Titel: | DIE ELEKTRISCHE VOLLBAHN DESSAU–BITTERFELD. |
Fundstelle: | Band 326, Jahrgang 1911, S. 609 |
Download: | XML |
DIE ELEKTRISCHE VOLLBAHN
DESSAU–BITTERFELD.
Die Elektrische Vollbahn Dessau–Bitterfeld.
Die Elektrisierung der Hauptbahnen ist trotz wirthschaftlicher und sonstiger
Hindernisse nur eine Frage der Zeit. Die rein technischen Schwierigkeiten sind heute
kaum noch erheblich. Schon vor Jahren ist die Preußische Staatsbahnverwaltung zu
Versuchen übergegangen und hat diese inzwischen in systematischer Folge
durchgeführt. Gemeinsam mit der A. E. G. erprobte sie zunächst die Versuchsbahn
Niederschöneweide-Spindlersfeld und gewann hierbei mit dem Einphasen-System die
ersten günstigen Erfahrungen. Diese Versuchsausführung ließ sogleich den
Einphasenbetrieb auch für Hauptbahnen als allein vortheilhaft erscheinen. Auf Grund
dieser Ergebnisse wurde die Hamburger Vorortbahn Blankenese-Ohlsdorf in gleicher
Weise elektrisch ausgerüstet und seither mit demselben günstigen Erfolge
betrieben.
Die Vorarbeiten zur Einführung des elektrischen Betriebes auf Vollbahnen waren damit
befriedigend erledigt und ausreichende technische und wirthschaftliche Erfahrungen
gesammelt, um den Versuch nunmehr auf Hauptbahnen ausdehnen zu können.
Textabbildung Bd. 326, S. 609
Fig. 1.Lageplan der Strecke Dessau–Bitterfeld.
Eben diesen Versuch macht man jetzt auf der Strecke Dessau-Bitterfeld, dem mittleren
Theil von 27 km der insgesamt 118 km langen Linie Magdeburg–Leipzig–Halle. In Fig. 1 ist ein Lageplan der Strecke gegeben. Diese
Bahnlinie war aus zwei Gründen besonders geeignet; sie besitzt keinen oder geringen
militärischen Wert; und die wirthschaftliche Grundlage ist günstig, da in der Nähe
von Bitterfeld ausgedehnte, einfach abzubauende Braunkohlenfelder liegen, die sich
für diesen Zweck vorzüglich ausnutzen lassen. So wurde die Strecke Dessau-Bitterfeld
für die erste Durchführung des elektrischen Vollbetriebs gewählt und in
beschleunigtem Tempo hierfür ausgebaut.De Anlage ist in kaum einem Jahre
fertiggestellt worden und befindet sich seit Anfang 1911 in Betrieb.
Für das Kraftwerk zur Erzeugung des Fahrstroms ergab
sich die vortheilhafteste Lage in der Nähe der Mulde. Das Kühlwasser für die
Kondensation ist einfach und billig zu beschaffen und die Fundstelle der Kohlen, die
bei Bitterfeld im einfachen Tagesbau gewonnen werden, ist gleichfalls nur wenig
abseits gelegen.
Die Zentrale umfaßt zunächst nur ein Maschinenaggregat
ohne Reserve; sie soll aber beim Ausbau der ganzen Strecke um drei bis vier gleiche
Maschineneinheiten erweitert werden. Daß jede Maschinenreserve fehlt, ist an und für
sich gewiß ein Nachtheil, der hier aber erträglich wird, weil ja im Notfall durch
die alten Dampflokomotiven ausgeholfen werden kann. Wir berühren hier, wie
ersichtlich, eine empfindliche Stelle des elektrischen Betriebs, die durch die sonst
so günstige Zentralisierung der Krafterzeugung generell geschaffen wird: die starke
Abhängigkeit von Störungen innerhalb der Krafterzeugungs- und Vertheilungsanlage
gegenüber der unübertrefflichen Unabhängigkeit des Einzelbetriebs mit Lokomotiven.
Jede solche Zentralisierung muß nothwendig den Einfluß von Störungen verstärken.
