elektrische Spannungsdifferenz u.s.w.)
Differenzwirkung den Begriff Aktion anwende, dagegen für vollkommen leidende Scheinwirkungen den Begriff Passion einführe.
Passion kann auch nie Re-Aktion sein.
Heinz wird vielleicht jetzt zugeben, dass die massgebende Forschung nicht aus Hartnäckigkeit, wie er schreibt, eine Zerlegung von
\frac{M\,v^2}{2} im Sinne von Kräftezerlegung nicht zugibt, sondern aus dem logischen Grunde, wonach Ursache und Wirkung nie füreinander,
sondern stets nacheinander stehen müssen.
Mit grossem Interesse habe ich die Auseinandersetzungen über die Fliehkraft (D. p. J. 1899 315 224, 225) gelesen, möchte aber auch diesbezüglich auf das eben Gesagte verweisen.
Um jede Täuschung zu vermeiden, möchte ich ersuchen, alle Bewegungen der Kugel auf einen ausserhalb des Versuchssystems befindlichen
Punkt zu beziehen; es wird dann klar werden, dass ich nicht anders auffassen konnte, als so, dass Heinz sich selbst dagegen verwahrt (D. p. J. 1899 315 224); und nur im Interesse der Sache muss ich entschieden aussprechen, dass die gegenteilige Auffassung Heinz' unwissenschaftlich ist, und darum sinnverdunkelnd.
Das bisher bewiesene loyale Entgegenkommen der Schriftleitung wird mir vielleicht ermöglichen, die aufgestellten Axiome über
Planetenbewegung in etwas positiverer Weise zu beantworten, als es mir sogleich möglich wäre im Rahmen dieser Zuschrift.
Karl Steffen.
–––––
Replik von F. Heinz, Sarajevo: Prof. Dr. Karl Müllenhof bezeichnet in Mödebeck's Taschenbuch für Flugtechniker die Schriften Marey's als zweifellos die wichtigsten von allen Publikationen über den Flug und gerade Marey erklärt in seinem Werke: Le vol des oiseaux, S. 316, wie ich, den Segelflug auf Grund des erwähnten Bazin'schen Versuches, also aus den Wirkungen des Beharrungsvermögens, und es freut mich, mit einer so ausgezeichneten
Persönlichkeit in der Erklärung eines so unlösbar erscheinenden Problems, wie es das Segelflugproblem ist, wenigstens in der
Hauptsache die gleiche Meinung zu teilen.
Nun ist es aber bekanntlich selbst einem Marey bisher nicht gelungen, die Flugforscher zu überzeugen, dass von den vielen Segelflugerklärungen gerade die seinige diejenige
ist, welche zur Lösung des Problems führt; wie soll es dann erst mir, dem Uebedeutenden, gelingen, dieser Ueberzeugung Bahn
zu brechen?
Gleichwohl hoffe ich, dass mir dies gelingen wird, und diese Hoffnung stützt sich darauf, dass Marey wie Herr Steffen die Ansicht vertritt, dass die Kugel im Bazin'schen Versuch sich eigentlich nicht in der Richtung gegen den Stoss bewegt und den Gipfelpunkt der schiefen Ebene nur deshalb
erreicht, weil die Rollbahn unter der Kugel weggestossen wird.
Beharrungsvermögen bedeutet vom Standpunkte der Mechanik im Augenblicke des Stosses, durch welchen entweder ein Körper aus
der Ruhe in ein bestimmtes Geschwindigkeitsverhältnis, oder umgekehrt aus einem bestimmten Geschwindigkeitsverhältnisse in
den Zustand der Ruhe gebracht wird, dasselbe, wie Kraft, mit dem alleinigen Unterschiede, dass hierbei die Kraft den gebenden,
das Beharrungsvermögen dagegen den empfangenden Teil darstellt, und dieses Verhältnis erscheint in der nebenstehenden Kräfteplanskizze
des Herrn Steffen in vollkommen klarer Weise zum Ausdrucke gebracht, in welcher Rs die Grösse der Stosskraft, Ra dagegen die Grösse des Beharrungsvermögens der Kugel bedeutet.
Wirkt keine Stosskraft Rs, dann lässt sich auch keine Grösse des Beharrungsvermögens Ra angeben; ist
Rs klein, dann ist auch Ra klein; ist dagegen Rs gross, dann ist auch
Ra gross.
Etwas aber, das verschiedene Grösse annehmen kann, kann doch nicht als
„Nichts“ bezeichnet und mit dem Begriffe „teilnahmslos“ verwechselt werden.