Fig. 2 zeigt einen Schnitt durch das
Maschinenaggregat, welches ebenso wie die übrigen Ausrüstungstheile der Bahn durch
die A. E. G. geliefert wurde. Die Antriebsmaschine ist eine Dampfturbine der
bekannten A. E. G. Bauart; sie leistet 3750 KW bei 900 Umdr./Min., entsprechend 15
sekundlichen Perioden des Einphasengenerators. Die Turbine enthält ein Hochdruckrad
mit drei Geschwindigkeitsstufen und neun Druckstufen im Niederdrucktheil. Normal
arbeitet sie mit Kondensation, im Notfall aber auch mit Auspuff. Die Regelung der
Tourenzahl erfolgt selbsttätig durch einen Fliehkraftregler, welcher einen
Oelservomotor zur Betätigung eines Drosselventils veranlaßt. Neben dieser
selbsttätigen Tourenregelung durch Drosselung kann die Leistung durch Oeffnen oder
Schließen einzelner Dampfeintrittsdüsen von Hand verändert werden. Die
Kondensation umfaßt: einen Oberflächenkondensator, eine Dampfturbine zum
Pumpenantrieb, eine Kühlwasserpumpe zum Fördern des Kühlwassers durch den
Kondensator und eine Schleuderpumpe zum Absaugen des Naßluftkondensats. Das
Kühlwasser wird vorerst einem Teiche entnommen, der mit der Mulde in Verbindung
steht, und durch einen Betonkanal in das Maschinenhaus geleitet; das benutzte Wasser
fließt ebenfalls durch einen Kanal in den Teich zurück.
Bemerkenswert ist die Ausnutzung der Abwärme, die mit aller in modernen
Dampfbetrieben üblichen Sorgfalt und Wirthschaftlichkeit durchgeführt worden ist.
Das Kondensat wird in einen Hochbehälter gedrückt und von hier aus wieder den
Kesseln als Speisewasser zugeführt. Auch der Abdampf der Turbine für die
Kondensation wird noch ausgenutzt, indem er einer Niederdruckstufe der Hauptturbine
zufließt; trotz dieser Verbesserung wäre eine elektrisch betriebene Kondensation wie
immer noch wirthschaftlicher.
Die Kesselanlage ist ebenso wie die Schaltanlage zunächst
nur provisorisch fertiggestellt, letztere einstweilen im Maschinenraum
untergebracht; später beim Ausbau der Anlage soll ein eigenes Schalthaus errichtet
werden.
Zwei Gruppen von je zwei Wasserrohrkesseln der Bauarten Stirling und Garbe mit Ueberhitzern und je 300
qm Heizfläche erzeugen den erforderlichen Dampf. Sie werden gespeist durch zwei
parallelgeschaltete Speisepumpen, die ebenfalls durch Dampfturbinen betrieben und
außerdem selbsttätig geregelt werden. Ein am Schornstein befestigter Hochbehälter
liefert das neben dem Kondensat benötigte Zusatzwasser. Wie schon erwähnt, benutzt
man als Feuerungsmaterial Bitterfelder Braunkohle, die einen Heizwert von 2100–2400
WE/1 kg besitzt. Zur Beschickung dient ein Treppenrost mit Schüttrümpfen, in
welche die Kohle vorläufig mittels kleiner Kippwagen von Hand gestürzt wird. Für
später ist eine vollkommen mechanische Beschickung vorgesehen, derart, daß
selbstentladende Eisenbahnwagen auf einer Rampe unmittelbar in das Kesselhaus
gefahren und in über den Kesseln befindliche Hochbehälter entleert werden, von denen
die Kohle selbsttätig den Treppenrosten zugeht.
Textabbildung Bd. 326, S. 610
Fig. 2.Turbodynamo der A. E. G. für das Unterwerk Bitterfeld
Die Braunkohle hinterläßt, wie zu erwarten ist, reichliche Asche; letztere wird
vorläufig von Kippwagen aufgenommen und mittels dieser von Hand abgefahren. In
Zukunft soll auch die Aschenförderung mechanisch erfolgen.
Die Abgase beider Kesselgruppen entweichen in einen Schornstein von 100 m Höhe und 4
m lichtem Durchmesser am oberen Ende; dieser reicht noch für zwei weitere
Kesselgruppen gleicher Größe aus; dementsprechend können immer je vier Kesselgruppen
an einen solchen Schornstein angeschlossen werden. Die Dampf- und Speiseleitungen
sind gemeinsam in einen unterirdischen Kanal verlegt.
Der Stromerzeug er liefert, wie gesagt, einphasigen
Wechselstrom von 3000 Volt Spannung bei 15 sekundlichen Perioden, hat Kompoundierung
nach dem System Danielson, Stabwicklung, ist vollkommen
gekapselt und durch eingebaute Ventilatoren künstlich gekühlt. In zwei
Transformatoren mit umlaufender Oelkühlung wird der Strom von 3000 auf 60000 Volt
transformiert und mit dieser Spannung in das Unterwerk Bitterfeld geführt.
Hochspannungsschaltanlage und Transformatoren sind vorerst provisorisch im Keller
des Maschinenhauses, in letzterem selbst neben den Maschinen die
Niederspannungsschalttafel, die Meßinstrumente und die Apparate für die
Fernschaltung der Hochspannungsleitungen angeordnet. Die endgültige Unterbringung
aller dieser
Einrichtungen wird erst später in dem neu zu erbauenden Schalthause erfolgen.
Die Einrichtung des Maschinenhauses wird vervollständigt durch einen elektrisch
betriebenen Laufkran von 45 t Tragfähigkeit. Dieser Kran, die Pumpen für den
Oelumlauf in den Transformatoren und für Speisung des Hochbehälters, sowie der
Hochspannungsölschalter werden mit Gleichstrom betrieben, welcher einem
Wechselstrom-Gleichstrom-Umformer mit Akkumulatorenbatterie entnommen wird; der
Batteriestrom dient auch zur Fremderregung der Erregermaschine des
Stromerzeugers.
Textabbildung Bd. 326, S. 611
Fig. 3.Fahrleitung auf freier Strecke.
Bemerkenswert ist ferner die Energieübertragung zwischen dem Kraftwerk und dem
Unterwerk in Bitterfeld. Zum ersten Male sind hier zwei Hochspannungskabel und eine
Hochspannungsfreileitung für 60000 Volt Betriebsspannung verwendet; der Erfolg ist
bisher hinter den Erwartungen nicht zurückgeblieben. Längs der Bahnstrecke
Muldenstein-Bitterfeld sind die einpoligen Kabel in Kanälen aus Formsteinen verlegt;
ebenfalls parallel zur Bahn läuft auch die Hochspannungsfreileitung, aus zwei
Kupferseilen bestehend, die auf Isolatoren mit Metalldach, zum Teil auch an
Hängeisolatoren befestigt worden sind. Ueber beiden Polen befindet sich eine
Blitzschutzleitung. Kabel und Freileitung werden im Kraftwerk eingeschaltet durch
selbsttätige Oelschalter mit Höchststromauslösung und Zeit-Anstellung, die mittels
elektrischer Fernbetätigung von der Schalttafel aus eingelegt werden können.
Textabbildung Bd. 326, S. 611
Fig. 4.Fahrleitung auf Bahnhof Jessnilz
Textabbildung Bd. 326, S. 611
Fig. 5.Fahrleitung auf Bahnhof Bitterfeld
Im Unterwerk Bitterfeld wird der Hochspannungsstrom von 60000 Volt in zwei
Transformatoren auf die Fahrspannung von 10000 Volt vermindert. Diese
Transformatoren von der Bauart A. E. G. sind für je 1800 KW Leistung bemessen und in
vollkommen getrennten Raumen untergebracht, die, kaminartig gebaut, oben
Lüftungsjalousien enthalten und so eine energische natürliche Kühlung bewirken. Auch
hier sind selbsttätige Oelschalter mit Höchststromauslösung vorgesehen; diese
ermöglichen, die Transformatoren und die zu den Fahrleitungen führenden 10000
Volt-Leistungen durch Fernbetätigung vom Schaltbrett aus zu bedienen.
Was die Fahrleitungsanlage betrifft, die auf einem Teil
der Strecke von der A. E. G. auf dem anderen von den Siemens-Schuckertwerken ausgeführt wurde, so ist bezüglich der A. E.
G.-Anlage auf folgendes hinzuweisen: Bei einer Länge von 27 km ist die Strecke Dessau–Bitterfeld zweigleisig ausgebaut. Sie wird vorerst
freitragend von dem Unterwerk Bitterfeld gespeist; erst
für die spätere Erweiterung bis Magdeburg sind
Speiseleitungen an den Traggerüsten der Fahrleitung in Aussicht genommen.
Fig. 3 gibt ein Bild der Leitungsanlage auf
freier Strecke. In einfacher Kettenlinie überspannt die Fahrleitung die je 75 m
betragenden Abstände zwischen den einzelnen Jochen derart, daß der Fahrdraht an
einem in flachen Kettenbogen durchhängendem Drahtseil jedesmal in 6 m Abstand durch
senkrechte Hängedrähte getragen wird. Die Jochkonstruktionen wurden tunlichst
einfach gehalten. An den zu beiden Seiten des Bahnkörpers aufgestellten
Gitterwerksmasten sind normale Querträger aus U-Eisen mittels Hakenschrauben
befestigt; nur bei größeren Spannweiten in den Bahnhöfen werden diese Querträger
durch einfache Zugstangen oder Hängewerke versteift.
Fig. 4 und 5 bringen
diese Einzelheiten zur Anschauung; das Joch in Fig.
5 ist 70 m lang und überspannt 13 Gleise. Auf diese Art bleibt die Anzahl
der erforderlichen Masten möglichst gering, und man erhält eine Leitungsanlage von
relativ einfachem, gefälligem Aussehen. Dies erscheint wichtig, da ausgedehnte
Mastanlagen in Bahnhöfen stets den Ueberblick erschweren und namentlich das
Signalbild stören.
(Fortsetzung folgt.)