Entspräche der Begriff „teilnahmslos“ thatsächlich dem physikalischen Vorgange des Bazin'schen Versuches, dann müsste sich ja die Kugel gleich zu Beginn der Stossdauer dem Stosse willenlos überlassen, ja dann könnte
die Rollbahn nicht einmal unter der Kugel weggestossen werden, die Kugel könnte somit auch nicht auf den Gipfel der schiefen
Ebene gelangen; dann wäre es unzulässig, in der Steffen'schen Kräfteplanskizze den Pfeil Ra einzuzeichnen, der ja gerade den ganz energischen Willen zum Ausdrucke zu bringen hat, dass die Kugel der Stosskraft nicht
folgen will.
Weil die Ebene E von der Stosskraft Rs schiefwinklig gegen die Kugel wirkt, zerlegt sich
Rs in die beiden Seitenkräfte S1 und S2 und umgekehrt, weil die Kugel im Momente des Stosses durch das Beharrungsvermögen Ra schiefwinklig gegen die Ebene E wirkt, zerlegt sich auch Ra in die beiden Komponenten a1 und a2.
Textabbildung Bd. 315, S. 372
Bezüglich S1 und a2 erklärt Herr Steffen in D. p. J. 1899
314 80: „S1 drückt die Ebene an die Kugel fest an“ und begründet dies mit: „weil die Kugel beharrt“. Wir können aber unter der Voraussetzung, dass Ra und a2 keine „Teilnahmslosigkeit“, sondern „Beharrung im Augenblicke des Stosses“ darstellen, das Verhalten von S1 und a2 richtiger so erklären: durch S1 wird die Ebene an die Kugel gedrückt, während umgekehrt durch a2 die Kugel an die Ebene gepresst wird, wobei wir nicht übersehen dürfen, dass a2 nicht vertikal gerichtet ist, also nicht die Schwerkraft darstellt, sondern mit Rücksicht auf ihre Richtung senkrecht zur
schiefen Ebene eben nichts anderes ist, als ein Teil des Beharrungsvermögens.
Wir nähern uns nun dem kritischen Punkte: Welche Wirkung ergibt sich aus der Komponente a1, die den restlichen Teil des zerlegten Beharrungsvermögens darstellt? Darauf lautet die Antwort: Ist a1 kleiner als die entsprechende Schwerkraftkomponente, dann wird die Kugel trotz der Entgegenwirkung von a1 auf der schiefen Ebene hinabrollen, wenn sie während des Stosses sich nicht am tiefsten Punkte der schiefen Ebene befand;
ist dagegen a1 grösser als die entgegengerichtete Schwerkraftkomponente, dann muss doch die Kugel in der Richtung a1 auf der schiefen Ebene aufwärts rollen!!!
Die Kugel gelangt sonach auf den Gipfel der schiefen Ebene im Bazin'schen Versuche nicht aus dem Grunde, wie Marey und Steffen glauben, weil die schiefe Ebene unter der Kugel weggestossen, sondern weil sie von a1, also von einem Teile des geweckten Beharrungsvermögens aufwärts bewegt wird.
Die Ansicht Marey's und Steffen's erweist sich demnach als unrichtig.
Wenn Herr Steffen diesem meinem Standpunkte nicht beizutreten vermöchte, dann wäre er in die peinliche Lage versetzt, die Unrichtigkeit seiner
eigenen Kräfteplanskizze nachzuweisen, weil in diesem Falle aus derselben die Pfeile Ra, a1 und a2 als belanglos ganz verschwinden müssten. Dass er sich mit diesen drei Pfeilen keinen rechten Rat weiss, geht daraus hervor,
dass er in der Erklärung zu seiner Kräfteplanskizze Ra gar nicht erwähnt und bezüglich a1 und a2 in der Fussnote des bezüglichen Aufsatzes die merkwürdige Anschauung vertritt, dass die Sache klarer ist, wenn man sich diese
beiden schlimmen Kumpane ganz wegdenkt.
Sobald wir uns einmal über die Ursachen und Wirkungen im Bazin'schen Versuchsergebnisse geeinigt haben werden, dann wollen wir näher begründen, wie ausgezeichnet sich dasselbe zur Erklärung
des Segelfluges eignet.
In einem Punkte bin ich zu den weitgehendsten Konzessionen allzeit bereit und zwar betreffs der anzuwendenden Fachausdrücke
für das, was im Bazin'schen Versuchsergebnisse mitwirkt; ob das Beharrungsvermögen Trägheit, Reaktivkraft oder „Passion“ heissen soll, das ist mir völlig gleichgültig, das zu bestimmen, überlasse ich mit der grössten Passion, der Passion des
Herrn Steffen.
Bezüglich der erhaltenen schlechten Note „unwissenschaftlich“ und
„sinnverdunkelnd“, verspreche ich mich zu bessern.